Die Revolution ist kein Festessen, kein literarisches Fest, keine Stickerei. Die Revolution ist ein Akt der Gewalt.
Mao Tse Tung, Untersuchungsbericht über die Bauernbewegung in Hunan 1927
Als der berühmte Architekt Otto Wagner in den 1890er Jahren die Wiener Stadtbahn entwarf, ging er zu Fuss die Strecken des geplanten Bauvorhabens ab, und sammelte Schmutz von der Strasse: Kohlenstaub, Pferdeäpfel, organische Reste, Fäkalien, Erde. Er füllte den Schmutz in ein Glas, gab Wasser dazu und rührte um: Die Farbe, die dabei herauskam, wurde dann auf den unteren Teil der Strassenbahnen aufgebracht, damit man den beim Einsatz unvermeidlichen Schmutz nicht sieht. Otto Wagner war ein Mann. Männer haben solche praktischen Ideen. Die Frauen jener Epoche sassen daheim und häkelten und stickten. Und keinesfalls dachten sie daran, Tischdecken in der Farbe von verschüttetem Tee zu kreieren.
Man hört ja viel über die Unterdrückung der Frau in der grossbürgerlichen Gesellschaft, über ihre Marginalisierung durch eine vom Patriarchat und der Kirche definierten Rolle. Aus heutiger Sicht ist das, was man den Frauen zu den goldenen, alteuropäischen Zeiten der Wiener Stadtbahn antat – weitgehende Entrechtung und sexuelle Unterdrückung – in etwa das, wofür wir heute die religiös fanatischen Muslime verurteilen. Aber wer einmal das Vergnügen hatte, eine verschlossene Spätbiedermeierkommode zu erstehen, und darin noch die gesamte Tischwäsche einer Dame zu finden, der ahnt, dass es eine systemkonforme Rache gab. Denn alles, egal ob Leinen oder Damast, ist blendend weiss, handwerklich famos gemacht, und obendrein Ausdruck einer unbarmherzigen Perfektion.
Man muss, lehrt Baudrillard, eine Theorie nur konsequent bis zum Ende denken, dann stürzt sie in sich zusammen. Die Theorie jener Tage war – zumindest in den besseren Kreisen – Sauberkeit, Anstand, und ein perfekter Haushalt. Hat eine Frau nichts anderes zu tun, als diesen Haushalt zu besorgen, hat sie vielleicht noch ein paar Dienstboten, wie sie früher unverzichtbar waren, kann sie Arbeiten wie das Waschen auch noch auslagern, bleibt viel Zeit für die Herstellung solcher Decken. Ich habe mir von meiner Grossmutter einmal erklären lassen, wie elend viel Arbeit in so einer unscheinbaren Borte steckt, und wie komplex es ist, Teile auszuschneiden und wieder einzuhäkeln: Eine Arbeit, die heute kaum mehr jemand zu tun in der Lage ist. Ich weiss, es gibt in der Toskana bei Siena noch ein paar Damen, die das für ein Geschäft im Auftrag machen, und ich kenne noch eine Quelle in Südtirol, würde ich dergleichen brauchen. Aber bei uns ist das schon lange nicht mehr üblich.
Besonders sadistisch sind die Durchbrucharbeiten. Solche Tischdecken kann man nicht einfach ausbreiten, denn durch die Löcher würde man das blanke Holz sehen. Es sind Decken, die eine weitere, ebenfalls weisse Decke darunter verlangen. Da liegt dann sehr viel Weiss auf dem Tisch, und aus der Sicht einer Epoche ohne Maschinenfertigung: Ein erhebliches Vermögen. Lange Winter haben Frauenhände daran gearbeitet. Was blieb ihnen in so einer Gesellschaft sonst auch übrig. Aber dann lagen die Tischdecken. Und alle, die zu Besuch waren, mussten sich setzen und Danke sagen, wenn der Kuchen serviert wurde. Auf der aus Stoff zu Ende gedachten Theorie des Bürgertums.
Belassen wir diese Geschichte kurz auf diesem Gipfel, und sprechen wir über die A.. Die A. ist die Tochter eines katholischen Professors aus der Oberpfalz und deshalb hier von Bedeutung, weil es halt so ist, wie es immer ist: Setzt man zwei Menschen ähnlicher Herkunft in eine Umgebung, in der die meisten anderen vielleicht etwas weniger behütet erzogen wurden, finden sie zueinander und schotten sich ab, weil sie gemeinsam ihre Marotten, Rituale und Defekte ausleben können, ohne ihr Verhalten immer erklären zu müssen. In dem Umfeld, in dem ich die A. kennenlernte, standen auch nach Tagen noch offene Yogurtbecher mit eingeklebten Löffeln herum, wie ich es sonst nur einmal im Vorzimmer eines ÖVP-Kulturpolitikers in Wien gesehen habe. Die A. und ich besuchten lieber angenehme Restaurants und Cafes in Schwabing, und eines Tages bestellte sie Croissants. Der Teller war klein, die Backwaren neigten zum Zerfall bei der kleinsten Berührung, und in der Nacht zuvor hatte sie sich mit ihrem Freund gestritten. Und trotz all des Elends war ihr bewusst, dass all die Brösel auf dem Tisch so nicht liegen sollten. Sie schob die Reste zu einem kleinen Berg zusammen und stellte den Teller darauf. Aber wie es so ist mit perfekten Verbrechen: Die Kellnerin kam vorbei, wollte es wirklich perfekt machen, und stellte die Frage, ob sie das leere Geschirr mitnehmen dürfte, nur theoretisch. Und hob, ohne auf Protest zu warten, den Teller, und sah. Die A. liest das hier mit Sicherheit nicht, aber ich weiss, würde sie es lesen, sie liefe auch jetzt wieder so knallrot an wie damals, und wäre vollkommen aus der Fassung. Oh, sagte sie, aber in diesem Oh lag all das Entsetzen des Auffliegens.
Es geht um dieses entsetzte, gequälte Oh. So muss das sein. All die sonstige Bedrückung muss abfallen, denn so ist man erzogen: Das darf einfach nicht passieren. Und nun gehen wir zurück an den doppelt weiss gedeckten Tisch. Lassen einige weitere Leute herum sitzen, und dann, sagen wir mal, ein Stück Kirschtorte von der Gabelspitze herabfallen, genau auf den Rand des Tellers, die Sahnefüllung bleibt hängen, aber die Kirschen… Aber das macht doch nichts, wird die Dame des Hauses sagen. Und vielleicht, eventuell sogar so meinen, denn es sind noch viele andere Tischdecken da, und die Wäscherin nimmt das dann mit. Aber es spielt keine Rolle, denn natürlich macht das etwas: Es kann passieren, aber es darf keinesfalls passieren. Die ganze Bürgerlichkeit basiert auf diesem Prinzip, dass man nicht das schamlos tut, was die Möglichkeiten erlauben. Und schon gar nicht vor anderen Leuten. „Das ist mir entsetzlich…” „Aber nein, meine Liebe”, Doch wirklich, also wie konnte ich nur…” „Ach was, Sie werden sich doch den schönen Sommertag nicht von so einer Lappalie…”
Alle wissen natürlich, dass es keine Lappalie ist, denn man denke all die Arbeit, die in den Decken steckt! Das ist der Moment, da die Theorie kippt, und aus den Opfern des Systems die Herrscher werden, denen es obliegt, zu strafen oder zu verzeihen. So und nur so läuft das mit dem Sünden und Vergeben im Kleinen. Wer hier im schon angemessen zerknirscht ist, so unsere Theorie, wird im Grossen kein Umerziehungslager mehr brauchen. Es ist funktional auch nicht recht viel anders als unter Mao, wo schon ein kleines, falsches Wort der Bürgerlichkeit den Zwang zur Selbstanklage nach sich zog, aber der Kuchen ist bei uns natürlich besser als die Reisschale, und niemand wird draussen mit Knüppeln erschlagen, allenfalls wird drinnen etwas getuschelt. Befürchtet man zumindest. Weshalb man vor allem versucht, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Immer in der Hoffnung, ein anderer möge ungeschickter sein, und das erste Oh sagen müssen. Das diszipliniert. Man konzentriert sich. Mancher hat gute Manieren, und andere versuchen wenigstens, sich zu benehmen.
Es ist ein Test gewesen, eine Herausforderung, ein gesellschaftliches Minenfeld auf dem Weg zum unbefleckten Verhalten. Der Schmutz soll bitte an der Unterseite der Triebwagen bleiben. Gesellschaft ist kein öffentliches Verkehrsmittel: Wer die Tischdecke nicht besudelte, beschmutzt vielleicht auch nicht die Tochter des Hauses, so mag die Überlegung gewesen sein. Dafür stickte man gern Wochen und Monate. Die Mädchen lernten es noch unter Kaiser und König, aber irgendwann… wir haben unsere Tischdecken dieser Epoche noch, aber die Exemplare hier sind allesamt vom Flohmarkt. Hinten stehen keine Schilder mit dem Namen der Besitzerin. Die übliche Geschichte, man hat heute keine Erbtanten mehr, sondern Resopal und allenfalls einen Seidenläufer in einer gedeckten Farbe, auf dem man Schmutz nicht sofort sieht. Also weg mit dem alten Plunder.
Und so kommt das dann zu mir. Jede Theorie bricht irgendwann in sich zusammen, die kleine Theorie der Unterdrückung der Frau, die sich zum Strafgericht aufschwingt, und die grosse Theorie von Anstand und Bemühen, weil es heute wirklich nichts mehr ausmacht: Tischdecken sind so optional wie – und hier kommt recht viel, was damals alle Damen und heute noch religiöse Fanatiker empören würde. Man arrangiert sich mit den Gegebenheiten, wie Otto Wagner es tat, und wahrt nur, wenn es nötig ist, die äussere Form.
Zur Not, wenn es sein muss, möchte man damit sagen, beherrscht man auch die Theorie des weissen Terrors. Und natürlich freut man sich, das „Oh” zu hören. Wirklich! Aber bitte, das macht doch nichts. Ganz im Gegenteil. Man möchte auf dieser Welt nicht gern allein mit seinen Defekten der guten Erziehung sein.