Franz heisst die Kanaille!
Friedrich Schiller, Die Räuber
Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Natürlich wurde sie nur den Vertrautesten der Vertrauten erzählt, aber sie war so brisant, so unerhört, dass sie sich wie ein Lauffeuer durch die kleine, dumme Stadt an der Donau verbreitete, und dem Vater der W., so schien es uns, unendliche Schande einbrachte: Denn der Vater der W. hatte seiner einzigen Tochter aus erster Ehe (neben zwei Brüdern und zwei weiteren Kindern der zweiten Frau) gnadenlos alle Mittel gestrichen. Zumindest alle jener Mittel, die sie für ihre Ausbildung brauchte. Aufs Existenzminimum hatte er sie zurückgeschraubt, und das nach einem Streit mit der Rechtslage begründet, nach der noch weniger möglich wäre. Und da sass die W. nun in ihrem Elend. Was hatte sie schon? Ein paar Mark. Die 50 Quadratmeter bei ihrer Grosstante in Haidhausen. Genug, um sich irgendwie durchzuschlagen. Aber, und das war auch der Grund, warum sich die W. anderen anvertraute und ihrer Familie diese Schande bereitete, nicht genug für ihre Ausbildung.
Der Vater der W. war stadtbekannt: Zum einem, weil er Frau und Kinder zu einem Zeitpunkt verlassen hatte, als das in den besseren Kreisen noch unvorstellbar war, wollte man weiterhin in der Stadt bleiben. Zum anderen war er Chefarzt, Professor und begnadeter Unfallchirurg, und angesichts dessen, was die Kinder so alles mit Automobilen anstellten, auch jemand, den man besser kennen sollte, falls mal etwas passierte. Und ausgerechnet jener Mann, der sogar jenen Sohn eines bekannten Managers wieder zu einem Stück zusammengenäht hatte, stellte sich nun hin und sagte seinem eigen Fleisch und Blut, dass es nach zwei abgebrochenen Studiengängen, Germanistik und Slawistik, wirklich nicht mehr einsähe, nun auch noch eine private Schauspielschule zu bezahlen. Alles in allem erschien uns das enorm knausrig, kannten wir doch die üppige Villa, in der seine Exfrau lebte, und zwei Studienabbrüche, nun ja, das war bei uns eher die Regel denn die Ausnahme. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wie ein Strafgericht zur Unzeit erschien uns dieses Verhalten. Und es war ungerecht, so ungerecht, denn als die Sünder, die wir selbst waren, wollten wir in diesem Fall keinesfalls das sehen, was uns bei einem weiteren Studienwechsel drohte.
Dazu kam natürlich auch noch die Bekanntschaft mit der K.. Die Eltern der K. waren nach unseren Vorstellungen ganz normale Leute, und so normal schien es uns auch, dass neben der schon hübschen Schwester P. und ihrem sagenhaft zielstrebigen Medizinstudium in der fränkischen Provinz die rasend schöne K. einen ganz anderen Weg ging. Zwei Versuche, ein klassischer Treffer, eine Tochter, mit der man Spass haben kann, und 0 mal Klapse, das ist schon eine Art Erfolgsbilanz für die Erziehung. Den Spass hatte die K. natürlich in München. Mit den üblichen Studienabbrüchen, bis sie sich irgendwann pro Forma für Jura einschrieb. Bei Jura, so ihre Hypothese, könnte sie 6 Jahre regen Studienbetrieb vortäuschen, während sie in Wirklichkeit irgendwann vor ihre Eltern treten würde, mit dem Oscar oder wenigstens dem bayerischen Filmpreis in der Hand, um ihnen zu verkünden, dass sie nun jene berühmte Regisseurin sei, die sie schon immer seit dem letzten abgebrochenen Studium sein wollte.
Der Fall der K. nun beeinflusste den weiteren Fall der W. massgeblich. Denn im Gegensatz zu all den Träumern und Gesellschaftsveränderern und was sich sonst noch Ponader nennt und bei den Piraten ehrenamtlich arbeitet, biss sich die K. durch. Die K. nahm jeden Auftrag, jedes Engagement, jede Möglichkeit wahr. Die K. legte glänzende Auftritte auf dem Münchner Filmfest hin, und stapfte eine Woche später durch den kasachischen Kuhdung. Die K. trug Abendkleider wie Grace Kelly und Safarihosen wie Lara Croft. Sie brillierte auf Bällen und pflügte durch die Aufnahmeleitung. Wir anderen machten uns nach dem 6. Semester widerwillig daran, den ersten Schein abzuliefern, aber die K. legte einen nachgerade beängstigenden Ehrgeiz an den Tag. Und dann lief der Film, für den sie mit Müh und Not die Mittel zusammengekratzt hatte, tatsächlich in München bei den Filmfestspielen. Ihr Name stand im Programm. Und sie wurde mit Aufträgen und Angeboten überschüttet. Sie ging in den Norden, und wir dachten uns, bei so viel Talent, wie wir es haben, kann man so eine Schande wie bei der W. man nicht zulassen. Also konnte die W. auch weiterhin die Schauspielschule bezahlen. Man beteiligte sich im Freundeskreis. Teilweise, weil man an sie glaubte. Teilweise, weil man glauben wollte, dass einem vielleicht auch mal geholfen wird, falls die Eltern irgendeinen nicht vorhandenen Schein sehen wollten. Und nicht überall war der Institutsstempel im obersten Fach der Bibliothek „versteckt”, wie es einmal ein Freund berichtete. Aber ich schweife ab.
Jedenfalls, es blieb der einzige Notfall. Und die W. gab sich auch jede nur erdenkbare Mühe, irgendwelche Hoffnungen auf weitere Rettungsaktionen im Zigarettenrauch zu zerblasen. Widerwillig und im steten Streit mit der Schule brachte sie die Ausbildung zu Ende, klagte viel und tat erheblich weniger, und in jenem Moment, da sie endlich ein Zeugnis hatte, das ihre nur so mittelbombastischen Fähigkeiten lobte, waren auch die Zuwendungen des Freundeskreises so erschöpft wie die Möglichkeiten der Griechen, Staatsanleihen zu platzieren. Die W. verliess das Haus ihrer Grosstante und ging nach Berlin, wo man sich künstlerisch freier entfalten konnte und nicht dauernd gefragt wurde, was jetzt denn sei und wie es voran gehe. Und auch, wenn wir immer noch der Meinung waren, dass der Vater der W. uns diese Erfahrung hätte ersparen können, machten wir uns daran, die ein oder andere Party ausfallen zu lassen und das Studium irgendwie zu beenden.
Vermutlich würde man an dieser Stelle nun eine Moral von der Geschichte erwarten. Aber es kam noch besser.
Denn eines schönen Tages kam die K. zurück nach München. Sie hatte keine Lust mehr auf den Privatsender, bei dem sie gelandet war. Sie hatte keine Lust mehr auf nervige Moderatoren und knappe Budgets und den Quotendruck, und dann sah sie, was die Anwälte so eines Senders verdienten. Sie sah sich in ihrem kleinen Büro vor all den hässlichen Rechnungen, die nichts mit der Kreativität ihres Traums gemein hatten. Sie sah, dass es den anderen Kreativen auch so erging. Und sie sah, dass die Anwälte um 16 Uhr nach Hause gingen, das Schriftzeug der Sekretärin überliessen, während sie Nacht für Nacht über Budgetplanungen schuftete. Die Anwälte verdienten blendend mit der Ware, die sie mühsam herstellte. Sie hatte ihr Jurastudium mit dem Repetitor irgendwie vollendet, und das nutzte sie aus. Sie wechselte die Seiten. Sie kannte beide Aspekte des Geschäfts. Sie stieg auf, und eine bekannte Münchner Kanzlei flehte sie an, als Partnerin einzusteigen. Und so kam die K. zurück nach München. Als die Anwältin, die sich Eltern wünschen.
Und die W. – nun, das ist eine erheblich längere Geschichte mit vielen Männern auf mehreren Kontinenten, und soweit ich weiss, spielte die Bühnenkunst nur bei einer Scheidung eine gewisse Rolle. Zurückgezahlt hat sie natürlich nie, insofern, das muss ich heute sagen, hatte ihr Vater durchaus recht, dem Schauspielertum den Riegel vorzuschieben – wie wir später erfuhren, war es auch gar nicht so, dass er nicht mehr zahlte, sondern alles ausser der Schauspielschule gern bezahlt hätte. Aber deshalb floh sie nach Berlin und lernte dort jemanden kennen, mit dem sie es weit weg verschlug, wo sonst keiner war, weshalb sie begann, von dort aus zu berichten und – als ehemalige Antifeministin wie aus dem Bilderbuch – nun etwas gegen die Unterdrückung der Frauen zu tun. Nicht für Geld. Sondern aus Überzeugung. Was in so einem Land unendlich mehr Mut verlangt, als, sagen wir mal, ohne Papas Finanzhilfen Schauspielerin werden zu wollen. Irgendwie, auf eine seltsame Art, habe ich den Eindruck, dass sie ihre Schulden zwar nicht bezahlt, aber mehr als nur begleicht. Denn, wenn sie in München BWL gemacht hätte…
So erging das den meisten. Kaum einer will wirklich Jurist oder Erbsenzähler oder Knocheneinrenker werden, man hat andere Träume und darf sie, wenn die Eltern vermögend sind, mit geringen Unkosten, auch haben. Die Realität sorgt dann schon dafür, dass nicht die Besten auf der Strecke bleiben. Es hat sich deshalb auch in meinem Umfeld niemand selbst entleibt, oder wurde darüber wahnsinnig. Man lernt dazu. Man malt, man singt, man schreibt in der Freizeit. Und beklatscht andere, die es besser können. Wer hochbegabt ist, und Mitte 30, und mit vier Berufen keine ausreichende Anstellung findet, sollte den Fehler so sehr beim System suchen, wie die W. den Fehler bei ihrem Vater hätte finden sollen.
Es ist natürlich fein, wenn man bei der freien Selbstverwirklichung allenfalls auf solche Luxusproblemchen stösst, und dann auch noch so generös gerettet wird, und weiterhin machen kann, was man will, ja sogar zur Prominenz aufsteigt und in Talkshows und Beiträgen das Elend, unter dem man darben musste, beklagen kann. Nur möchte man mir nach meinen Erfahrungen bitte erlauben, mich nicht um solcherlei Dinge Finanzierung kümmern zu müssen, sondern meine eigenen kulturellen Luxusproblemchen zu hätscheln. In meiner Küche, beispielsweise, ist noch Platz für Stillleben.