Viva la Felicita!
Signor Rossi
Sag mal, fragt sie, was machen Deine eher konservativen Freundinnen eigentlich, wenn sie das hier sehen?
„Das hier“ ist eigentlich eine Wiese wie jede andere, die in der Nähe einer Schule ist. Die Wiese ist eher klein, und in der Pause zumeist, wenn das Wetter schön ist, auch recht voll. Sie ist eher lang und schmal, man kann darauf nicht Fussball spielen oder herumtollen, denn das wäre auch nicht ganz ungefährlich. Also sitzen die Schüler einfach herum, reden, lernen, wärmen sich an der Frühlingssonne, was man halt so tut, wenn man irgendwie die letzte Verpflichtung vor dem Dasein als Berufssohn – so man diese angenehme Beschäftigung ergreifen möchte, wozu ich nur raten kann – herumbringen muss. Das elend frühe Aufstehen. Die Lehrer. Die Schulaufgaben. Dieses elende G8, das alles nochmal schlimmer gemacht hat und einen zu Stunden inhaftiert, da frühere Schüler noch frei hatten. Was soll man da schon tun, ausser auf der Wiese vor der Schule zu sitzen. Macht jeder. Man kennt das von Berlin Neukölln über Mettmann bis zu uns, immer das gleiche.
Mehr oder weniger.
(Ich glaube, das ist diese Chancengleichheit, von der im Grundgesetz so viel die Rede ist. Löblich, dieses Grundgesetz. Jedem Schüler seine Grünanlage. Das Gras ist für alle gleich.)
Ja, also, das ist jetzt wirklich nicht so viel anders als da, wo ich herkomme, da hatten wir nämlich auch einen See und ein Naturschutzgebiet und Segel- und Tennisclubs und einen Schulweg durch einen Park, aber natürlich ist das hier schon noch etwas besser. Und ja, mir ist in all den Jahren hier auch bewusst geworden, dass man schon Kinder vehement ablehnen muss, um in jener Schule, die auf der anderen Seite der Wiese in zwei Flügeln des Schlosses untergebracht ist, mit einem Barocksaal als Aula und Marmorsäulen und Stock und so, um in jener Schule also etwas zu sehen, das nur da ist und nicht weiter stört. Manche weiblichen Bekannten haben durchaus durchblicken lassen, dass das Gymnasium, in dem sie ihre Kinder sehen möchten, ziemlich genau so wie diese Schule im Schloss in diesem Tal am See vor der Bergkulisse aussehen sollte. Wo sie dann, wenn ihr SUV vor der Fischerei steht, im See la Vie (das Restaurant im Yachtclub) oder im Bräustüberl auf sie warten. Man wird älter. Früher mochten sie noch Cabrios, heute diese Vorstellung.
Überall in Deutschland blockieren Mütter mit ihren Geländewägen die Schulzufahrten, aber nirgendwo fährt man schöner in den Stau als über die Uferstrasse, nirgendwo kann man so darüber stöhnen, dass es leider anders nicht geht, denn noch fahren nicht die Schiffe auf dem See, die im Sommer die Kinder transportieren, und nirgendwo sind die schädlichen Einflüsse so weltenfern. Keine Schmierereien. Keine prügelnden Kinder aus schlechteren Kreisen. Keine Nazis vor dem Schulhof. Keine Ablenkung durch Spielhöllen. Nur Berge, Wasser, die Wiese und das Schloss, mehr ist hier nicht. „Standesgemäss“ könnte man das nennen. Silbrig leicht erscheint jenen Bekannten die Erziehungsarbeit, wenn sie hier am Mittag entlang gehen und sehen, wie es sich hier nicht für die Schule, sondern das Leben im richtigen Umfeld lernt.
Ich möchte, erkläre ich der Begleiterin, sogar annehmen, dass die erfreulicheren Vorstellungen ein wenig darüber hinaus gehen. Schliesslich bleiben Mütter unter sich, manche kommen aus dem Norden oder auch München, befreunden sich am Spielplatz in Gmund, und irgendwann wird entschieden, auf welchem Gymnasium das hochbegabte Kind sein 1,0-Abitur mit der besten Förderung erhält. Die Münchnerinnen wissen viel zu klagen über den Kampf um die besten Orte, das ist alles nicht so leicht und keinesfalls will man in jene Schulen, die nicht das Beste bieten. Tage, Wochen, Monate wird darüber diskutiert und geschnattert, und inmitten des Münchner Elends thront die Tegernseemutti wie der Schwan unter den Blässhühnern und – schweigt. Nur manchmal bemitleidet sie die Freundinnen und sagt, dass bei ihr so etwas gar nicht geht, es gibt halt nur dieses eine Gymnasium im Tal. Das im Schloss mit der Wiese, dem Yachtclub, dem See und den Bergen dahinter. Das muss sie aber nicht dazu sagen. Das weiss in dieser Region jeder. Andere mögen einen Sport-SUV mit V8 haben, um sich durch den Münchner Verkehr zur Schule zu quälen, aber hier kann man das Kind auch mal in Ruhe allein nach Hause radeln lassen. Über den Höhenweg natürlich. Der ist auf halber Höhe, mit Blick über den See von Tegernsee über Quirin bis Gasse, also wirklich ganz reizend, so als Schulweg, nur auf die Sonnencreme sollte man achten, bei uns oben, ihr seht ja, wie braun man bei uns sogar im Winter bleibt… beliebt macht man sich so nicht, unter Blässhühnern, aber kein Hybrid-SUV im ökologisch korrekten Muttiversum kann ein paar Kilometer autofreien Heilklimaweg entlang von Wäldern und Villen schlagen.
Meine Begleitung findet mich zynisch und gemein, wo ich glaube, in Frauenseelen blicken zu können. Aber dazu bräuchten sie natürlich einen Mann, der hier wohnt; die meisten sind längst jenseits des Paarungsalters, und was übrig bleibt, tritt bei Fussballspielen, Hauptversammlungen, teilweise sogar im Privat-TV oder als notorischer Kinderfeind in der FAZ auf. Es ist wie bein Senior Rossi: Das ganze Glück ist da, alles wird ihnen vorgeführt, der ganze Zukunftsplan steht in 3-D-Cinemascope-Technicolor-THX-Sound-7-Kanal in Knallblau und Jugendplaudern vor ihnen, mit Theatergruppe und Schulkonzert und Segelboot, gleich mit den richtigen Freunden und späteren Partnern von der Schulbank an – und dann ist dieses Tal so vergiftet, weil die passenden Männer so selten sind. Oder nicht verfügbar. Oder vergeben. Es fehlt ihnen nur ein Stück vom Glück. Und mir zum Glück auch der Wohnraum, denn alles ist bei mir so eingerichtet, dass sich das Leben zu zweit durchführen lässt. Aber danach wird es zu eng, und auch nicht finanzierbar. Also, was sagen die Bekannten? Trottel, der. Soll er sich mal nicht so anstellen. Hin und wieder, wenn es von Müttern der Bekannten vorgetragen wird, ahne ich das nicht nur, ich höre es auch von ihren Töchtern, brühwarm weitergereicht.
Nicht, dass ich sonderlich attraktiv wäre. Die Vorstellung ist es. Und geheiratet, habe ich mir erzählen lassen, werden heute eher Hoffnungen und Erwartungen, und weniger die Realitäten. Das Liebesleben ist ein wenig zu einer Aktienspekulation verkommen, wenn es ernst wird: Bewertungen, Empfehlungen, Return on Investment, Quality Time, Business Pläne, Wertzuwachs. Ich weiss schon, warum ich nicht laut davon rede, dass bei uns junge Paare zur Nachwuchsförderung in dieser überalternden Region mitunter hübsche Grundstücke recht günstig angeboten bekommen. So etwas treibt die Phantasie, und ich sehe mich als inhabergeführtes Privatunternehmen für Text- und Gemeinheitengestaltung nicht reif für einen Börsengang, oder die Ausgründung von Tochterunternehmen, die am Ende vielleicht auch noch erwarten, sie könnten nach dem Schule wie Papa wirtschaften und es ginge dann immer so weiter… man kennt das. Also dort, wo die Chancengleichheit mehr Chance als Gleichheit ist.
Oh, übrigens: Wenn es nach mir ginge und so ein Kind unvermeidlich wäre, wenn man mich wirklich mit Waffengewalt zwänge und nicht nur mit ein paar finanziellen Nachteilen, wie sie von der Clerasilanwendergruppe der Unionsabgeordneten gefordert werden, ja dann… also, dann würde ich natürlich auch sagen, dass ich, aller grundgesetzlich garantierten Chancengleichheit zum Trotz, das Schlossgymnasium klar einer Gesamtschule in NRW oder einer Berliner Jesuitenanstalt vorziehen würde, oder was da sonst so durch das System erzwungen wird. Ein junger Bayer kann nachher machen, was er will – Jura, Rennfahrerlizenz, Sohn, von mir aus sogar Politik – aber er braucht ein bayerisches Abitur. Und das hier liegt wirklich, wirklich praktisch! Man kann es nicht anders sagen. Dass ein Kind bei den Bergen aufwächst, ist auch für die Umwelt wichtig, denn wenn ich jedesmal mit ihm 200 Kilometer in die Berge zum Skifahren und Wandern fahren müsste – das geht ja so gar nicht. Ausserdem finde ich es wirklich wichtig, dass Kinderaugen früh an den Meisterwerken der Baukunst geschult und nicht vom Beton vergewaltigt werden. Das hat natürlich mit Prestige überhaupt nichts zu tun, es ist einfach nur sinnvoll und tut dem Nachwuchs in jener empfindlichen Zeit nicht weh. Es ginge mir einfach nur darum, dass alles leicht und ohne Störungen von der Hand geht, und die Wege nicht so weit sind. Der Rest, gut, das ist halt so. Man kann es sich bei uns wirklich nicht aussuchen.
Aber mit Prestige- oder Elitedenken hat das gar nichts zu tun. Das können Leute in NRW und Berlin, das muss man auch mal sagen dürfen, ohne Schlossgymnasien zwischen See und Bergen doch gar nicht beurteilen.