Seuchenartiger Irrtum
Gregor XVI. über die Gewissensfreiheit
Ist man früher von Lazise am Gardasee nach Verona gefahren, an einem warmen Sommerabend entlang der Staatsstrasse, konnte man sich als Italienfreund ein wenig wie in der ersten Szene von Fellinis „La dolce Vita“ fühlen, wenn Marcello Mastroiani und Anouk Aimee bei der Suche nach einem Platz für sich allein auf ein Freudenmädchen treffen, es in ihrem Wagen mitnehmen und dann ihre bescheidene Wohnung benutzen, um sich dort zu vergnügen. Bitte, es ist nicht so, dass ich nicht um die Schattenseiten der Prostitution weiss, und sie wie auch die Angebote von Metzgereien und Fischmärkten ablehne: Aber es gehört irgendwie, trotz all der Probleme, so zu Italien dazu, wie die aufgeschlitzten Fische und die Fleischbrocken, die von Decken hängen. Und ohne eine gewisse Bereitschaft, wenig Moralisches für Geld zu tun, wäre die italienische Oper traurig, der Neorealismus zu negativ, und Marcello würde nie Anouk nahe kommen. Es ist ein Teil der italienischen Kultur, und als Veronas Bürgermeister begann, die Kunden der Damen zu verfolgen, wehrten die sich sehr italienisch, indem sie die Kosten der Strafen auf ihre Dienstleistungen anrechneten. Das ist Italien, wie man es liebt, gewitzt, schlau, nicht unterzukriegen. Aber dann griff der Bürgermeister härter durch, und so erstarb das wilde Leben in den Weinbergen zwischen dem See und der Stadt. Dafür möchte der Bürgermeister in der internationalen Presse als Alternative zu Berlusconi, als Hoffnungsträger der Bürgerlichen gefeiert werden. Er hat vermutlich nie Alberto Moravia oder Dacia Maraini gelesen.
Und wenn ich diesen Wunsch nach Publizität vernehme, sitze ich bei S. und schimpfe wie ein Rohrspatz, denn meine Meinung über diesen Politiker ist gar nicht gut. Er macht in meinen Augen Politik auf Kosten der Minderheiten, und verkauft diese Art der Diskriminierung als Effektivität. Der Mann will nach oben: Verona ist nicht so sauber, weil es so reich ist, sondern weil die Ärmeren an den Rand gedrängt werden, es ist herausgeputzt für den Tourismus. Die Partei, die andernorts altrömische Orgien auf Staatskosten feiert, feiert sich hier damit, dass sie die Prostitution scharf verfolgt, statt dass man sich endlich mal ein sinnvolles System zum Umgang mit Prostitution wie in Deutschland einfallen lässt. Das, sagt die S. erstaunt, wäre in Italien undenkbar, die Kirche ist dagegen. Da ist sie wieder, die Grenze. Es geht nicht. Denn die Kirche will das nicht. Und da kann man auch in Italien nichts machen. Besonders, wenn die Kirche wie in Verona auch noch hinter dem Politiker steht.
Dabei sind, historisch gesehen, weite Teile Italiens mit der Kirche eher schlecht gefahren. Der Gründungsmythos des Landes basiert nicht ohne Grund auf dem Kampf der Einigungsbewegung gegen Österreicher und den Kirchenstaat, und dessen Zerschlagung war nur durch eine starke, antiklerikale Strömung möglich. Der Kirchenstaat galt als inkompetent, korrupt und rückständig, ein Hort von Misswirtschaft und Verfolgung, ein Überbleibsel einer vergangenen Epoche, das mit Waffengewalt beseitigt wurde. Daraufhin sperrte der stadtrömische Schwarze Adel, der vom System profitiert hatte, seine Paläste zu. Der Protest des Vatikan hatte erst unter Mussolini ein Ende, als jener 1929 zur Festigung seiner Macht den verbliebenen Kirchenstaat anerkannte, und auch sonst mit Privilegien nicht geizte. Heute können Italiener auf der staatlichen Steuererklärung angeben, wie die obligatorische Kirchen- und Kultursteuer verwendet werden soll, ob sie an die Religionsgemeinschaften oder an den Staat gehen soll: Bei diesem Staat, der den Ruf des alten Kirchenstaates hat, ist es kein Wunder, dass viele, die meisten gar ihr Kreuzerl lieber bei der Kirche machen.
Nun höre ich aus dem fernen Deutschland hinter den Wolkenvorhängen, dass die Kirchen dort darben: Nicht nur, dass die Prostitution legal und gesetzlich geregelt ist (im Vertrauen, im Mittelalter war das auch schon so, und in manchen Bischofsstädten besorgten das Mitarbeiter des Klerus), zudem geht auch wegen der Austritte die Kirchensteuer zurück. Und gerade bei uns in Bayern ist man nun soweit, dass man den austretenden Menschen Briefe nachschickt, um ihnen zu verdeutlichen, was sie da gerade un unschönen Dingen zu tun gedenken. Briefe, die nicht wirklich konziliant sind, und auch nicht schmeichelnd: Es scheint, als hätte die Kirche jene Strategien vergessen, die ihr bei der Rekatholisierung dienlich waren, den Prunk, den Jubel, die Freude des Rokoko – statt dessen ein schnöder Brief, so liebevoll wie ein Schreiben vom Finanzamt. Sie meinen es ernst. Und vielleicht auch bald noch ernster: Bald werden kirchennahe Hinterbänkler wieder den Vorschlag machen, man könnte doch generell Steuern einziehen, von allen, egal ob gläubig oder nicht, so wie man auch Rundfunkgebühren nach Haushalt einzieht, egal ob man ein Gerät für öffentlich-rechtliche Zwangsmedienmassnahmen hat, oder nicht.
Mit so einem italienischen System wäre dann, so die Hoffnung, allen gedient: Es gäbe keinen steuerlichen Grund mehr, die Kirche zu verlassen, man könnte pro forma den Gleichheitsgrundsatz bemühen, und angesichts der pauschalen Abgeltung würden auch die Vorteile der Kirchen wieder ziehen: Weisse Hochzeiten und ein Priester am Grab, damit die Leute nicht tuscheln. Man zahlt so oder so, aber bei der Kirche gibt es ein paar – neudeutsch – Giveaways aufgrund der Unique Selling Position dazu. Das muss man sich wie beim Frühstücksbuffet im Hotel vorstellen: Man hat dafür gezahlt, man nimmt, was man kriegen kann. Und in Italien funktioniert das tatsächlich, da ist die Kirche immer noch Teil des Lebens. Solange sie nicht gerade zusammenstürzt, wie im Erdbeben des Frühjahres, dann gilt eher: Erst die Wirtschaft, dann die Wohnungen, und in 10 Jahren, so schätzt man, ist man auch mit den Kirchen fertig. Aber bis dahin wird die Kirche auch weiterhin dafür sorgen, dass es eine aus deutscher Sicht moderne Familienpolitik in Italien eher schwer haben wird.
Mit der allgemeinen Kirchensteuer allein jedoch wäre es so wenig wie mit bösen Verwünschungen für Ungläubige getan: Das italienische System verlangt als Gegenpol auch einen italienischen Staat und italienische Politiker, um vor diesem Hintergrund mit Regeln, Anstand und relativer Sauberkeit, man lasse einmal die Banken des Vatikans aussen vor, zu glänzen. Was man in Deutschland wirklich für italienische Verhältnisse bräuchte, wäre wie in Italien eine erheblich schlechtere Grundversorgung in allen Bereichen. Man sieht das in Deutschland mitunter jetzt schon: HartzIV reicht nicht zum Leben, und die kirchlichen Suppenküchen und Tafeln füllen sich wieder. Staatliche Schulen in Berlin haben einen schlechten Ruf, und es florieren die Einrichtungen der Jesuiten, auch wenn die in der Regel gut betuchten Eltern sonst keine kirchlichen Neigungen verspüren. Hier hat Deutschland schon ein wenig von Italien gelernt, und will man wirklich die Kirchen wieder im Land verankern, so muss man ihnen einen Platz geben, den der Staat nach Jahrzehnten der Säkularisierung wieder räumt. Sozialabbau ist ein böses Wort, aber wenn der Staat die kalte Schulter zeigt, und die Menschen erleben müssen, wie die Finanzwirtschaft mit ihren Ersparnissen umgeht, ist Platz für Alternativen.
Und wenn dann die Religionen erst wieder als Sieger aus dem Neoliberalismus hervorgehen, weil sie die Gemeinschaft herstellen können, die der auf Konkurrenz und Verdrängung ausgerichtete Staat nicht mehr betreuen möchte, werden die Gotteshäuser sicher auch wieder für jene attraktiv, die sich gern als Oberschicht sehen. Dieser Atheismus, diese Austreterei, die ist zumindest in Bayern auch ein Übel, das für die Religionen vom Kopf der Gesellschaft ausgeht: Ethikunterricht gab es bei uns nur in den Gymnasien, wo die Kinder der Grosskopferten lieber Kant statt Neues Testament lasen, was ihnen spätestens anheim gestellt wurde, wenn sie statt eines selbstgeschriebenen Gebets die frauenfeindlichen Stellen bei Paulus vortrugen. Und passieren konnte das nur, weil besonders ihre Eltern, die Reichen, gern Kirchensteuern sparen. Früher war das undenkbar, noch in den 60er und 70er Jahren definierte die Kirche teilweise auch den sozialen Status. Ich mag mich eventuell auch täuschen, aber so eine gewisse Ahnung, dass man mit Ehrentiteln bei kirchlichen Einrichtungen, die alt und bedeutend wirken, vielleicht auch jene ansprechen könnte, die nach Doktortiteln und Damen mit einem v. im Namen Ausschau halten – so eine Ahnung beschleicht mich doch hin und wieder in Gesprächen. Heute hat doch jeder einen Onkel im Vorstand einer Bank, aber einem Komtur oder Ordensmeister?
Mit der Ausrottung von Prostitution muss sich hier kein Gläubiger die Hände schmutzig sauber machen, das besorgen bei uns schon die harten Feministinnen nach schwedischem Vorbild. Jede weisse Hochzeit, jede Angst vor Altersarmut, das Prestigedenken bei den Kindern und die generelle Unsicherheit: Das alles ist Kirchen keinesfalls schädlich. Man muss nur warten und darauf bauen, dass die Politik italienischer wird, dann renkt sich alles wieder ein, und diese kurze Phase von Demokratie und Parlamenten: Man soll sich nicht so haben, alternativlos ist auch nur eine Art der Unfehlbarkeit. Es ist ein Pendel, diese Gesellschaft, wie in einer Glocke, sie schwingt hin und her und kann doch nicht entgehen. Man muss keine bösen Briefe schreiben. Sie können davonlaufen, aber von der Gewissensfreiheit kann man nicht abbeissen, oder sie verzinsen. Früher sagte man, die Welt sollte der Kirche folgen und nicht die Kirche der Welt; heute müssen wir den Chinesen folgen und nicht die Chinesen uns. Man hat also die Wahl, wem man folgen möchte.
Ich würde ja gern Anouk Aimee folgen, aber das steht, fürchte ich, nicht zur Debatte.