Der Hauptautor dieses Blogs macht keinen Hehl daraus, dass er am Klavier ganz jämmerlich trotz bester Voraussetzungen und teurer Lehrer versagt hat, aber die Gastautorin Venezia Fröscher hat ganz andere Erfahrungen an der Violine gemacht.
Geigen- oder Roulettespielen, Komponieren oder Opiumrauchen sind Neigungen, die ihren Lohn in sich selbst tragen.
Fritz Kreisler
Eines Nachts träumte mir, ich säße auf der Konzertbühne. Inmitten vieler anderer Orchestermusiker hatte ich meine Geige am Kinn und spielte um mein Leben. Dr. Freud ließ am nächsten morgen grüßen. Aber ich brauchte mich gar nicht unverzüglich auf der Psychologiecouch einzufinden. Diesen Traum konnte ich mir auch selbst deuten: Das Heimweh nach meiner Geige hatte mich gepackt. Sie tauchte in meinen Träumen auf und wenn ich Sonntagsnachmittags im Fernsehen die großen Sinfonieorchester spielen sah oder leibhaftig im Konzerthaus saß, zuckten meine Finger. Unwillkürlich spielte ich mit.
Besonders bei Schuberts Unvollendeter. Damals im Jugendorchester nannten wir diesen flirrenden, sechszehntelschnellen Beginn in den Violinen die „Schlumpf-Melodie“. Sehnsucht stellte sich ein. Vor einigen Wochen war dann der Zenit bei mir erreicht: Ich ging zu meinem Geigenbauer. Geigenbauer sind für Geiger so ähnlich wie Zahnärzte für Angstpatienten. Man geht lieber sein Leben lang zu dem Selben, da weiß man, was einem selbst und seinem Instrument zu erwarten steht. Mir scheint sogar, dass sich letztlich das Instrument den Geigenbauer aussucht.
Als Zwölfjährige reiste ich allein nach Mittenwald und mein Instrument von Joseph Klotz wählte mich aus. Meine Geige wollte es so. Fernab, in meinem kleinen Heimatdörfchen in Nordrhein-Westfalen wartete nämlich ihr „Geburtshelfer“ auf sie: Jener Geigenbauer, der sie vor Jahren als Gesellenstück in Mittenwald restauriert hatte. So schließen sich Kreise. Bis heute ist dieser Geigenbauer derjenige unseres gemeinsamen Vertrauens.
Auf dem Dachboden meines Großvaters fand ich einst einen dunklen Kasten. Er sah aus wie ein kleiner Sarg in Form einer Geige. Auf dem Deckel befand sich ein metallener Griff. Als ich dieses schwarze, altersschwangere Kastenungetüm öffnete, konnte ich mein Glück kaum fassen: Ich hielt eine Guarneri in Händen. So lautete zumindest der im Korpus der Violine eingeklebte Zettel. Neben Antonio Stradivari stellte die Cremonser Familiendynastie Guarneri wertvollste Streichinstrumente her. Niccolò Paganini, Yehudi Menuhin oder Itzhak Perlman spielten sie. Nun besaß auch ich ein solches Instrument. So dachte ich. Bis ich zu meinem Geigenbauer ging und er sie in Händen hielt. Er schüttelte den Kopf: Wie so häufig war auch dieses Instrument eine Fälschung. Man versuchte bereits im 19. Jahrhundert durch diese eingeklebten Zettelchen den Wert der Instrumente zu steigern. Vielleicht hatte mein leidlich Geige spielender Großvater diese „Guarneri“ auf dem Schwarzmarkt in Kriegszeiten eingetauscht? Oder hatte er sie bei einem Antiquitätenhändler als angebliches wertvolles Instrument gekauft? Die Familienchronik schweigt dazu. Zudem endet die familiäre Geigengeschichte hier abrupt, denn zu allem Überfluss war jene Geige auch noch eine schlechte, was mich dann dazu veranlasste, nach Mittenwald zu pilgern.
Eine Guarneri oder Stradivari hätte in ihrem ursprünglichen Zustand auch anders ausgesehen. Aus ihrem vollrundig geschwungenen Körper hätte sich ein anderer Hals als im 19. Jahrhundert emporgereckt. Denn grausam wurde den Violinen zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Hals gebrochen; sie fielen radikalen Umbaumaßnahmen zum Opfer: Ihre Hälse wurden in einem anderen Winkel zum Korpus positioniert, ihr Steg operativ erhöht und somit der Druck auf ihren Körper schmerzvoll verstärkt. Operationsergebnis war ein brillanterer, voluminöserer und lauter anmutender Klang. Er ließ sich nun innerhalb eines romantischen Orchesterapparates hören.
Nicht nur die Barockgeigen erhielten einen chirurgischen Eingriff. Die Blechblasinstrumente wurden mit einer Ventilmechanik ausgestattet. Trompeter konnten nun dank der Ventile bequem in allen Tonarten spielen und fransten sich nicht mehr die Lippen aus. Hornisten mussten nicht mehr vor jedem Tonartwechsel panisch innerhalb weniger Takte den Stimmbogen ihrer Hornspirale wechseln. Durch die auswechselbaren Inventions- oder Stimmbögen verlängerte oder verkürzte der Hornist sein Instrument und veränderte somit das Tonmaterial. Klingt praktikabel. Die Tonarten- und Klangcharakteristika gingen durch diese radikale Maßnahme allerdings leider verloren. Hört man das Zusammentreffen Don Giovannis mit dem Komtur begleitet von historischen Posaunen, dann ist einem zum Fürchten. Da erzeugen die historischen Posaunen eine klangliche Wild- und Ungezähmtheit, die aus der Unterwelt zu kommen scheint.
Violinkonzerte oder Concerti grossi auf Geigen mit ungebrochenem Hals bieten ebenfalls einen anderen Klangeindruck. Vivaldis Le quattro stagioni auf einer Barockgeige lassen die einzelnen Wetterlagen weitaus nuancenreicher erklingen: von klirrender Kälte über sommerliches Gewitter bis hin zu den dahinplätschernden Bächlein. Oder Johann Sebastian Bachs Partiten. Im Zuge der historischen Aufführungspraxis entwickelte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar fälschlicherweise dafür einen speziellen Bogen. Der Musikwissenschaftler Arnold Schering war sich 1904 überaus sicher, die Violinisten des Barock hätten einen konvex-geschwungenen Bogen verwendet. Quasi ein Flitzebogen. Erklärlich. Ich habe es am eigenen Geigerleib erfahren, wie schwer diese fiesen Bach-Partiten mit einem leicht konkav geschwungenen Bogen sind. Arpeggien und Mehrklänge damit sauber – ohne kratzen – dem Instrument zu entlocken, sind für den geigenden Laien eine Kunst. Warum dann nicht einen konvexen Flitzebogen an das Instrument legen? Da spielt es sich quasi von selbst. Allerdings entpuppte sich dieses Hilfsmittel für faule Geiger als historisch mehr als fragwürdig. Ein Blick auf die barocken Geigenbögen hätte es auch im Vorfeld bereits gelehrt: Der barocke Bogen war etwas kürzer, aber nicht konvex. In der Kürze lag seine Würze, denn dadurch verlagerte sich entsprechend der Schwerpunkt des Bogens und somit die Balance. Der Bogen macht die Musik, denn mit einer verlagerten Balance zum unteren Bogenende hin, kommt der Virtuose besser „um die Ecke“. Der Wechsel des Bogen auf eine andere Saite kann leicht einem kleinen Impuls aus dem Handgelenk erreicht werden, der Virtuose „rudert“ weniger mit dem Bogen über sein Instrument.
Auf welchem Instrument ein Musiker auch immer spielen mag, ob barock oder modern, ob Millionen- oder doch nur das günstige Schülerinstrument, er wird es in sein Herz schließen. Über den Kontrabassisten wissen wir spätestens seit Patrick Süskinds zwerchfellerschütterndem Ein-Mann-Dramolett, dass ihn eher ein zwiegespaltenes Verhältnis, ja eine Hassliebe mit seinem Instrument verbindet. Der gemeine Geiger, so kann ich aus eigener Erfahrung sagen, ist hingebungsvoll um sein Instrument bemüht. Fahre ich im Auto, so wandert meine Geige nicht etwa in den Kofferraum. Zu gefährlich, denn sie könnte bei einem Unfall verletzt werden, während ich unbeschadet davonkomme. Dann lieber wir beide. So klemme ich den Kasten im Auto stets unbequem zwischen meine Beine, und ich kenne kaum einen Geiger, der diesen Tick nicht ebenfalls pflegt. Im Flugzeug mieten Cellisten beispielsweise einen extra Platz für ihr Instrument, damit es seine Reise nicht im kalten Bauch des Flugzeugs mit den Koffern fristen muss. Nicht nur Streicher, sogar Pianisten weisen diesen Liebeswahn auf. So liebte Glenn Gould einen derangierten Steinway. Dieses in die Jahre gekommene Instrument entdeckte Gould in der Dunkelheit einer Hinterbühne, demoliert und durchgespielt. Der Anschlag war so leicht und das 400kg schwere Ungetüm so zerkratzt, dass kein anderer Pianist diesen Flügel noch hätte bespielen wollen. Glenn Gould fand in ihm, diesem CD 318, allerdings sein Trauminstrument. Mit diesem „Geflügel“, so pflegte mein Professor scherzend zu sagen, nahm er seine legendären Goldberg-Variationen auf und er spielte ihn auf seinen Konzerten. Bis der Flügel bei einem Transport den Klavierspediteuren aus den Händen glitt. Glenn Gould versucht mehrere Jahre lang, den Flügel zu retten, aber der große Riss in der gusseisernen Platte setzte dem Instrument sein Ende.
Das Verhältnis zwischen Musiker und seinem Instrument ist ein besonderes. Manchmal beruht es auf Gegenseitigkeit. Gegebenenfalls endet es in Enttäuschung beiderseits. Meist hält es ein Leben lang. Ich versuche seit geraumer Zeit wieder, meiner Geige hörbare Töne zu entlocken. Bis auf weiteres bitte ich meine Nachbarn um Nachsicht. Üben hilft.