Wer Geld hat, kauft ein Auto. Wer keines hat, stirbt auf andere Weise.
Fernandel
„Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“ So steht das in der Charta der Menschenrechte, so wollte man das als Bürger haben, so wurde es ein Anlass, die DDR zu stürzen. Die OPEC und die sog. Märkte haben dazu auch noch eine Ausführungsbestimmung: „Solange er in der Lage ist, zu diesem Zweck ein Fortbewegungsmittel mit Brennstoff zu betanken und diesen Vorgang angemessen zu bezahlen.“ Und ich sage es, wie es ist: Bei 1,85 für den Liter Benzin in Italien, teurer als günstiges Olivenöl im Kanister, merke auch ich langsam, dass es mit der Lebensfreude ab dreitausend Umdrehungen nicht mehr so ganz weit her ist. Zudem habe ich das Glück, in einem Weltkulturerbe zu wohnen, und alles mit dem Rad machen zu können: Sicher, ich habe das eine Land verlassen und ein anderes besucht, aber ich bin gerade vergleichsweise unbeweglich.
Was nicht so schlimm ist, wenn man das schönste Buchkäsegeschäft, einen traumhaften See, den Wochenmarkt, den Markt am Donnerstag und eine Unzahl von Kulturdenkmälern auch ohne Automobil erreichen kann. Ist man erst mal dort, ist alles bestens, aber natürlich ist mir auch bewusst, dass mein Lebensstil nicht wirklich die Norm in meiner Heimat oder in Italien ist. Andere müssen Rücksichten auf Familien, Schulen, Arbeitgeber und Löhne nehmen, und so war die prinzipielle Reisefreiheit schon immer eine Frage der sonstigen Möglichkeiten. Ich finde es zum Beispiel wenig überraschend, dass ich hier in Italien nicht auf Scharen chinesischer Fabrikarbeiter treffe, oder auf Bewohner amerikaner Trailerparks. Das Reiserecht ist, anders als die Meinungsfreiheit oder das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung eines, das in unterschiedlichen Schichten anders gehandhabt wird. Schon immer.
Das ist nur in den letzten Jahrzehnten etwas in Vergessenheit geraten. Jahrzehnte, die dem Deutschen in seinem Wohlstandswunderland zwei Dinge ans Herz wachsen liessen: Sein Auto und seine Fernreise. Vor dem Krieg war das nur den Reichen vorbehalten, nach dem Krieg konnte es sich fast jeder leisten. Folgerichtig wandelte sich auch in den besseren Kreisen die Einstellung zur Reise: Wer ein Auto über seinen Verhältnissen fuhr, und sein bescheidenes Dasein daheim im Urlaub gegen einen luxuriösen Auftritt eintauschte, wer darauf hinarbeitete, es in jenen Wochen des Automobils in fernen Ländern richtig krachen zu lassen – der galt als nicht gerade feinsinnig, um es höflich zu formulieren. Dass der eigene Grossvater 1928 dagegen den Adler am Brenner zu Schrott gefahren hatte, nur wegen einer dummen Wette, dass der Onkel Toni unbedingt Doppeldecker fliegen musste und so zum Maschinenschaden auch noch die Beerdigungskosten dazu kamen – das ist dagegen natürlich Familiengeschichte.
Der Drang der schlechteren Kreise jedoch, endlich auch zu reisen, ist nur zu verständlich. Die Reisefreiheit nämlich ist eine vergleichsweise neue Idee im sich gerade entchristlichenden Abendland; erst ab dem 18. Jahrhundert machte man sich ernsthafte Gedanken über das Recht der normalen Menschen, sich ohne Diskriminierung, Verfolgung und Ausgrenzung auf die Socken zu machen. Wer ohne die entsprechenden Mittel davor unterwegs war, kam schnell in den Ruf, ein Bandit, ein Herumtreiber, ein Betrüger, ein Ruchloser ohne Herd zu sein, jemand ohne soziale Bindungen, dem man nicht trauen könnte. Die Städte wussten schon, warum sie Torwachen bezahlten. Wer als Sklave, Leibeigener, Pächter oder sonstwie Unfreier eine Reise tun wollte, musste vorher fragen, oder davonlaufen. Unsere Vorstellung vom Reisen ist aus der Sicht unserer eigenen Geschichte vollkommen unbegreiflich. Begreiflich ist aber auch der Wunsch aller, das zu tun, wenn es möglich ist. Und man machte damit auch im Geschmack der Zeit Politik: Der Deutsche hatte seine Kdf-Dampfer, der spätere Mitläufer war nur wegen der Autos dem NSKK und dann der SS beigetreten, der Franzose zur gleichen Zeit sein verbessertes Urlaubsrecht und Urlaubsgeld durch die Volksfrontregierung, und noch heute wird „Wetten dass“ für die Massen auf einer spanischen Insel aufgezeichnet. Es gibt Sommerinterviews am Urlaubsort von Politikern, die wie Südtirol, der Comer See oder die Toskana reichlich normal sind, und so wird man auch unterwegs zu einer vergleichsweise klassenlosen Gesellschaft. Zumindest sah es so aus.
Allerdings hat sich auch seit den Tagen Adenauers am Comer See einiges verändert. Das Angebot des Westens war zu verlockend, der Wunsch nach Reisefreiheit brachte die Ostdeutschen dazu, die Mauer umzustossen, und wie es nun mal so ist bei Lockangeboten, die eifrig geordert werden: Die Preise steigen und die Leistungen sinken. In diesem schönen Lande nennt man das die Umverteilung; jener Prozess, der die Reichen reicher und die Bildschirme der Ärmeren grosser macht. Die Kinder der einen gehen auf Privatschulen und die der anderen nicht auf das Gymnasium, die einen suchen Anlagemöglichkeiten und die anderen bieten Einsparpotenziale. So gesehen ist die Entwicklung des Benzinpreises – und damit die Veränderung der Reisegewohnheiten – auch nur ein weiteres Beispiel für diese Entwicklung: Der höhere Benzinpreis verschwindet ja nicht. Es hat ihn nur ein anderer. Und es bedeutet auch nicht, dass die Ärmeren kein Auto mehr haben. Die Aufwendungen bleiben gleich. Es wird nur weniger damit gereist.
Das Ganze hat natürlich auch seine innere Logik, denn damit wird diese Gesellschaft der Umverteilung eben auch im Reiseverhalten sichtbar. Dass die Beschwerden darüber nicht so laut sind, liegt vielleicht auch daran, dass die Elite dieses Landes… ich formuliere es einmal so: Es ist ja nicht so, dass es am Tegernsee eine reine Freude wäre, die verstopfte Uferstrasse zu sehen. Eine Halbierung des Autoverkehrs etwa würde den Wert der Immobilien an der Strasse deutlich steigen lassen. Man könnte hier ohne vielfahrende Tagestouristen schon irgendwie überleben. Die Reisetätigkeit neigt nun einmal dazu, nicht Fabrikareale oder Neubaugebiete aufzusuchen, sondern die schönen Ecken dieses Landes. Die, wie allgemein bekannt sein dürfte, auch jene Ecken sind, wo sich die Vermögenden bevorzugt niederlassen. Mit einem geringeren Reiseradius ist es für diejenigen, die unter den Benzinpreisen ächzen, natürlich schwerer, sich den anderen zu nähern, die auch ächzen, aber das ist nicht so schlimm, wenn die Urlaubsregion der Lebensmittelpunkt ist, und im Depot die Aktien von Versorgern schlummern. Es wird wieder ein wenig so wie früher, als der Hirt bei seinen Tieren auf der Wiese lebte und einfach nicht die Mittel hatte, seinen Herrn aufzusuchen. Ein wenig. Wir sind ja auch noch nicht besonders weit mit der Umverteilung, wenn man historische Massstäbe zugrunde legt.
Man sieht also: Es hat alles seine zwei Seiten. Nicht jeder Kilometer, der nicht gefahren wird, ist ein Schaden für alle, nicht jede verkürzte Reise verschlechtert das Land, und mit dem Grillen hat man in Berlin ja auch schon etwas als beliebten, die Lebensfreude erhaltenden Ersatz gefunden, für das nur noch tote Tiere gestapelt in die Stadt gebracht werden müssen, statt lebende Berliner ungeordnet nach draussen. Es riecht auch nicht schlimmer als im Inneren eines Auspuffkrümmers. Wie so oft in der Entwicklung der Klassengesellschaften zieht hier ein Effekt den nächsten nach sich, man bleibt wieder mehr unter sich, das Leben wird rational auf die neuen Bedingungen eingestellt, und ich muss leider auch zugeben, dass sich mein Bedauern über fehlende deutsche Opels in Grenzen halten wird, wenn ich nächste Woche, hoffentlich offen und mit der Titelmelodie von Signor Rossi im Autoradio entlang der Riviera nach Monte Carlo fahre.
Da haben sich nämlich ein paar Millionäre den Traum der solargetriebenen Fortbewegung geleistet, ganz ohne fossile Energieträger, und das schaue ich mir an. Man sieht ja, wo die Abhängigkeit von Brennstoffen die anderen hinführt.