Früher war es etwas Besonders, am Gardasee Urlaub zu machen, und nur die Armen gingen Radfahren in der Heide,
sagte die öffentlich-rechtliche Literaturkritikerin. Und fuhr fort: Heute dagegen ist Radfahren in der Heide wieder sehr beliebt, das macht man wieder, und wenn jemand sagt, er wäre im Urlaub am Gardasee gewesen, dann hat das schon so einen Beigeschmack, naja, also, der Gardasee. Sie sagte das leicht angewidert in einem Theater, auf einer Bühne, und ich hatte das Vergnügen, ebenfalls oben zu sitzen, und danach wurde der Diskurs doch recht angeregt, frei, direkt und – möglicherweise im zarten Empfinden einer in der Heide radelnden Gebührenprofiteurin ohne marktwirtschaftliche Nöte – fast schon krawallig.
Denn ich sah das doch etwas anders. Der Gardasee ist nicht ganz zu unrecht als einer der schönsten Orte der Welt bekannt geworden, was von der Heide meines Wissens nach meinem Wissen noch nie ernstlich behauptet wurde. Da sind Gott bei der Schöpfung die Ideen ausgegangen, sagte mal jemand, der von dort stammt, wo die Heide sich eher konturlos ausbreitet. Das mag sein; ich war noch nie Radfahren in der Heide, und, so die Schöpfung will, werde ich dort auch nicht sein. Dagegen bin ich sehr oft am Gardasee. Ich muss am Tegernsee abfahrend wirklich sehr spät in Mantua ankommen, dass ich nicht in Rovereto oder Trento rechts in die Berge abbiege, und die letzten 70, 100 Kilometer nicht am Ufer entlang rolle. Meistens steige ich auch aus, gehe zum See, und höre den Menschen zu. Denn der Gardasee ist nicht nur atemberaubend schön: Er ist auch auch ein perfekt erhaltener Ort des Alten Westens der Republik, wie er gewesen ist, bevor Ostdeutschland ihn bis auf ein paar wenige Rückzugsorte im Süden wiedervereinigt, erobert, übernommen und alternativlosen 5-Jahresplänen unterworfen hat.
Seit Goethes italienischer Reise und dem geflügelten Wort der blühenden Zitronen ist dieser See dem Deutschen so etwas wie die Ouvertüre zu Italien; er empfängt im steil aufragenden Hochgebirge, geleietet an Bergen und Hügeln vorbei aus der engen Schlucht in eine liebliche Landschaft, und wird zur Poebene hin breit, dick und lebensfroh, bis er sich als Mincio, nach Sonnenöl riechend, nach Valeggio hinab ergiesst, wo famose Restaurants den Ankömmling erwarten. Diese Vielfalt hat seit jeher die deutschen Touristen begeistert, und so haben sie sich, je nach Neigung und Wünschen, seit dem Beginn des Massentourismus an verschiedenen Orten niedergelassen. Andere zogen weiter, nach Jesolo, später auch in die Türkei oder nach Bulgarien, wo es billiger ist: Am Gardasee blieben die Bestandskunden und oftmals ihre Kinder.
Und weil der See so gross ist, ist auch Platz für alle. Es gibt sagenhaft scheusslich zugeparkte Campingplätze im Süden und elegante Hotels der grossem Epoche des Reisens, es gibt Villen und Salo und Herbergen in Limone, und als ich vor ein paar Jahren mal ein paar Wochen länger blieb, als ich gebucht hatte, verschaffte man mir aus Platznot heraus ein Zimmer mit Seeblick, gestreiften Decken und Chromspiegel, das in allen, wirklich allen Details aus den 50er Jahren hätte stammen können. Das Seglerhotel in Brenzone, wo wir einst ein Haus im Park mieteten, hat heute noch den kleinen, geschwungenen Pool unter den Olivenbäumen, der Nachts blau erleuchtet ist und viele Geschichten erzählen könnte. Der Gardasee hat globale Konkurrenz bekommen, es gibt viele Alternativen, der organisierte Massentourismus findet bessere Möglichkeiten in Djerba und auf Sizilien: Es geht der Region nicht schlecht. Aber auch nicht so gut, dass man alle 10 Jahre alles neu machen könnte. Es ist halt so, wie es früher auch schon gewesen ist. Sogar das Musikrepertoire meiner Strandbar ist das gleiche geblieben, nur der Pianist ist jünger.
Und da gibt es auch noch etwas, das in Deutschland recht selten geworden ist: Die Klassen vermischen sich, wandeln auf den gleichen Strandpromenaden, liegen am gleichen Wasser nebeneinander, manche watscheln auf Sandale vom Campingplatz her, und andere steigen von ihren Villen herab. Die räumliche Trennung, die daheim mit all den Luxuswohnungen, der Gentrifizierung und dem ohne Berücksichtigung der Folgen als „günstig“ bezeichneten „Wohnraum“ entstanden ist, fällt hier weg. Und weil das Preisniveau vergleichsweise gut abgesprochen ist, sind die Unterschiede der Lokale nicht mehr so gross, wie in der deutschen Gastonomie zwischen Dönerstand und Sterneküche. Deutschlands Klassen schaffen sich hier ab, die Armen haben die schönsten Wochen des Jahres, und die von der Steuer Benachteiligten lockern sich etwas. Man rückt wieder zusammen, die einen fühlen sich wieder als wer und die anderen tragen Polohemden. Alle sind hier gleich fremd, und sich in dieser Fremdheit gleich nah. Sol lvcet omnibvs.
So hört man hier wieder Geschichten direkt, die man ansonsten allenfalls getratscht bekommt: Diesmal etwa die Nöte eines Niederbayern beim Leasen eines M3 von BMW, während sich das Vorgängermodell – es steht am Hafen im milden Gaslicht – gerade schlecht verkaufen lässt. Ja, sagt der Niederbayer, des sei ah so und erklärt über dem Espresso, warum es genau dieser Wagen in Weiss sein muss und der alte es nicht mehr tut. Ich würde ja eher zum Erwerb nichtgeringelter Kurzbeinkleider und Schuhen statt Sandalen raten, aber wer bin ich schon. Nebenan tauschen sich Jungeltern aus, wie lange man die Kinder denn in den Freizeitparks zwischenlagern kann, und ob die Zeit reicht, um nach Verona zum Shopping zu fahren. Es wird viel über die deutsche Heimat gesprochen, und die Angst, dass einem Europa alles, oder wenigstens vieles nehmen könnte. Und über allem schwebt die laue Luft des Abends und die Bereitschaft, es sich hier noch einmal so richtig gut gehen zu lassen. Zufrieden stelle ich fest: Sie können das auch noch ohne die Spas, Thalasso und sonstigen Beautybehandlungen, von denen man in meinem Umfeld gerade konfrontiert wird.
Ganz normale Leute, unter denen man nicht auffällt; wer weiss schon, ob die Uhr des Niederbayern echt ist, ob er nicht vielleicht doch nur einen dicken Auspuff hinschraubt und das richtige Modell durch aufgeklebte Typenbezeichnung macht. Genauso wenig vermag man über mich sagen, ob ich nun bleibe, in Ferrara einen Palast besichtige oder Boah rufend fragwürdige Gestalten bei einem Autorennen anfeuere. In der Bar am Strand hängt ein Kronleuchter, man darf jetzt noch bestellen, es glucksen die Wellen, und die Eltern reden vorbildhaft nicht über die Hochbegabung ihrer Kinder, sondern über den Ärger, den sie machen. Das erlebt man ansonsten gar nicht mehr, bei uns ist so ein Kind ja schon verloren, wenn es im Alter von vier Jahren noch keine 1000 Wörter Englisch spricht und später nicht wenigstens Manager werden will, was sicher eine Option ist, wenn so ein Kind die Eintönigkeit des Strebens im unerbaulichen Umfeld der Heide kennt. Es gibt hier Tretboote, was immer ein erfreuliches Zeichen der gelebten Normalität neben den üblichen Yachten ist. Das ältere Ehepaar sitzt einfach nur da, die Bügelfalten werfen Schatten, und die Steine an ihren Fingern funkeln.
Die ganz Reichen sind natürlich nicht mehr hier, die finden hier keinen Platz für die Yachten, und ausserdem zu wenig Golfplätze. Und diejenigen, die mit der Bierflasche in der Hand Ballermann machen wollen, sind hier auch nicht ganz am richtigen Platz. Zwei Entwicklungen aus der Zeit nach der Eroberung durch die DDR, die Geldapparatschiks und der seiner Klasse bewusste und das voll auslebende Prolet, werden von diesem Ort kaum angesprochen. Das Dasein ist hier so gestaltet, dass man sozial noch miteinander auskommen kann, und den Sonnenuntergang finden alle gemeinsam schön. Es ist ruhig, man weiss, was man bekommt, man ist nicht über- oder unterfordert von den Entwicklugen beim Luxus und der Massenabspeisungen, und es ist wunderbar stabil und vertraut – vieles, was das normale Dasein daheim nicht mehr ist. Aber hier kann man es noch erleben, ganz ohne Literaturkritikerin, die ihre hohe Nase durch die Heide radelt.
Dann schliesst die Bar. Der eine stapft zurück hinter die Gardinen seines monströsen Wohnmobils und schaut deutsches TV, der andere kehrt zurück in das Hotel und liest auf dem Pad die Weltnachrichten, während seine Frau Hermestücher faltet, der Niederbayer nutzt die ruhige Stunde, seinem Wagen Auslauf zu geben, und ich fahre weiter nach Mantua, wo morgen Markt ist, und danach eine Ausstellung über einen genetisch wenig begünstigten Gonzaga ansteht. Die Kinder freuen sich auf den Park und die Eltern auf Taschen aus Verona. Jeder geht an seinen Platz, aber für einen Moment waren wir zusammen, es war so, wie es gewesen ist, und wie es nicht mehr ist – ausser eben hier, in einem anderen Land an einem See, dessen Name für manchen verächtlich klingen mag, und für andere wie das Versprechen einer gar nicht so schlechten und auch nicht sonderlich alten Zeit, bevor der Osten begann, das Szepter zu schwingen, Schauprozesse und Staatsbetriebsbanken zu veranstalten, und dem Westen einen neuen Platz zuzuweisen. Vielleicht sollte der Herr Röttgen hier entspannen.