Nur, weil man im Leben keinen Erfolg hat, braucht man sich noch lange nicht für einen Idealisten zu halten.
Henry Miller
Gestern war in Italien der Tag der Befreiung. Am 25. April gedenkt man hier der nationalen Erhebung, die 1945 von der Resistenza gegen die deutschen Besatzer ausgerufen wurde, in deren Folge sich dann die noch besetzten Regionen bis zum Ende des Krieges selbst befreiten. Von den Nazis und ihren Verbündeten, den italienischen Faschisten. Es kann nicht verwundern, dass dieser Feiertag für manche sehr wichtig war und andere, nun ja, so ganz ohne Italiener war der italienische Faschismus dann doch nicht ausgekommen, und um die Sache kurz und bündig zu besprechen: Der 25. April ist ein Feiertag, den die politische Linke ganz besonders freudig über andere begeht. Sollte man meinen, wenn man die Filme von Don Camillo und Peppone kennt. Ich jedenfalls war gestern trotz des elenden Radlerstaus am See in Mantua, einer früher knallroten Hochburg, und doch, da waren auch ein paar Männer mit roten Halstüchern. Aber auch die Geschäfte waren geöffnet, auf der Piazza Ducale gastierte ein Markt mit italienischen Spezialitäten und japanischen Zechentrickfiguren als Luftballons. Keine kommunistischen Brandreden, keine Drohungen, die politische Rechte oder, wie Peppone es vielleicht gesagt hätte, die Kräfte der Reaktion unter den dröhnenden Ketten des Fortschritts und der Zivilisation zu zermalmen und so die Sache des Widerstandes zu vollenden.
Das eigentlich nur, damit niemand denkt, ich hätte kein Herz für historische Sieger. Denn natürlich wäre es ein Spektakel, hätte so ein Bürgermeister noch irgendwo einen deutschen – oder vielleicht doch amerikanischen? Italien ist ein Hafen am Meer, die Leute kommen und gehen, woher soll man da wissen, wer kommt und wer geht – Panzer unter einem Reisigbündel versteckt, und würde damit jene Politiker austreiben, die hier parteiübergreifend das Land schon wieder besetzt halten und ausplündern. Hätte Don Camillo wirklich Peppones Waffenlager in Brand gesetzt, hätte er die Craxis, die Bossis und die Berlusconis kommen sehen? Man weiss es nicht. Der 25. April mag nicht mehr der Feiertag sein, den die Resistenza wollte, aber dieses Italien ist, und man muss nicht Stalin als Führer ansehen, um das so zu empfinden, wohl auch nicht jenes Land, das man 1945 neu erschaffen wollte. Siegen heisst nun mal nicht gewinnen.
In Deutschland sind am 3. Oktober die Geschäfte noch geschlossen. In Deutschland wird am 3. Oktober daran erinnert, dass die Teilung Deutschlands vom deutschen Volk selbst überwunden wurde, die friedliche Revolution, der Sieg über ein Unrechtsregime, mit dem Ergenis eines einigen Vaterlandes und dem verbrieften Recht für alle seine Vorkämpfer, bis zum Ende aller Tage die Dankbarkeit des deutschen Volkes zu erhalten. Denn wer ausser den Aufrechten im Westen, die niemals im Bestreben um die Einheit dieses Volkes nachgelassen hätten, dürfte sich diesen Erfolg an die Brust heften? Das war zumindest die Stimmung in Bayern zu jener Zeit, als die Mauer fiel und mit ihr die Erinnerung an den Milliardenkredit, den der Patriot Strauss der DDR gewährt hatte, damals mit ganz erstaunlich wenigen Anschuldigungen gegenüber diesem Unrechtsregime übrigens. Eine grosse Stunde, wer wird denn kleinlich sein, auf die Knie, beschied man uns öffentlich, und danket nun den Verteidigern der Werte, die Jahrzehnte lang beschworen wurden, da diese Werte nichts kosteten ausser einem elend langen Wehrdienst für Jüngere und der Drohung, dass jemand ein paar Atombomben wirft, was nun nicht mehr passieren wird.
Wir hatten etliche Lehrer von dieser Sorte.
Das muss man sich mal vorstellen, man wird volljährig, wohnt im richtigen Viertel, und dann kommt so ein Gymnasiallehrer daher, der sich der CSU andient, und möchte… sicher, es kommt schon einmal vor, dass eine Elite abtritt und einer anderen aus besserer Einsicht den Vortritt lässt, der aufgeklärte Absolutismus kennt solche Entwicklungen und so manche Demokratie, aber ein bayerischer Lehrer? Zur Anerkennung einer neuen Elite gehören immer zwei, und weil es einen Verlierer gab – die Kommunisten – sah der Mann noch immer nicht wie jemand aus, der ein historisches Ringen für sich entschieden hat, njur weil er den Lehrplan und den Antikommunismus nachbetet. Wenn einer verliert, bekommt der Sieger die Beute. Der Lehrer bekam gar nichts, nur am Ende seiner Laufbahn noch ein achtstufiges Gymnasium, und die Schüler standen zu Beginn der Stunde auch nicht mehr auf. Sicher, er hat die deutsche Teilung überlebt. Und was hat es ihm gebracht?
Fern läge es mir, die Leserschaft mit solchen Geschichten zu langweilen, gäbe es für dieselben nicht auch publizistische Arme, die nicht aufhören können, sich immer wieder an diesem Sieg abzuarbeiten. Und damit Gegner zu diskreditieren. Frau Klarsfeld hat von denen ein paar Mark bei der Ohrfeigung eines Politikers bekommen! Die Friedensbewegung hatte Kontakte mit der Auslandsaufklärung der DDR! Dem Walraff kann man da eventuell auch was am Zeug flicken! Das ist ganz schlimm! Glaubt denen bitte kein Wort mehr, die sollen tot umfallen vor Scham, und es wäre ganz freundlich, wenn Ihr sagen könntet, dass wir Recht hatten und immer noch das einzige richtige Recht haben. Für Aussenstehende wie mich, die weder Freibier von der CDU noch vorteilhafte Überweisungen von der DDR bekamen, wirkt das ein wenig kindisch. Als habe man einem Minderjährigen einen Zauberstab in die Hand gedrückt, und jetzt läuft das alles nicht so wie bei Harry Potter im Film.
Es mag beschämend für das Geschichtsbewusstsein sein, aber in Zeiten wie diesen würde man die Stasi allenfalls dann noch empört verurteilen, wenn sie für die Benzinpreise und das Fernsehprogramm verantwortlich wäre. Und das zeigt ein wenig das Elend der Nationalfeiertage auf: Sie sind Feiertage einer Nation als Momentaufnahme. Sie legen für einen Moment Sieger und Besiegte, Eliten und Unterjochte fest, und dann versucht man dieses Ergebnis zu fixieren, indem man einmal im Jahr daran erinnert. Aber nach all der Zeit entwickeln sich neue gesellschaftliche Strukturen, die sicher nicht ausreichen, um einen Umsturz herbeizuführen. Aber es gibt neue gesellschaftliche Brüche und Konflikte, zu deren Überpinselung die Erinnerung an jene Tage nicht mehr ausreicht. 1945 war nicht das Ende der italienischen Faschisten, sondern auch der Beginn ihrer Reorganisation und Neuausrichtung, und 1989 hat nicht nur die DDR beendet, sondern auch den alten Westen mit seiner puscheligen sozialen Marktwirtschaft. Man betrachte Herrn Fini in Italien, oder all die freudigen Zuwendungen, die Vertreter der Lega Nord erhielten, oder auch die Vermögensentwicklung in Deutschland nach der Wende, nach Regionen aufgeschlüsselt: Alle können feiern, aber manche haben dazu mehr Grund als andere, und die Sieger von einst sind nun mal nicht zwingend die Gewinner von heute.
Gut, vielleicht moralisch, das schon, zugegeben. Aber von den Lebensumständen her, wenn man die Verteilung der Reichtümer, der Privilegien und der Chancen betrachtet, hat vieles eher nicht vollumfänglich geklappt. Die Italiener haben 1946 ihre Monarchie abgeschafft, und die Deutschen die SED, die Symbole, die Fahnen und Bauten sind gefallen, und die nächsten Ungleichheiten wurden besser und geschickter kommuniziert. Es gibt in Deutschland zum Beispiel eine Forderung, dass man sich um einheitliche Lebensbedingungen im ganzen Land kümmern sollte. Wer immer auf dieses Gesetz einen Amtseid schwört, sollte einmal von den Aussenbezirken Schwerins an den Tegernsee fahren und sich überlegen, wie sehr das alles noch eine Nation ist. Von der Sonnenseite her kann man das belächeln, man ist schliesslich in guter Gesellschaft damit (auch unsere bayerische, den Kommunismus immer noch bekämpfende CSU pflegt im schönen Wildbad Kreuth zu tagen und weniger in der Nähe des Zonenrandgebietes), aber an anderen Orten hat man momentan vielleicht ganz andere Sorgen als die Frage, wer was von der Stasi bekommen hat. Man hätte vielleicht lieber günstigere Spritpreise, weil man jeden Tag 50 Kilometer pendeln muss, und diese 50 Kilometer sind bei Rostock nicht mit jenen zwischen Rottach und München zu vergleichen. Ich war an beiden Orten, auch im Monat April, und man darf mir das glauben: Ich weiss schon, warum ich während der Regenphase in Deutschland über den italienischen Nationalfeiertag in Mantua schreibe. Unter blauem Himmel, bei 25 Grad.
Wer also partout alte Siege konservieren möchte, muss dafür sorgen, dass sich die Gewinner von einst auch später noch mit guten Gründen als Gewinner fühlen. Das haben die Faschisten nicht vermocht, das ist den Kommunisten nicht gelungen, und ich werde beim Blick auf meine ferne Heimat auch den Eindruck nicht los, dass historische Siege in der Gegenwart nicht mehr angemessen entlohnt werden. Im Gegenteil, die maroden Kommunen im Westen hätten gern Geld von den maroden, schön sanierten Städten im Osten, und im Süden hätte man am liebsten gar nichts damit zu tun, denn irgendwie hat sich dort das Vermögen angesammelt, das die anderen gerne hätten. Das sind nicht gerade Idealbedingungen für Tage einer nationalen Einheit.
Vielleicht sollte man es mal mit Benzingutscheinen versuchen.