Und Du mein Schatz bleibst hier.
Und ich muss gar nicht zum Städtele hinaus, ich darf. Ich eile, ich fliege nach Mantua! Und Du bleibst hier! Das ist doch… das ist grandios! Der Gedanke ist mir sofort wieder peinlich, sobald er sich in meinem Kopf breit gemacht hat, wie ein den Manieren Weltenferner, der die Ellenbogen auf dem Tisch ausweitet und in Hühnerflügelhaltung sein Essen in sich hinein schaufelt. So ein Gedanke ist das: Gemein, unanständig, ohne Rücksicht und eigentlich überhaupt nicht meine Art. Warum denke ich so? Der „Schatz“, der in der kleinen, dummen Stadt an der Donau zurückbleibt, hat mich einmal in eine unerfreuliche Lage gebracht, mir für einen kleinen, privaten Vorteil jede Menge Ärger aufgebürdet, und das als gerechtfertigt angesehen, denn ich kann es mir ja leisten, jeder muss selbst schauen, wo er bleibt, und was dem einem wie eine gemeine Taktik erscheint, ist den anderen eben die nötige Flexibilität beim Fortkommen. Aber diesmal ist es anders, ich komme fort, und es wird mir Tag für Tag prächtig gehen. Hallo! – grüßt das immer noch überbreite Ego in meinem Kopf. Ich fahre, Du, nun, was auch immer, es ist nicht mein Problem.
Ich bin rachsüchtig wie eine Rothaut und habe dabei das Gehirn eine Elefanten, hat der italienische Autor Pitigrilli einmal von sich gesagt. Ich vermute, dass Pitigrilli das gleiche Problem wie ich hatte: Wir stammen aus sehr intakten Familien, die Streit schon fast als Unglück auffassen. Das ist zumindest offiziell die erzieherische Norm in den besseren Kreisen gewesen. Als Kind hat mir niemand vorgelebt, wie man streitet und sich danach wieder versöhnt. Es wurde einfach nicht gestritten, man hat sich benommen, wie es sich gehört. Ich war ohnehin eher folgsam, solange es nicht um schulische Leistungen ging, und machte auch keinerlei pubertäre Probleme, rauchte nicht, trank nicht, nahm keine Drogen und war auch meistens dann daheim, wenn ich daheim sein sollte. Es gab einfach nicht viele Anlässe für Konflikte, auch meine Freunde waren eher von der streitvermeidenden Sorte, gerne lesend, eher schüchtern und zurückhaltend und immer die Manieren im Kopf habend. Man will ja der Familie keine Schande machen. Streit in der AG Literatur drehte sich allenfalls um die Frage, ob man nun Doderer oder Lichtenberg lesen möchte. Die Vorstellung, man könnte in der Schule einen Hinweis oder Verweis bekommen, war entsetzlich. Das war undenkbar. Insofern war Konfliktvermeidung stets das oberste Gebot des Verhaltens.
Manche sagen, dass die Kinder aus Scheidungsfamilien schwer geschädigt sind, weil sie unter einem enormen Druck stehen, es besser zu machen, aber innerlich die Strategien ihrer konfliktfreudigen Eltern übernehmen. Das äussert sich dann in hoher Streitlust und einem Hang zum strategischen Denken, und letztlich hohen Scheidungsraten: Man streitet gerne. Aber jeder Streit hilft auch, die Liebe zu töten, und daran sterben die Beziehungen. Dafür, möchte ich hinzufügen, wissen die Betroffenen aber auch aus Erfahrung, wie man Streitereien konzipiert und taktisch gestaltet, dass sie Ziele erreichen und zum Schluss Auswege lassen. Der Streit ist keine Katastrophe, sondern eine klar abgesteckte, soziale Verhaltensnorm und Mittel zum Zweck. Kein Drama! Macht man, dann versöhnt man sich und es geht weiter, solange eben noch eine gemeinsame Grundlage vorhanden ist. Die können das. Das macht ihnen sogar Spass.
Sie kennen den Weg in den Konflikt hinein, und auch den Weg aus dem Konflikt heraus. Und im direkten Vergleich frage ich mich schon, wer da mehr geschädigt ist: Die Scheidungskinder oder jene, die in besseren Kreisen als die Norm gelten. Denn natürlich entgeht man dem Konflikt nicht. Gerade an einer bayerischen Schule mit eher durchwachsenem Bildungsstandard in Sachen Hochkultur gibt es jede Menge Anlass für Konflikte, Gruppenbildungen und angesichts des Leistungsdrucks auch gezieltes Vorgehen gegen Einzelne. Man lernt das, was einem die Familie nicht beibringen konnte, dann eben auf die harte Tour. Man nimmt die Konflikte an, weil es nicht anders geht, und wehrt sich. Nach einer Weile weiss man einfach, dass die anderen nicht nett sind und jederzeit etwas aushecken können: Dann schaltet man um auf Weissglut. Die anderen sind dabei am Anfang im Vorteil, weil sie den ersten Schritt tun können. Aber es gibt dann auch keinen Weg mehr heraus. Der eine würde vielleicht ganz gerne wieder seine Ruhe haben, aber der andere denkt gar nicht daran: Man hat nie gelernt, wie man sich danach wieder abfängt und das Verhalten normalisiert.
Und dann ist da noch das Problem, dass man es auch gar nicht nötig hat. Andere mögen danach wieder auf Kooperationen angewiesen sein, aber man lernt als Kind besserer Kreise nicht nur, dass man nicht streiten soll. Man lernt auch, dass man von der Welt nichts brauchen und autark bleiben soll. Blut ist dicker als Wasser und läuft stets zusammen, von anderen lässt man sich ein zweites Stück Kuchen, eine Bevorzugung, ein Angebot nur nach vorheriger Ablehnung – Aber nicht doch! Zu freundlich, wirklich, aber – aufdrängen. Wir haben das nicht nötig. Uns reicht es. Wenn man doch einmal etwas braucht, darum bittet und dann abgelehnt wird, vielleicht sogar barsch abgewiesen wird: Dann war es das. Da ist man danach kein Kunde mehr, da fragt man nie wieder, da tut man alles, um so einer Person nie wieder ausgeliefert zu sein. In meiner Position ist das durchaus möglich, man kann sich dieses Verhalten leisten, also tut man es. Es ist ein Merkmal der Oberschicht, auf Ablehnung mit totaler Diskriminierung zu antworten. Und weil die anderen in der eigenen Klasse auch so eingestellt sind, weiss man auch, dass man besser nicht streitet und Ablehnung, wenn es gar nicht anders geht, immer so verpackt, dass der andere eine möglichst angenehme Rückzugsmöglichkeit hat: Ich würde ja so gerne, aber zu meinem grossen Unglück – oh, bitte, aber nein, das verstehe ich, das ist doch auch gar nicht wichtig – in etwa so.
In der realen Welt der Klassenvermischung, in der andere so seltsame Vorstellungen wie „Karriere machen“ verfolgen, so verbissen, als würde am Tegernsee damit mehr Platz entstehen, den sie bewohnen könnten, werden dadurch natürlich die Spielräume klein. Oder auch: Sie sind nicht vorhanden. Und dann gibt es eben nur zwei Lösungen: Rückzug und die Suche nach anderen Umfeldern, oder den Streit, den die anderen gar nicht so haben möchten: Entgrenzt, rücksichtslos, und von einem unbändigen Vernichtungswillen geprägt. Ein Konflikt, nicht in einer Niederlage der anderen mündet, sondern in eine Verfolgung und die Bereitschaft, jederzeit, bei jeder Gelegenheit neu anzufangen. Für die anderen mag das dann „arrogant“ oder „schwierig“ wirken, und wenn sie dann erst mal untergepflügt wurden, wird es tatsächlich auch nicht gerade angenehm. Aber eigentlich ist das gar nicht so gemeint. Es geht nur nicht anders, es sind die inneren und äusseren Zwänge.
Die rachsüchtigsten und wirklich hasserfüllten Menschen, die ich kenne, sind privat allesamt äusserst nett, kultiviert, fast ein wenig gehemmt und wohlerzogen. Sie wollen keine Konflikte. Und es wäre fraglos besser gewesen, sie in dieser Haltung zu bestärken. Früher, im 19. und 20. Jahrhundert, gab es noch Ehrbegriffe, die uns vielleicht überkommen erscheinen mögen; ich denke aber, dass diese Ehrbegriffe auch geholfen haben, genau solche entgrenzten Konflikte wieder einzudämmen. Man hatte einfach Regeln, man konnte sich grosso modo zwischen Verständnis und Konflikt entscheiden, und für das eine wie auch das andere gab es einen klar definierten Rahmen. Das ist heute anders, es gibt keinen Ehrbegriff mehr und wenn doch, ist er reichlich sperrig in dieser Welt. Für Ehre kann man sich nichts kaufen und sie rettet einen nicht, wenn man vom Rad geschubst wird. Streit, der in den Romanen des 19. Jahrhunderts stets als Norm des Unglück dargestellt wird, ist heute in Gerichts- und Talkshows die gewollte Norm. Es ist gar nicht so leicht, mit klarer Freund-Feind-Definition in einer Welt zu leben, in der die abfällige Bemerkung bei Twitter und das kleine Ausbooten zwischendurch den Alltag definieren.
Gibt es, wird man sich an dieser Stelle fragen, vielleicht nicht doch eine Lösung aus diesem Kreislauf des Missverstehens? Alle Menschen werden doch wieder Brüder?
Ich fürchte: Nein. Das wäre eventuell möglich, würde man erkennbar die Regeln befolgen und signalisieren, dass man um ein hehres Ziel, eine gute Sache, um einen Fortschritt der Zivilisation streitet, um irgendwas, das den Regeln übergeordnet ist. Man kann ja über alles reden, solange es höflich ist, und den anderen die Freiräume lässt, sich geordnet zurückzuziehen, und dabei auch auf dezente Signale achtet, ob es vielleicht doch nicht so angenehm ist. Aber darum geht es zumeist nicht, es geht um Vorteile, Ziele, persönliche Interessen, es wird gemacht und danach abgewiegelt, wenn sich jemand darüber beschwert, und leider sehr oft, eigentlich immer mit dem Argument oder dem Unterton, dem implizierten Vorwurf der sozialen Ungerechtigkeit: Naja, Sie sind ja eh so privilegiert, da haben Sie das doch gar nicht nötig, sich darum zu streiten.
Es gibt Dinge, die sagt man nicht. Das ist eines der Dinge, die man besser gar nicht denken sollte. Denn die andere Seite fasst es so auf: „Wir wissen, dass Du keinen Streit willst und mit der Situation nicht umgehen kannst, also rück es raus und halte Dich an die Regeln, die wir ignorieren.“ Ich wünschte wirklich, es gäbe da eine andere Reaktionsmöglichkeit als den totalen Krieg. Wirklich. Ich bin der höflichste Mensch von der Welt, und nichts verabscheue ich so wie den Streit. Es tut mir in der Seele weh. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie jetzt vernichte, ich meine das gar nicht so, und die Verfolgung ihrer Nachfahren bis ins vierte Glied ist nichts anderes als Ausdruck meiner klassebedingten Konfliktunfähigkeit. Aber kein Hass oder eine Rache! Das nämlich würde sich so nicht gehören.