Bier her, Bier her, oder ich fall um
In jenem Winter vor 25 Jahren war das Wetter in Chamonix bestechend schön. Und obwohl ich es nicht wirklich auf die M. mit ihren Rehaugen aus der heimischen Wäschereiendynastie abgesehen hatte, nahm ich wohlwollend zur Kenntnis, dass sie mich nicht gerade ignorierte. Denn die Sonne brannte auf meiner Haut, und während andere dick in Overalls eingepackt waren, raste, wedelte und sprang ich in Jeans und einem weissen Pullover über die Pisten und Buckel. Unter blauem Himmel und in Bewegung war es warm genug, auch wenn die Lufttemperatur auf über 3000 Meter Höhe allenfalls arktische Werte erreichte. Aber ich war jung und dumm und sehr zufrieden mit meiner Aussenwirkung. Zudem hatte ich gar keine Alternative, denn mein Overall lag in einer Plastiktüte im Hotel, sauber zugeknotet, und würde auch bis zum Ende der Reise dort bleiben. Generell war der Overall – wir alle trugen sie damals, es war die Zeit von Fire and Ice – auch körpernah und schick, aber nach der dritten Nacht leider nicht mehr tragbar. Hätten sich Wolken vor die Sonne geschoben, wäre ich fraglos in Chamonix erfroren, aber es blieb eine ganze Woche schön, und die Rehaugen der M. lagen freundlich auf mir, der ich einen recht wagemutigen Eindruck machte.
Nach Chamonix fährt man von uns aus erst durch Österreich und dann durch die Schweiz. Unsere Eltern hatten uns damals ohne Sorge und Mobiltelefon ziehen lassen, weil die selbst organisierten Reisen der Jahre davor auch insofern glimpflich ausgegangen waren, als dass alle gesund und munter und ohne Schwangerschaften nach Hause kamen. Ohnehin war die Gruppe – Abiturienten aus besseren Familien – gut gemischt, da gab es waldschneisenräubernde Antialkoholiker wie mich und langsame Raucher wie den W., so dass wir zur eitlen Hoffnung Anlass gaben, man werde sich gegenseitig schon irgendwie einbremsen. Im Grossen und Ganzen galten wir als vernünftig, wohlerzogen und hatten die Schulzeit bislang ohne Verweise und Durchfallen absolviert. Die Reise hatten wir in einem Teehaus über Assam und Darjeeling beschlossen. Meine Eltern hätten nicht erwartet, dass ich dann ohne Schutzkleidung die Buckelpisten hinabrasen und hoppeln würde, aber sie konnten ja auch nicht ahnen, dass der Bus in Österreich anhielt. Und jemand auf die weniger gute Idee kam, dort Strohrum zu kaufen. 80% Alkohol, mit einem braungebrannten Skifahrer als Werbefigur.
Dabei waren auch der K. und die B., und weil sie sich zerstritten und der V. daran Schuld war, endete die eine Hälfte des Strohrums im K.. Der war auf der Piste eher langsam und den Alkohol schon etwas gewöhnt. Die B. überlegte es sich dann doch anders und sollte später den K. heiraten, und, was man so hört, inzwischen auch trockengelegt und zu einem reaktionären Vorzeigepapa gemacht haben. Naturgemäss endete der V. deshalb nicht in der B., sondern wieder allein auf unserem Zimmer, wo er dann die andere Hälfte der Flasche in sich hineinschüttete. In der nachfolgenden Nacht schaffte es es physisch nicht mehr ins Bad, sondern nur noch zu meinem sauber auf einem Bügel aufgehängten Overall. Und deshalb weiss ich, wie gut weisse Zopfpullis und normale Hosen auf Pisten bei Frauen ankommen. Durch Zufall und Erbrechen.
Diesen Drogenmissbrauch nennt man dann erstaunlicherweise „gesellschaftlich akzeptiert”, wie auch die Wochenendsäufer vor meinem Haus und diverse andere Vorkommnisse, die mal mehr, mal weniger oft im Polizeibericht auftauchen. Man muss da nicht gross drum herum reden: Die Zahl der nach dem Nachmittagstee ausfällig werdenden Grosstanten ist dagegen ebenso niedrig, wie der Vandalismus unter Freunden von Mineralwasser. Die Frage ist also, wie das sein kann: Eine gesellschaftlich akzeptierte Droge, die gleichzeitig gesellschaftlich inakzeptable Folgen hat. In vielen anderen Bereichen geht das definitiv nicht: Man kann nicht dauerhaft offen Prostituierte aufsuchen, ohne einen Reputationsverlust davon zu tragen. Man kann nicht Pokerabende besuchen, ohne dass man das Gerede bekommt. Es gibt keine akzeptable Dosis von Kokain oder Cannabis. In aller Regel macht man es sich ganz leicht: Entweder ist etwas erlaubt, oder führt zur Diskriminierung. Aber Alkohol widersetzt sich lange erfolgreich jeder Einteilung in Gut und Böse. Und je nachvollziehbarer die äusseren Umstände sind, desto eher wird der Exzess auch entschuldigt. Verlässt einen die Frau, darf man sich mit Freunden als Ausdruck des Leids über Wochen hinweg volllaufen lassen, aber dennoch ist Kokain tabu.
Kritisch wird es eigentlich erst, wenn im Rausch „etwas passiert”; allein der Begriff sagt aber schon aus, wie weit man bereit ist, auch hier noch zu verharmlosen. Denn natürlich passiert gar nichts, kein Fernseher wirft sich selbst ein, kein Auto fährt sich selbst in den Graben und keine Gewalt passiert einer Frau in Anwesenheit ihres Ex-Mannes. Auch in schlimmen Fällen ist man immer bereit, den Betrunkenen von dem, was er unter Alkohol tut, abzuscheiden; weil man ihn mag, weil er ansonsten ein feiner Kerl ist, weil man aber auch nicht zugeben möchte, dass zur Fassade der Anständigkeit noch diese unerfreuliche, unbeherrschte Haltung dazu kommt. Gerne wird dann die Tat, wenn möglich, humoristisch aufgearbeitet, denn der Nüchterne soll bitte wieder der Alte sein, und das Lachen löst viele Vorwürfe auf. Die Katastrophen der Leidenschaft von gestern sind die lustigen Anekdoten des Apres Ski von morgen.
Alkohol ist nicht nur eine normale Droge, sondern eine Droge mit Geschichte, und sie begleitet die besseren Kreise seit ihrer Existenz. Andere, modernere Drogen haben nun mal nicht die Verankerung in der Kulturgeschichte des Westens, und somit gibt es auch kein Modell des entschuldigenden Umgangs. Dass man die Kontrolle über sich verliert, geht eigentlich gar nicht, aber jede bessere Familiengeschichte wäre keine solche, gäbe es nicht auch genug Fälle, in denen sich der ein oder andere Vorfahr dann doch am Riemen gerissen und sich zu einer trocken fundamentierten Stütze der Gesellschaft entwickelt hat. Wer Haus und Hof dagegen versoffen hat, ist keine gute Gesellschaft mehr, und fällt natürlich auch aus der Überlieferung besserer Kreise heraus, ein Teil der Geschichtsschreibung, der gerne ignoriert wird. Synthetische Drogen, Kokain und Haschisch werden noch einige Generationen benötigen, bis man weiss, ob sie auch so einfach wegzustecken sind, wie Bowle oder 5 Halbe Bier vor 100 Jahren – nach allem, was man so hört, ist das aber eher nicht zu erwarten. Alkohol wird seine Sonderstellung noch länger behalten, selbst wenn die Wodkaflasche von 2012 nichts mehr mit dem Punsch von 1912 zu tun hat.
Oh, bitte, nicht dass ich für die Freigabe anderer Drogen wäre, aber den Stand der kognitiven Dissonanz kann man in Bayern am besten bei der Staatspartei sehen, die schärfstens gegen illegale Drogen vorgeht und sich mit der inneren Sicherheit gern in Bierzelten gross tut. In Bierzelten wohlgemerkt, in denen der Konsum von Alkohol in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen ist. Ich werde den Verdacht nicht los, dass man diese Veränderung nach dem Motto akzeptiert: Besser es verdient unsere Spirituosenindustrie, als ein Drogendealer in Mexiko. Letzterer verdient zwar in der Kreativwirtschaft auch – letzthin wurde auf diesem Blog Opel-Werbung geschaltet! – aber im Kern weiss jeder, dass er mit Alkohol Dinge tun kann, mit denen man sich ansonsten besser nicht erwischen lässt. Wir gestatten mehr Exzesse, weil man bei der Droge historisch gewachsene Kompromisse akzeptiert. Nirgendwo ist die Abfahrt ins Tal weiter möglich.
Und das steht jeder anderen Drogenpolitk, die gern – aktuell von den Piraten – gefordert wird, klar entgegen. Beim Alkohol gibt es Rituale, Übereinkünfte und Konventionen, die es erlauben, dieses und nur dieses Fehlverhalten einzuordnen. Es ist ein Freiraum, mit dem man gleichzeitig gesellschaftliche Verbotszonen definiert. Es ist ein Prosit der imperativen Gemütlichkeit, die ansonsten von weiteren Drogen keinesfalls gestört werden möchte. Irgendwelche Debatten oder Untersuchungen, wie schlimm nun welche Droge wirklich ist, sind vor diesem Hintergrund nicht erwünscht. Es gibt in besseren Kreisen immer nur eine richtige Kultur, und die ist in allen Lebensbereichen dominant. Bei der Anordnung des Bestecks, bei der Kinderaufzucht und beim Exzess. Es muss Silber sein, das Abitur ist unverzichtbar, und wenn Rausch, dann gerne Strohrum, solange es keine richtige Droge ist. So sahen es auch die Eltern vom V., die nach dem Urlaub anboten, einen neuen Overall zu kaufen.
Die ganz schlimmen Geschichten kamen ohnehin erst, als sie das Trinken zusammen mit dem Kettenrauchen bei der Vaterlandsverteidigung lernten, aber da hatte man ja auch Schuldige aus der falschen Schicht, dem man das anlasten konnte.