Ihr wisst nicht, was ihr tut.
Bernardo Provenzano
Also, das muss ich erzählen: Ich fuhr heute nach Mantua hinein. Ich bin jetzt seit vier Tagen hier und habe, unglaublicherweise, noch kein einziges Paar Schuhe gekauft. In Mantua nicht, in Sterzing nicht, in Trento nicht, in Valeggio nicht (nur einen Hut und einen Seidenschal). Aber in Mantua gibt es nun ein Geschäft, in dem ich immer fündig werde. Nur waren die einen nicht mehr in meiner Grösse da, die anderen sahen am Fuss dann doch nicht so gut aus, manche drückten entsetzlich und wieder andere passten, sahen gut aus, drückten nicht und versprachen, gut 30 Jahre zu halten. Für die Kleinigkeit von 700 Euro, was, so sagen es Freunde, heruntergerechnet auf all die Jahre und mit Restwert durch die Fetischisten, die diese Marke auch noch in Fetzen kaufen, gar nicht mal so viel ist. 1400 Mark. Für ein paar Schuhe und die Legende, dass sie 30 Jahre lang halten. Ich habe zwar einen Tick, was Schuhe anbelangt, aber keinen Hau.
Also setzte ich mich auf mein nun auch schon wieder 20 Jahre altes Rad, trödelte noch etwas in Mantua herum und fuhr dann heim. In Italien verliere ich immer schnell die Lust an deutschen Themen, ich kann mir länger den Inhalt einer Tüte mit Tortelli wie da oben anschauen – die sind mir mit ihrem kurzen Zeithorizont bis zum Abendessen durchaus langlebig genug – als das übliche Klein-Klein der deutschen Innenpolitik, das an der Saar gerade eine fundamentale Absage erhalten hat. Auch, wenn mich die negativen Folgen der Politik qua Status nur so mittelprächtig betreffen, auch, wenn ich den Frühling umfassend in Italien verbringe, so ist das doch irgendwie noch mein Land, zumindest, soweit es südlich des Mains liegt, und dann habe ich doch geklickt und gelesen: Die Deutschen sind jetzt doch bereit, den Rettungsfonds des Euro und hier besonders der Banken auf 700 Milliarden aufzustocken. Laufzeit 30 Jahre. Und es kommt nicht zum Sturm auf das Kanzleramt. Das liegt an den guten Manieren, nehme ich an.
Sogar mein bayerischer Ministerpräsident ist zu feige, zu seinen alten Aussagen von der roten Linie zu stehen, die man nicht mehr überschreiten dürfte. Weil: Es gab ja Druck von Seiten der EU, Brasilien und den USA. Schön langsam, deucht es mir, kann man sich beim Begräbnis konservativer Politiker die Bezeichnung „Patriot“ sparen und durch „bei der Belastung der eigenen Leute hochgradig flexibel durch leisesten Druck der USA und anderer Schwellenländer“ ersetzen. Zumindest mal für die nächsten 30 Jahre.
30 Jahre sind eine sehr lange Zeit, für Staatsschulden nicht weniger als für ein Paar Schuhe. Schuhe kann man notfalls zum Schuster bringen, Staatsschulden – oder anders gesagt, das Geld, das Banken, Privatleute und Institutionen von den Staaten haben wollen – eher nicht. Und nachdem die EU nach der Währungsunion keine 10 Jahre bis zur ersten Staatspleite gebraucht hat, kann man sich ja ausrechnen, was in diesen 30 Jahren alles passieren wird. Und ich möchte auch die bange Frage stellen: Wird es da einen Inflationsausgleich geben? Oder wird die Inflation einfach so sein, dass in dreissig Jahren diese 700 Milliarden nicht ausreichen werden, Herrn Lobb ein paar Pferdelederschuhe in Mantua abzukaufen? Dann natürlich täte uns dieser Rettungsfonds in 30 Jahren nicht mehr weh, dann hätten wir ganz andere Schmerzen – wir, die Besitzenden. Mit Trauer würden wir an jene Tage in Mantua zurückdenken, da wir so dumm waren und nicht für 700 läppische Euro diese Schuhe zu kaufen.
Wer von Kindesbeinen an stets seinen Urlaub in Italien verbrachte, kennt das nur zu gut: Die Wechselstuben mit dem verdächtig guten Kurs für die Deutsche Mark. Die Hoteliers und Händler, die bei Bezahlung mit dieser Mark erstaunlich gute Preise machten. Und der Umstand, dass die Lire-Preise Jahr für Jahr kräftig nach oben gingen. Jedes Jahr musste man das Umrechnen neu lernen. Als kleines Kind: 200 Lire sind eine Mark. 1200 Lire dann im Sommer 1995, als der italienische Staatspräsident das Land mit der Weimarer Republik verglich. Im Herbst 1995 wurde es dann ernst mit den Verhandlungen rund um den Euro, schon damals übrigens mit dem Verweis auf die Währungsturbulenzen, die der deutschen Wirtschaft schadeten, und die ein Euro nachhaltig beenden würde. Prompt stabilisierte sich die Lira, weil die Deutschen mit im Boot waren und die Sache voran trieben. Und jetzt haften wir 30 Jahre dafür, dass ein Euro ein Euro bleibt, sei es nun auf dem Papier, in der Bankbilanz oder als Staatsschulden. In Mantua hängen überall Plakate mit der Frage, ob die Krise den Leuten das Einkaufsverhalten verändert habe.
„Wie wird das erst in 30 Jahren sein?“ ist generell eine beliebte Vorstellung der Zukunftsgedanken; nicht ganz ohne Grund, denn tatsächlich ist es in der Geschichtswissenschaft so, dass sich grössere Veränderungen in Stil und Lebensauffassungen in 30 Jahren gut darstellen lassen, ganz gleich ob im Tierstil des frühen Mittelalters oder der Vasenmalerei im Athen der beginnenden Klassik. Bislang war es eher so, dass diese Frage mit den tollsten Erwartungen beantwortet wurde, Wissenschaft, Forschung, Wirtschaft, Völkerverständigung, Demokratie, die Kinder sollten es schliesslich einmal besser haben. Wir dürfen uns diese kommenden 30 Jahre nun eher als Ritt auf dem Bombe vorstellen, die jederzeit hochgehen kann, ein Ritt, der einfach für uns beschlossen wurde, weil die Kanzlerin und ihre Vasallen einem Druck nachgegeben haben. Das hat mehr von der Drohung der jüdischen Bibel von der dritten und vierten Generation, die auch noch verfolgt werden würde. Alternativlos ist nur ein anderes Wort für Ausweglosigkeit.
Allerdings wären die besseren Kreise keine solchen, würden sie sich einfach damit abfinden. Sicher, es gibt keine Massenproteste vor dem Kanzleramt, aber ich wage zu wetten, dass der Wirtschaftsteil der FAZ den Immobilienerwerb als Anlage nächstes Jahr noch sehr viel mehr wird verdammen und als Blase geisseln müssen. Das geht nämlich bei der Abreise so: Du kommst doch am Gardasee vorbei? Ja. Kannst Du da mal nach den Preisen schauen? Ja. Wir dachten gleich an etwas Grösseres. Sicher. Und wie ist es am Tegernsee? Sehr schwierig, schwieriger denn je. Gut, also, so 100 Quadratmeter am Gardasee wären schon fein. Vor dreissig Jahren sagte man Reisenden, sie sollten gesund heimkehren. Heute sagt man ihnen, sie möchten doch bitte unbedingt die Augen offen halten. Für eine Revolte der Reichen, sich abzuspalten und ihr eigenes Ding ohne 30 Jahre Knechtschaft zu machen, reicht es – noch – nicht. Die individuelle Rettung geht klar vor das allgemeine Interesse der nicht allgemein Besitzenden.
Es ist übrigens nicht so, dass deshalb in Mantua neue Plakate geklebt werden würden, mit der Aufschrift: Kauft jetzt! Die nächsten 30 Jahre garantieren die Deutschen! So, wie in der Deutschland Aufschwung und Wachstum nicht bei den normalen Menschen ankommt, kommt auch die Garantie hier nicht bei den normalen Menschen an. Das alles ist typisch Knechtschaft, oben wird entschieden und unten muss man mit den Folgen leben. Natürlich ist das mir selbst wiederum förderlich: Viele wollen weg. Wenn viele gehen, sinken hier die Immobilienpreise. Und ich kann gute Nachrichten nach Deutschland geben. Zumindest, was 100 Quadratemeter mit Aussicht angeht, was mein Ansehen fördert. Was die europäische Einigung angeht, oder generell die Zukunft: Man sollte da den Realitäten ins Auge sehen: Die Einigung mit Schulden und Garantien, die ist für alle da. Ich fürchte, das wird wie eine schlechte Ehe; nach 30 Jahren sind die Verpflichtungen noch da und die Schulden, die man aufgenommen hat, aber kein Gefühl mehr. Und man wird sich rückblickend fragen, warum man sich nicht hat scheiden lassen, als es noch vergleichsweise einfach ging.
Jene aber, die heute die Verpflichtungen und Garantien für 3ß Jahre festschreiben, sind auch jene, die noch vor Kurzem meinten, dass ein paar tausend Tonnen hochgiftiges Material, das noch Jahrzigtausende munter vor sich hinstrahlen würde, ein akzeptabler Preis für die Wünsche der Energiewirtschaft wären. Man hat sie dank Fukushima bekehren können. Mit etwas Glück sind die 30 Jahre hinfällig, wenn die Franzosen mit der Wahl alles umkippen. Und mit etwas Pech besorgt das der Umstand, dass Garantien, die man gibt, auch in Anspruch genommen werden können. Eine grössere Staatspleite, und man musste nicht mehr 30 Jahre zittern, und könnte gleich mit dem Darben beginnen. Auch das gehört übrigens zu den wiederkehrenden Erfahrungen von Knechtschaft. Sie, liebe Leser, sollten sich also nicht wundern, wenn demnächst in der gedruckten FAZ etwas von mir über Tortelli und teure Schuhe zu lesen ist. Reine Notwehr.