Wenn der Mensch zu viel weiss, wird das lebensgefährlich. Das haben nicht erst die Kernphysiker erkannt, das wusste schon die Mafia.
Norman Mailer
Herzlich willkommen in Italien.
Gut, draussen ist immer noch das Land der Teutonen, und das Wetter erscheint jenen nicht italienisch, die nie einen Erdrutsch in der Toskana erlebt haben. Zudem vermisst man hier natürlich auch die italienische Kultur, die Urbanität und das Essen, aber dennoch: Seit gestern sind wir alle Italiener, zumindest in Sachen Geld, solange das Geld kein Graubündner oder Tessiner ist. Wir haben jetzt eine europäische Bankenaufsicht, die nach dem italienischen Wirtschaftsmotto „Regeln gelten nur für andere” funktionieren wird, einen Stabilitätspakt zur Finanzierung des üblichen Filzes und Schlendrians – meinte doch jüngst der spanische Ministerpräsident, er verbitte sich Einmischungen der EU – und grenzenlose Gelddruckerei durch den Ankauf von Staatsanleihen, kurz: Man sollte sich vielleicht mit italienischen Lebensbedingungen vertraut machen. Für später. Sie haben eine gut geplante Rente? Ihr Nachbar mit dem neuen Porsche alle zwei Jahre hatte keinen Plan, aber letztlich angesichts der Einführung der als Euro getarnten Lira recht.
Diese Neuorientierung zugunsten südländischer Strukturen ist natürlich ein wenig blöd, weil das deutsche Modell über weite Strecken die Negation des italienischen Modells war. In Deutschland wollte man Stabilität, Wohlstand und Sicherheit für ordentliche Leute, damit das Leben für die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebeutelten Menschen planbar wurde. Wir haben eine bombenfeste Währung entwickelt, ein solides System staatlicher Vorsorge und Leistungen, eine Sozialpartnerschaft und ein effektives Gemeinwesen. Man konnte etwas von diesem Staat in allen Lebenslagen erwarten, und das wirkte sich positiv auf die Gesellschaft aus: Wer klug und lernwillig war, wurde gefördert. Wurden die Eltern in München krank, konnte ein Kind dennoch in Frankfurt Karriere machen, und der Staat kümmerte sich um vieles. Die Flexibilität, die Anpassungsmöglichkeiten und Fähigkeit, sich auf Märkte einzustellen, waren auf der Grundlage eines funktionierenden Staates und einer verlässlichen Währung erbaut. Familie im Sinne eines Clans war unter diesen Prämissen bestenfalls optional. Und oft genug eine emotionale und finanzielle Last, die man zusammen mit Heimat auch ablegen konnte.
Italien war und ist da weitgehend anders. Vom Staat erwartet man dort Inkompetenz, Bereicherung, Korruption, Verschwendung und alle Arten von Ungerechtigkeiten. Und natürlich andauernde Geldentwertung. In Italien käme niemand auf die Idee, sich auf den Staat zu verlassen, und das durchaus mit besten Gründen. Gleiches gilt auch für Justiz, Verwaltung, Behörden, Kommunen, Ämter und Organisationen: Alles ist gemeinhin dazu da, um Besitzstände zu bewahren, Konkurrenz zu vermeiden und Begünstigungen zu erhalten. Einerseits ist das schlecht, weil Italien damit eben nicht flexibel und schnell und zuverlässig ist. Andererseits kann man auch mit diesem uniformen Chaos leben, indem man sich die Vorteile bei den diversen Alternativen besorgt. Und deshalb sind gemeinhin die Familie, die Freunde und das eigene Viertel sehr viel wichtiger als der Staat oder die Verwaltung, die sich nur in alles einmischen wollen, aber nichts verstehen.
Kurz, der Staat ist der Feind, und wenn man ihn nicht plündert und betrügt, macht er es mit einem, oder es machen andere. Die Italiener denken seit jeher so über den Staat, wie wir Deutsche nun mit nicht ganz schlechten Gründen über das denken, was Politiker als „Europa” bezeichnen, auch wenn sie Vergemeinschaftung von Schulden, Zombiebanken und anderen Politikern sprechen, die nicht einsehen, warum sie wegen ein paar Milliarden anderer Leute ihre Wiederwahl gefährden sollen. Was wir mit den theoretisch gedeckelten 190-Milliarden-Risiko aus dem ESM und über 700 Milliarden Verbindlichkeit aus dem Target-2-Bereich der Bundesbank haben, ist auch nur so eine Art Bundesfinanzausgleich, nur mit dem Problem, dass da nicht Wowereit in Flughafenruinen feiert, sondern ganze Nationen und Bankenkonglomerate. Ja, vielleicht bald auch wieder Berlusconi! Bunga Bunga für alle.
Wäre das hier ein allgemeingesellschaftliches Blogs, so müsste ich jetzt natürlich über unschöne Nebenwirkungen schreiben: Dass all die hübschen Zitrusfrüchte in Italien nur deshalb konkurrenzfähig sind, weil ganze Städte wegschauen, wie illegale Einwanderer auf den Plantagen schuften. Ich müsste etwas über all die Zettel an Kirchen erzählen, auf denen der Ankauf von Schmuck, Pelzen, Gemälden und Möbeln angeboten wird – nicht nur das Beten, auch der Trödler hilft auf seine Weise. Vom Elend der jungen Leute sollte ich sprechen, die nicht von daheim ausziehen oder gar eine Freundin mitbringen können, weil sie mittellos sind. Oder von jenem Bauern, der einen ganz famosen Schinken, so sagt man, macht – und den nur unter der Hand verkaufen kann, weil eine EU-Verordnung zusammen mit einem ungnädigen Beamten einen Grossbetrieb bevorzugt. Brüssel, verehrte Leser, versteht sich blendend mit Rom. Ganz zu schweigen vom Elend der kleinen Familienbetriebe. Aber zum Glück beschäftigt sich dieses Blog mit der Sonnenseite des Daseins, wo niemand ernsthaft leidet, zumindest bislang – und da reichen vielleicht ein paar Anpassungen, um ohne grosse Verwerfungen durchzukommen.
Denn nicht nur staatlich, sondern auch privat sind wir schon länger dabei, italienisch zu werden. Diese ganze Einkocherei und Gartenfreude, die in Deutschland grassiert, ist aus Italien importiert, die deutschen Gärten werden zunehmend italienisch, und aus einem recht flexiblen Volk, deren Erfolgreiche ohne Schamgefühl 100 Quadratmeter Altbau mieten, heute in Hamburg und morgen schon in München, werden wir zu einem Volk der Immobilienbesitzer, weil man in schlechten Zeiten gern ein Dach über dem Kopf hat, ohne zahlen zu müssen. Ein Dach, das seinen Wert behält. Wir haben keinen Immobilienboom in Deutschland, wir haben gerade andere Prioritäten des Daseins entwickelt und, so wir nicht schon seit Jahrhunderten besitzen, holen nur italienische Normalverhältnisse nach. Die Entschleunigung, von der man so viel hört, ist eine direkte Folge dieser neuen Sicht auf Ziegel und Beton. Die schon länger Besitzenden, die schon ein paar Währungskrisen mitgemacht und überstanden haben, wollen nur ungern hergeben: Daher kommen die hohen Preise. Natürlich könnte ich jetzt meine Wohnung in München verkaufen, aber was mache ich dann mit meinem Geld? – solche Fragen stellt man sich heute. Wie die Italiener vor 20, 50 und 100 Jahren, als man bei uns noch von Immobilien als „totem Kapital” sprach.
Eine ganz andere Sache ist dagegen das, was aus der Familie wurde. Junge Italiener hassen das oft, dieses umfassende Eingebettetsein in die genetisch bedingten Strukturen, wo man in der Familie herumgereicht wird, und danach kaum weiter, weil andere Leute andere Familien haben. Das garantiert Stabilität in instabilen Zeiten und gleichzeitig auch geringe soziale und geographische Mobilität: Um sich ein neues Netzwerk woanders aufzubauen und all die Nachteile der Trennung vom Clan zu kompensieren, müssten die Vorteile schon famos sein. Das sind sie nicht, weil an anderen Orten andere Clans ihre eigenen Angehörigen bevorzugen. Eliten in Deutschland dagegen neigen dazu, ihre Kinder in die weite Welt zu schicken, weil das hier Teil der Biographie sein muss. Es ist wichtiger, einen Professor, einen Firmenchef oder einen Politiker zu kennen, als den Cousin zweiten Grades oder eine Erbtante, die auf den ersten Blick nur gestickte Tischdecken zu bieten hat. S’Bluad lafd zsam, sagen wir in Bayern, und negativ ausgedrückt, könnte man auch sagen: In schlechten Zeiten schaut man eher erst auf sich selbst und die eigenen Leute und erst dann, ob es draussen noch andere gibt, die eine Chance brauchen. Die deutsche Flexibilität erscheint dagegen als ein exportgetriebenes Schönwetterideal, dem man folgen konnte, solange es aufwärts ging: In Dauerkrisen wie jener, die wir seit 5 Jahren haben, hat sich das italienische Modell ganz ordentlich bewährt, besser jedenfalls als „auf der Strasse verhungern”. Man kommt damit durch. Man kennt immer jemanden. Es wird einem an nichts fehlen. Der Clan weiss, was das Beste für einen ist.
Das mag hier in Deutschland etwas vorsintflutlich erscheinen, das haben wir längst abgelegt, denn Scheidungen und Selbstverwirklichung sind heute fast schon Bestandteile der optionalen Lebensentwürfe – wenn schon Ehepartner nur noch auf Zeit gesucht werden, was ist dann erst mit angeheirateten Erbtanten. Vielleicht wird deshalb eine volle Renaissance des Clans in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft ausbleiben, vielleicht wird man weiter allein stehen und versuchen, sich selbst zu verwirklichen, auch wenn am Ende des Lebens ein nur auf dem Papier nicht gebrochener Generationenvertrag steht, und die Erkenntnis, dass private Vorsorge auch nur ein Geschäft für Banken und Versicherungen war. Dieses deutsche Modell ist, global betrachtet, keinesfalls die Regel gewesen, sondern eine Ausnahme, auf Basis optimistischer Erwartungen und eines über Jahrzehnte aufgebauten Vertrauens in eben jene Institutionen, die die Finanz- und Eurokrise verursachten.
Sicher, das alles klingt jetzt noch reaktionär, wie der feuchte Traum all jener Honoratioren, die es schon immer wussten und darauf drängten, dass man da bleibt oder allenfalls von der Donau an die Isar zieht. Es klingt nach „in die Fussstapfen der Eltern” treten und lebenslanger Verdammnis zu dem Kaff, aus dem man stammt. Das mag vielen nicht behagen, gerade in den Medien, wo auch die reakionärsten Vertreter des Faches oft genug Ausgestossene und Inakzeptable in ihren eigentlichen Kreisen sind, und deshalb so anfällig für Flexibilitätsgeschnatter sind. Daher sollte man die neuen Notwendigkeiten vielleicht schrittweise mit Texten verschönern: Lobenswerte, nicht ironische Beiträge über das Heimfahren an Weihnachten zum Beispiel könnten einiges aufwerten. Man könnte etwas über das gemeinschaftliche Betrachten der Sissi-Filme für Damen und Don-Camillo-Filme für Herren schreiben, denn, seien wir ehrlich: Nichts uniformiert eine Gesellschaft besser als das gelebte Ideal einer österreichischen Standesheirat zusammen mit einer italienisch-totalitär-katholischen Dorfgesellschaft. Und dann arbeitet man sich publizistisch ganz langsam vor: Eingelegte Auberginen, Verzicht der Italiener auf ein Auto, ein Kochbuch anlegen und Tischdecken stopfen, und ich muss auch mal über eine Dorfhochzeit im Bue d’Oro schreiben… so schlimm ist das alles nämlich gar nicht.
Nicht schlimmer jedenfalls, als die Verbitterung, wenn später mal die Rente nicht zum Leben reicht, sonst keiner da ist, der einem noch helfen könnte, und das Elend obendrein den Lebensbegrenzungsplänen der Politik gut ins Konzept passt. Man nenne mich einen Zyniker, aber ich persönlich schätze Haus, Familie und Freunde lebenslang mehr, als später einmal ökonomisch nützliche Sterbehilfe je nach Bettenkapazität, Versicherung und Schichtplan der Oberärzte.