Mit viel Prügel
antwortete meine Mutter lakonisch, als letzten Herbst eine Freundin bei ihr zu Besuch weilte und über den heimatlichen Urwald hinweg zusah, wie ich Schubkarre um Schubkarre, Ster um Ster Feuerholz nach hinten fuhr und aufschlichtete. Wie, wollte sie wissen, hatte sie ihren Sohn dazu erzogen, das zu tun, während sie selbst zwar auch Kinder hatte, sogar nicht ganz wenige, aber dennoch den Gärtner bezahlen musste, diese Arbeit zu verrichten – keines der Kinder war bereit, sich einen Tag frei zu nehmen, um für der Mutter winterliche Wärme zu sorgen. Mit viel Prügel, antwortete meine Mutter, und das war natürlich gelogen. Aber im Umgang mit körperlicher Gewalt ist man in Bayern auch in linksliberalen Kreisen eher handfest, zumindest verbal, wenn es um das eigen Fleisch und Blut geht. Man darf nicht vergessen: Die Prügelstrafe ist in der Schule und in der unten zu sehenden “Schleifmühl” meiner Heimatstadt noch nicht so lange abgeschafft, und a drum Fodsn gilt in den retardierten Regionen bis heute als angemessene Erziehungsmethode. Ich glaube sogar, dass ein Bischof Mixa im ersten Moment gar nicht verstanden hat, was diese Heimkinder von ihm wollten: In diesem Alter kommt man aus einer Sphäre der alltäglichen Gewalt gegen Kinder, die heute, im Zeitalter der Nachwuchssorgen, gar nicht mehr vorstellbar ist.
Das Kind entwickelte sich vom unvermeidlichen Nebenprodukt der Sexualität, das auch entsprechend lässig behandelt wurde, hin zu einer Preziose. In den Sommerferien nach dem Krieg etwa wurde mein Vater zur Verwandtschaft nach Pang geschickt. Das werden Sie nicht kennen, Pang, das ist nahe Riedering, das Sie auch nicht kennen dürften, aber von dort aus ist es nicht mehr weit nach Rosenheim, was damals ein kleines Kaff und noch keine Schlafstadt für München war. Dort stand – und steht – ein Wirtshaus und dahinter eine kleine Brauerei, und dort radelte mein Vater hin. Allein. Auf einem 1-Gang-Rad. Unterwegs nächtigte er bei Bekannten, nach drei Tagen war er dort, und obwohl die Brauerei ein Telefon hatte, und mein Vater jeden Tag in die Berge ging, hörten seine Eltern nichts von ihm, bis er, vollgefressen und muskulös, wieder daheim ankam. Das war damals an der Donai so üblich, und nicht Ausdruck von schlechter Erziehung, sondern normal.
Auch bei mir wussten die Eltern im Sommer nicht, wo ich mich den ganzen Tag lang herumtrieb. Als ich nach Südfrankreich radelte, meldete ich mich zwischen Belfort und Nizza überhaupt nicht. Heute dagegen gilt der Schulweg als zu gefährlich, um Kinder dort mit dem Rad oder dem gewöhnlichen Bus fahren zu lassen. Die Marotte begann vor ein paar Jahren bei uns daheim, und in Mantua lebe ich nicht weit entfernt von einer Schule: Vor drei Jahren gab es dort noch keinen Verkehrskollaps, wenn die Kinder aus dem Gebäude strömten. Jetzt schon. Jetzt ist dort alles zugeparkt, es gibt hektische Schülerlotsen und Geplärre, und das alles in einer ansonsten ruhigen Seitenstrasse am See. Es wäre interessant zu wissen, ob die Todesquote unter Kindern wirklich gesunken ist, oder ob das vermehrte Verkehrsaufkommen nicht einen gegenteiligen Effekt hat. Aber so ist das eben in einer Gesellschaft, in der die Nachwuchsaufzucht von der Banalität zum Grund sozialer Bevorzugung geworden ist.
Und damit blenden wir uns in das Geschehen des Wettbewerbs „Von der Donau auf den Hirschberg oder zum Fettabsauger” ein, denn ich wandle auf meines Vaters Spuren. Ich habe mehr Gänge und ein leichteres Rad, aber nur einen Tag, denn ich bin auf der Flucht. Ich fliehe vor einem Fettabsauger aus Rottach-Egern, ein Ort, den niemand kennen sollte, und in meinen Gedanken sieht er aus wie einer diesen immer schwer verschuldeten Playboys aus dem Burda-Management, so ein braunverbrannter Vollaktivling, dem sein Vater irgendwie den Doktortitel und die Praxis gekauft hat. Er ist ungefähr 60 Zentimer gross und sitzt auf einem dieser nervend summenden Pedelecs, Spezialanfertigung für ihn, wie er sagt, und er verfolgt mich schon 90 Kilometer. In der Hand hat er eine Spritze mit der Flüssigkeit für das Fettverflüssigen, und er lacht jedesmal, wenn eine Steigung kommt, weil er mich anstechen möchte. Es kommen so einige Steigungen, ich bin die Strecke als Münchner Student und Partymacher oft geradelt, und besonders bei Hohenkammer habe ich mich schon gefragt, warum ich nicht wie andere mittelalte Männer etwas auf Butter verzichte und auf Kalorien achte. Dann kam der Fettabsauger herangebraust, die Spritze schwenkend und kichernd wie ein Springermann, der eine Presserabatt bei Hyundai bekommt, und schon spannten sich meine Muskeln an, und ich flog den Berg hoch. Es gibt so gut wie nichts, was ich nicht für die Vermeidung eines Arztbesuches tun würde – bei uns sagt man, der sieht einen beim Totenschein noch früh genug.
Ich erreichte recht entspannt die Münchner Schotterebene, ich fand den scheusslichen Münchner Norden auch nicht schlimmer als das, was in Frankfurt als Sehenswürdigkeit gilt, ich schlängelte mich die Ludwigstrasse hinunter, und über Odeon- und Marienplatz, hinunter zur Isar, wo die baden, die sich kein Haus am Tegernsee leisten können. Und fand auch wieder den Weg hinaus aus der Stadt: Einen vier Meter breiten, allein Radlern und Fussgängern vorbehalteten Weg, und in der Ferne zeichnete sich blau die Alpenkette ab. Da begann ich schon in Gedanken, einen Beitrag über angenehm durchgerollte 140 Kilometer zu schreiben.
Weiter vorne standen zwei Frauen, die ihre Räder quer zur Fahrtrichtung gestellt hatten. Und zwischen ihnen waren zwei statische Kinder auf Rädern, mit einer Lücke dazwischen. Ich stellte das Treten ein, rollte aus, vorne redeten die Frauen etwas und die Sonne schien. Ich wurde langsamer und langsamer, das Geplauder wurde lauter, und alle waren wie festgewachsen. Zwar wandte sich eine Frau in meine Richtung und sah mich, aber das war es auch schon, vielleicht hatten sie etwas Wichtiges zu besprechen, etwa, wo hier das nächste Bioeis zu beziehen war.. Ich reduzierte meine Geschwindigkeit, so weit das eben knapp vor dem Umfallen geht, sagte laut aus einigen Metern Entfernung Pardon, und schlich in Richtung der Lücke zwischen den Kindern. Und als ich noch einen halben Meter entfernt war, schrie die hintere Frau die Kinder an: Du bleibst stehen und Du fährst. Woraufhin sich das falsche Kind nicht bewegte und das andere falsche Kind in Richtung meines Vorderrades losstrampelte, und die Lücke schloss.
Blau war der Himmel und blitzschnell war meine Reaktion, ich riss den rechten Fuss aus dem Klickpedal, verdrehte das Vorderrad, und kam, dummerweise wegrutschend, erst zum Stehen und dann zum halben Liegen, denn so eine frisch angezerrte Sehne, die ist nicht gerade geeignet, um ein Bein darauf abzustellen, und sah das bunte Kinderrad vorüberrollen. Die eine Frau sagte zum angeblafften und losgefahrenen Kind, es sollte auf den Verkehr schauen, und dann führen sie allesamt unter dem blauen Himmel Bayerns weiter. Kein Wort des Bedauerns, nichts, wobei, ehrlich gesagt: Ich hätte auch kaum antworten können. Ich war beschäftigt, die Zähne zusammenzubeissen. Es muss ihnen vielleicht in einer dunklen Ecke des Bewusstseins noch vorstellbar gewesen sein, dass der Vorgang die Rücksicht und das unangemessene Verhalten irgendwie ein klein wenig disproportional verteilt hatte, aber wie es nun mal an heissen Sommertagen so ist: Eine Entschuldigung hilft auch nicht als Antwort auf die Frage, wo Leona jetzt ihr Bioeis herbekommt. Und warum man nicht in einer Viererkette die Fahrtrichtung blockieren sollte, das lernt die Leona sicher noch in ihrem Kindergarten. Nach Chinesisch.
Die nächsten 45 Kilometer, bergauf und mit Gegenwind ins Oberland, und vorbei an einer echten Pestsäule und wohlgerundeten Kühen, waren nur noch so mittelerfreulich bis demotivierend, wie es halt so ist, wenn ein Bein noch kann und das andere nicht. Am nächsten Morgen sprang ich auf einem Bein ins Bad, kurierte mich mit allen zur Verfügung stehenden Hausmitteln und knallte dem auf meiner Terrasse schon wartenden Fettabsauger mit seinem Pedelec zur Begrüssung das nasse Handtuch ins Gesicht. So einfach gebe ich nicht auf, in meinem Blog und per Mail versuchten auch nur zwei Ärzte, mich davon abzuhalten. Ich setzte mich auf mein Bergrad und fuhr los, Richtung Hirschberg. Erst auf Seitenstrassen, dann am blauen See entlang des Uferwegs, und nur in Tegernsee selbst wechselte ich mangels Alternativen auf die Strasse. Es war Feiertag in Bayern, es war viel los. Und als ich dann die kleine Steigung hinter dem Schloss zur Sassabar hochjagte, hupte es hinter mir. Dann brauste ein schwarzer SUV vorbei, die Frau am Steuer liess die Fenster herunter und schrie mich über ihre Kinder hinweg an: „Radlweg!” Es war Feiertag. Neben der breiten Strasse, die ein paar hundert Meter weiter sowieso in den nächsten Stau führte, ist ein einziger Bürgersteig. Dort steht „Radfahrer frei”, sprich, man kann, wenn man will, auch dort fahren. Es ist eine Option, aber an einem schönen Feiertag ist dieser Weg voll mit älteren Herrschaften, Touristen, und enorm vielen Familien mit Kinderwägen und Kinderrädern. Aber damit diese eine Mutti im SUV ihre Kinder rechtzeitig zum Reiten bringt, sollte der Radfahrer doch gefälligst auch noch dort drüben hoch, im Gewühl der Menschen. Freie Bahn für die Zukunft des Landes und die sie erziehenden Mütter, die für ihren Dienst an der Gemeinschaft auch ein paar Privilegien wollen. So eine Art ausgleichende Gerechtigkeit, egal, was die Folgen für andere sind.
Drüben in Rottach und Wiessee schimmern die Dächer der diskreten Privatkiniken, und man ahnt, wieso die Geschäfte so gut laufen: So ein Fettpolster am Bauch, das ist auch nichts anderes als ein Radlfahrer auf dem Lebensweg, der dort nichts zu suchen hat. Wenn die Natur einen gewissen Weg vorgibt, dem man nicht folgen will, kann man den mit einer Operation auch ignorieren. Eine Klink, deren Prospekt ich gelesen habe, gibt an, nach wie vielen Tagen man was wieder tun kann: Arbeit, Gesellschaft, und wann der Effekt genau zu betrachten ist. Ist die Babypause vorbei, ist die Figur wieder da. Der Aufstieg der Fettabsauger und das Aufkommen eines bestimmten Art Familien- und Mütterideals – mir scheint, dass es da einen Zusammenhang gibt. Mütter sorgen für die Zukunft des Landes und haben ein Recht auf einen flachen Bauch beim Baden im Sommer. Es geht nicht darum, ob das eine sein muss und das andere nicht mehr ganz so gut geht: Es muss alles zusammenpassen. Alles muss möglich werden. An diesem Punkt, 150 Kilometer nach dem Start und kurz vor dem Aufstieg zum Hirschberg, weiss auch ich, dass manches geht, Torten und Treten, Sehnenzerrung und Überwindung, die Hitze des Tages und die Kälte der Nacht, durch die man sich den letzten Berg hochschleppt.
Aber Fett am Bauch und den Oberschenkeln, das geht offensichtlich nicht mehr. Das wird weggeshaped. Wie alles andere, das stört. Wenn heute nach Leistungen der Kinder gefragt wird, lautet die Antwort eher: Jene Vorschule und jenes Internat, und sie meinen es ernst. Kein Kind wird mehr nach Rosenheim radeln. Das muss alles sitzen, stimmen und die richtige Form haben. Und die Lässigkeit, mit der sie Wege blockieren, hupen und Fett absaugen lassen, wird bestimmend für alles andere sein, was sie sonst noch tun, für die Zukunft des Landes. Ohne Prügel natürlich.