Im Ganzen lebe ich, soviel als tunlich, zurückgezogen.
Ludwig II. von Bayern
In der Nähe von Vicenza steht eine Villa mit dem schönen Namen „La Malcontenta”, zu Deutsch: Die Schlechtgelaunte. Der Name leitet sich einer Legende zufolge von einer Besitzerin mit nicht wirklich freudiger Lebenseinstellung ab, die hier ein wenig ihre Marotten vergass. Eine Malcontenta sitzt auch eine Reihe vor mir, schaut etwas gereizt und tippt ab und an etwas in ihr Mobiltelefon. Es wäre für sie schön, wenn ein paar SMS von Freunden kämen, um sie abzulenken. Aber es kommen zu wenig. Und das direkte Umfeld ist zu aufdringlich. Wie etwa der kurzgeschorene junge Mann, der mit einer – pardon – primitiven Klangfärbung einem Mitreisenden erzählt, wie er und seine Freunde einmal einen Obdachlosen abgezogen haben, der Bilder verkaufen wollte. Dann steht er auf, geht ein paar Reihen vor und singt, dass Alex, der das Ziel seiner torkelnden Bewegungen darstellt, länger und öfter als sonst keiner könne. Ich sitze in der Bayerischen Oberlandbahn, und leider habe ich einen Waggon erwischt, in dem Feiernde aus dem sog. „Bräustüberl”, einer entsetzlichen Borzen am Tegernsee für Burdamitarbeiter und andere nach Hause fahren.
Ich bin 170 Kilometer auf dem Rad gesessen, ich bin Berge hinauf geflogen und durch Täler geeilt ich habe Mütterstrassensperren nur leicht verletzt überwunden, und dem Berggott ein brennendes Fleisch- und Fettopfer aus mir selbst dargebracht. Aber immer hatte ich das Gefühl: Wenn ich nur weiter trete, fahre und keuche, wird es besser. Ich möchte etwas erreichen. Es gibt ein Ziel, eine Sache, die erledigt werden muss, ein Scheitern vielleicht, oder gar einen Verlust. Jetzt sitze ich hier und kann nirgendwo mehr hin. Nicht ich entscheide, sondern die BOB und das Themenspektrum der Mitreisenden. Gerne würde ich aufstehen und der mit guten, besten Gründen schlecht Gelaunten sagen, dass ich keinesfalls denke, dass sie hier hineinpasst. Und dass ich auch nur hier aufgrund der Verletzungen bin, mit denen ich mich zum Bahnhof Gmund schleppen musste. Weil das Radeln nicht mehr geht, wenn sich das Blut aus dem Knie ergiesst. Und kein Auto da ist. Sie, ich, dieser Zug und diese Leute: Das ist alles nur ein Missverstännis. Ein schreckliches Missverständnis.
Ich wohne schon ein paar Jahre am Tegernsee und weiss, dass die Oberlandbahn existiert. Der Name klingt nett und beschaulich, es gibt eine kleine Brücke über die Mangfall, die Züge sind geräuschoptimiert, und unser kleiner Fachwerkbahnhof ist aus Film und Fernsehen wohl weithin bekannt: Einen Schöneren in Seenähe gibt es kaum, weshalb in all den Vorabendserien, die bessere Kreise an Alpenrandseen zum Thema haben, dieser Bahnhof oft zu sehen ist, und dahinter erheben sich andere Villen und grossbürgerlich-ländliche Bauten. An den Fenstern sind Blumen, und der Warteraum ist wie in der guten, alten Zeit. Ich weiss das alles, aber ich bin noch nie damit gefahren. Wozu auch, wer hier lebt, hat keinen besonderen Drang nach München zu fahren. Das ist eine Stadt, die für eine Millionenansammlung wirklich gelungen ist, aber dennoch keine Blumentröge an den Laternen über die Brücken hat, sondern Schilder mit der Aufschrift, man sollte keine Flaschen zerbrechen. Der Unterschied zwischen unseren Blumenkörben und diesen Schildern ist in etwa die Differenz zwischen der richtigen Wohnlage und der, die der arbeitenden Bevölkerung bleibt. Die Linie dazwischen ist diese Bahn. Und wie soll ich sagen: Man merkt, dass sie aus einer Stadt kommt.
50 Minuten sind eine kurze Zeit, wenn man auf einen Berg steigt, aber während die Bahn so durch das Oberland zockelt und weiter vorne debattiert wird, in welcher Wasserflasche denn nun das Wasser und in welcher der Wodka sei, den man auf diese Weise schon in das Lokal schmuggelte, werden diese Minuten zäh, sie gerinnen, sie fangen an, klebrig zu werden. Man muss das verstehen, in meiner Welt trinkt man gemeinhin aus Tassen und Gläsern, die meist nur gedachten, gehässigen Lästereien gegen Nuckelmuttis mit Plastikflaschen, die immer ausreichend trinken wollen, gehören zum guten Ton, der sich dann in einer Art Mitleid – schon wieder so ein armes Opfer schlechter Frauenzeitschriften – äussert. Aber das ist der einzige Berührungspunkt zu denen; alles andere, der Wodka, die Strategie, das Verlangen nach Hochprozentigem und seine Besprechung vor anderen Menschen, die das mitbekommen, das gibt es doch angeblich nur im Fernsehen. Man hört – ich habe so einen Kasten nicht – Schlimmes über die Privaten. Ob vielleicht wieder gedreht wird, wie am Bahnhof, aber diesmal eine schwarze Satire, eine moderne Version der Lokalbahn von Ludwig Thoma für Hools? Ich schaue mich um. Nichts zu sehen ausser jenen, die Alkoholika umverteilen, und anderen, die schon etwas genervt wirken, es aber dennoch geschehen lassen.
Ausserdem, was sollte man diesen Leuten sagen? Es macht nicht den Anschein, als würden Sie ihr Verhalten irgendwie, wie könnte man das umschreiben, bedauern. Es mag nicht das Umfeld sein, in dem man sich landläufig die Heimreise von einem idyllischen Bergsee in die grosse Stadt und ihre grauen Mauern vorstellt, aber es ist fraglos die Art der Heimreise, an der sich die Herrschaften erfreuen. Keine Verlegenheit, keine Zurückhaltung, alles ist so, wie sie es haben, und als Trost, könnte ich der Malcontenta zu-SMS-en, wenn ich denn SMS richtig beherrschen würde, mag man sich sicher sein, dass der See nicht auf sie abgefärbt hat. Die machen das einmal, und das nächste mal fahren sie nach Mallorca oder Bulgarien, Gott schütze unser Bayernland und auch die Konjunktur für Minderbegabte. Die Gruppe ist übrigens gemischt, manche sprechen den hiesigen Dialekt, und andere kommen aus dem Norden. An der Donnersberger Brücke steigen sie aus. Ich mein, ich habe über 10 Jahre in München, genauer, in der Maxvorstadt gewohnt, ich weiss, dass da an der Häuser stehen, und die Lichter verraten auch, dass sie bewohnt sein müssen: Jetzt weiss ich auch, wie die Bewohner aussehen.
Der Zug läuft in den Hauptbahnhof ein, ich packe mein Notebook, auf dem ich all die hübschen Bilder vom Berg bearbeitet habe, und betrete den Bahnsteig. Normalerweise tue ich so etwas nur, wenn ich jemanden zum Zug bringe, und dann bin ich abgelenkt. Hier nicht. Hier sehe ich, dass jemand ein Hemd trägt, auf dem zu lesen steht, er sei ein obszönes Hinterteil, aber ein sexuell erregendes. Irgendwer auf dieser schönen, weiten Welt, muss diesen schalen Wortwitz erfunden haben. Und irgendwer sagte: Das, was kein Mensch öffentlich sagen würde, drucken wir auf ein Hemd, liefern es an Geschäfte, und dann kommen welche, kaufen es, geben dafür echtes Geld aus, und tragen das in der Öffentlichkeit. Ich habe in meinen Münchner Tagen – es grassierte die New Economy – viele irre Geschäftsmodelle gesehen, aber das erscheint mir als undenkbar. Doch – es hat funktioniert, es steht dreist in meinem Lebensweg herum, und es ist, nehme ich an, durch das Grundgesetz gedeckt. Und es fühlt sich damit keinesfalls schlecht.
Ich denke, das hat viel mit unseren Medien zu tun, die nicht im Mindesten mehr ein Interesse daran haben, Werte – so falsch und scheinheilig sie auch sein mögen – zu vermitteln, sondern den Kunden dort abholen, wo er ist, und dann zur Vermarktung bringen. Sie sagen nicht: „So sollst Du nicht herumlaufen”, sondern „Schönes Hemd! Magst Du nicht auch noch einen Masskrughut dazu? Und limitierte, in Bangladesch von Kinderhänden zusammengeklebte Turnschuhe, die ausser Dir nur 2 Millionen andere haben? Ein wenig Hunger vielleicht? Unser Werbepartner macht seine Fleischsemmeln jetzt besonders gross, damit noch mehr Sosse beim Hineinbeissen herausläuft, Dein Hemd besudelt, und dann kaufst Du Dir noch eines, mit einem noch innovativerem Ausdruck Deiner Persönlichkeit. Damit bist Du der König von Bahnsteig 27.” Jedes Mitleid wäre hier falsch empfunden, es geht ihnen gut. Bestens. Und ich gehe in die Buchhandlung, und hole mir meine Lieblingszeitschrift.
Ich bezahle den Fahrschein, und finde danach das Benzin gar nicht mehr so teuer. Überhaupt, ganz ehrlich: Ich bin mit eigener Kraft durch das Altmühltal gerast und nach München geradelt, ich habe gekämpft und mich auf den Berg geschleppt, ich bin gestürzt und dennoch blutüberströmt 12 Kilometer nach Hause geradelt, aber das alles hatte irgendwie seinen Reiz. Der ist weg, seitdem ich in Gmund den Zug bestieg, und befördert werde, in einem schlechten Programm, ohne die Möglichkeit, einen anderen weg zu nehmen oder umzuschalten. In München überlege ich mir, ob es statthaft ist, das Abteil zu wechseln, weil ich einen bösen Verdacht gegen die sich zu mir gesellende Reisegruppe habe: Nein, sage ich mir, das fällt negativ auf, das würde die Leute diskriminieren, bleib schön sitzen und lese etwas über die Restaurierung von Landhäusern in Nordfrankreich. Die Gruppe, erfahre ich, hat einen Betriebsausflug im Hofbräuhaus hinter sich. Es sind einfache Menschen, Steuerzahler, verheiratet und vermutlich auch sehr ordentlich, normalerweise. Und einige sind auch froh, ein wenig dösen zu können. Aber wie es mit Gruppen von Menschen nun mal so ist: Andere geben dann der Ton an. Und nun weiss ich so einiges über Heike aus einem kunststoffverarbeitenden Betrieb zwischen Neuburg und Donauwörth und würde ihr, ohne sie persönlich zu kennen, durchaus raten, ihre Macht als Personalbeauftragte weniger restriktiv gegen den Kare und den Jürgen einzusetzen.
Aber mehr noch frage ich mich über den Seiten zu Erhaltung und Ausstattung historischer Bauten, wie es wohl umgekehrt wäre. Nehmen wir an, ich würde mit einer wilden Horde Schlossbesitzer hier sitzen, und wir würden uns lautstark über Mahagonimöbel unterhalten, über die Vorzüge der belgischen Märkte und die Frage, wo man am besten Gemälde aus der Schweiz nach Deutschland bringt, und wie unfair es doch ist, dass die besten Muranoleuchter aus den Villen am Comer See gestohlen werden müssten, und über die Frage, welche Art Teppich nun zu welcher Frau und zu welcher Katze passt – was würde so ein einzelner, wehrloser Freund des Alkohols wohl denken, der das Pech hätte, uns ausgesetzt zu sein? Ich glaube, er wäre kaum zu bekehren, er würde ich wundern und sich fragen, was diese Zeitschriften eigentlich aus Menschen machen. Es ist doch egal, ob so eine Krawatte aus Siena oder Bellagio kommt, wenn da eh kein guter Spruch drauf steht.
Der Zug läuft mit Verspätungen ein, die mit Verwünschungen kommentiert werden, ich gehe zum leeren Bus, zahle noch einmal und fahre nach Hause. Ich betrete meine Wohnung, und über mir schimmert ein Muranoleuchter Rokokogemälde an. Nirgendwo ist blauer Samt mit dunkelblauen Karos, bei jedem Schritt gibt der Perser etwas nach, und ich lasse mich auf jenem Sofa nieder, auf dem mir die Idee kam, ich sollte aufstehen und versuchen, dem Druck der Gesellschaft zu folgen, und durch eine Rundreise schlanker zu werden. Ich war ganz oben, ich war schnell und langsam, ich habe mich überwunden, nur um letztlich zu sehen
dass es keinen interessiert.
Ich habe 3 Kilo abgenommen, aber die Welt um mich herum trägt weiter Hemden mit Aufschrift und möchte wissen, wo das nächste Bierfest ist. Unser Dasein ist sinnlos, wir spielen keine Rolle mehr, und unsere Fenster, hinter denen das Kristall funkelt und das Silber gleisst, sind Gucklöcher für Aquarien, in denen Zierfische erbittert um Nichtigkeiten sinnlos streiten. Da draussen ist es anders. Und man kann es nicht ausschalten.