Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Letzter Ausweg infantiler Kreationismus

Wer konservativ überleben will, muss nett sein: Mit Sex, Süssigkeiten einem kindlichen Verhalten kommt man bestens durch eine Epoche, die traditionelle Moral allenfalls noch bei amerikanischen Extremisten erlebt.

Entschuldigen Sie bitte mein Schweigen während der letzten 10 Tage, aber für den Fall, dass die Mormonen und Tea Party Anhänger die Weltherrschaft übernehmen, musste ich die Bibliothek einmauern, meine englischen Silberteekannen vergraben und die Gutscheine für den FKK-Club aufbrauchen.

Im Norden hat man gern ein verschrobenes Bild von Bayern; so in etwa ein hoch gelegenes Tal, wo alle katholisch sind, CSU wählen, Schriftlichkeit für neumodisches Zeug halten und durch Inzest degeneriert sind. Tatsächlich gibt es so eine weitgehend abgeschlossene und durch die Erbfolgen auf Höfen genetisch begrenzte Region, von der man die Anekdote erzählt, bei jeder Wahl hätte es im Tal einen gegeben, der die Sozen wählte. Man hatte auch einen Verdacht, man sonderte den fraglichen Kerl aus und sprach schlecht über ihn. Seine Kinder wurden gehänselt, und in der Wirtschaft musste er alleine sitzen.

Dann starb er.

Und noch immer wählte einer SPD.

(Um den Witz zu verstehen, muss man vermutlich aus Bayern kommen. Oder  aus der bergigen Grenzregion zwischen Fulda und Pakisatn.)

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Diese Region, aus der der Witz stammt, liegt am Rande des Isartals, noch hinter Bad Tölz, und heisst „Jachenau” Ich kenne welche, die von dort stammen. Sie sind katholisch, wählen CSU, sind aber alle hochintelligent, „g’scheid”, wie man in Bayern sagt, kulturbeflissen, sehr sportlich und teilweise so sagenhaft schön, dass die Sache mit der Degeneration nicht ganz stimmen kann. Darunter sind auch die wirklich fanatischen Opernbesucher in meiner Bekanntschaft. Man kann beim besten Willen nichts Schlechtes über die Menschen aus der Jachenau sagen. Sie sind halt konservativ, gläubig und traditionsbewusst. Auch nach drei Generationen Auswilderung in München geben sie die besten Zweckehepartner ab, und wenn sie sich, zu Geld gekommen, dann wieder in die Berge ziehen und Bücher und CDs kaufen, fahren sie nach Bad Tölz an der Isar, in die zwischen Trachtenläden eingepferchte Buchhandlung, in die ich, vom Tegernsee kommend, auch gehe.

Man sollte nicht meinen, dass diese Buchhandlung dann, sagen wir mal, halbnackerte Frauen aus Ostdeutschland verkaufen kann, die nicht nur tätowiert sind, sondern auch knallrote Haare haben, überkanditelt schreien, eine Perücke tragen und unkeusch eingeschnürt sind, und über dem Essen ein ganznackertes Photomodell begehren. Aber doch, das geht, sagt die Buchhändlerin, das verkauft sich wie frische Semmeln. Die CD, die ich sehe, ist die letzte, sie bestellt gerade nach, die Leute hier lieben Simone Kermes und ihre CD Dramma. Ich mag sie auch. Aber ich bin auch derjenige, der zuletzt in Gmund am Tegernsee die Maoisten/Leninisten gewählt was wollte ich sagen ach so, jedenfalls haben auch Bewohner einer Region, die Wolfratshausen schon für einen überfremdeten Sündenpfuhl halten, überhaupt kein Problem damit, so eine wie die Kermes in ihren finsteren Bergtälern erschallen zu lassen. Und retro mit aufgedruckten Schallplattenrillen ist die CD auch.

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Und dann sitzen sie unter dem funkenden Sternenzelt, draussen bimmelt eine Kuhglocke, und Simone Kermes singt ihnen etwas von Begierden und Leidenschaften. Vielleicht erinnert sich noch jemand an die grauen Vorzeiten, als diese Käuferschicht Platten mit dem titanenhaften Gesicht von Karajan kaufte, die Schwarzkopf sang und Barockmusik in wohltemperierten Zeitlupe aufgeführt wurde… man kann das heute vielleicht noch aus historischem Interesse hören, aber die öffentlich-reaktionäre Meinung der Opernfreunde will es barock, laut, schnell und wenn nicht die Kermes, dann bitt’schön die Invernizzi oder wer da sonst noch vom gleichen Kaliber wie ein Rockstar den Konzertsaal erschüttert.

Den Weg von Frau Schwarzkopf zu Frau Kermes kann man natürlich ganz schrecklich finden, oder, um es mit einem Wort aus der Feuilletondebatte zu sagen, „infantil”: Was müssen sich gesetzte Herren in Bad Tölz auch mit so einer Frau schmücken, die auch Jugendkulturen von Body Mods über Fetisch bis Food Porn bedient. Kann nicht die Musik für sich alleine stehen? Muss diese Vermarktung unbedingt sein? Nein, kann man da nur antworten, natürlich muss das nicht sein. Und den geschätzten Kulturpessimisten noch die Empfehlung mitgeben, auf dem Weg zur Isar hinunter besser nicht in die Trachtengeschäfte zu schauen, denn was dort dem reaktionären Käufer angeboten wird, ist auch eher so die Simone-Kermes-Version von Bergbekleidung. Im besten Fall. In den schlimmeren Fällen neigt man als Bewahrer des Alten dann an der Isar dazu, in dieselbe zu gehen. Dann muss man sich auch keine Gedanken darüber machen, ob all die Damen des Oberlandes mit Männertrachtenmänteln und gross beschleiften Jägerhüten, die sich dieses Jahr zu Allerheiligen wieder prächtig vermehrt hatten, nicht etwa als alpin-queer und cross-dressing zu beschreiben sind. So weit ist es sogar auf den Friedhöfen des Oberlandes gekommen.

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Ich persönlich denke, die Sache mit der „Infantilisierung” stellt sich den Betroffenen ganz anders dar: Es führt einfach kein Weg zurück in die Epoche, als Adenauer Kanzler war, die Redakteure Krawatten zu tragen hatten, Jeans in der Arbeit undenkbar waren und Karajan stilbildend wirkte. Damals gab es so etwas wie eine reaktionäre Lebenswelt, man konnte sich darauf verlassen, dass die Regeln in den eigenen Kreisen immer und überall respektiert wurden. Heute dagegen ist „konservativ” mit etwas Pech eine verkorkste Promenadenmischung von Vorfahren wie Jan Fleischhauer, Erika Steinbach, Gabor Steingart, Martin Walser und dem Ehepaar Sarrazin: Freudlos, uncharmant, gehässig und auch sonst ganz der nicht stubenreine Köter, den der Politikbetrieb der Mitte an der Autobahnraststätte Richtung grüne Zukunft und mediterrane Küche ausgesetzt hat. Dieser Talkshow-Konservativismus von Aufsteigern, diese marktgängige Krawallattitüde, das alles ist pures Gift für die gelassene Selbstverständlichkeit, in der echte Reaktionäre ihr Vermögen geniessen möchten. Man weiss, die alten Zeiten kommen nicht mehr, und man ist auch von den niederen Hilfstruppen und ihren lauten Rückzugsgefechten angewidert. Man muss allein irgendwie das Alte mit dem Neuen in Einklang bringen. Und deshalb lieben alle Simone Kermes. Mit ihr kann man reaktionär und ganz vorne dran sein.

Und man liebt jede Menge anderer Angebote, die Brücken bauen. Der geneigte Leser muss dazu nur einmal meinen Lieblingskonditor in Gmund besuchen, der beherrscht das perfekt: Genau die richtige Mischung aus Bergromantik, Süsse und Handwerkskunst, die man hier kaufen und im kalten, unromantischen Frankfurt verschenken kann. Reaktionäre Erbtanten der Gegenwart sind längst nicht mehr so doof, dass sie anrufen und fragen, ob die Grossnichte auch brav ihr Mettwurstbrot verzehrt. Selbstverständlich sind die neuen Lebkuchenvariationen für kein Fünferl traditionell, und sprechen jetzt im November dem Brauchtum Hohn. Da ist man halt über die Generationen hinweg kindisch, denn so ein liebevolles Packerl funktioniert. Immer. Es ist nicht infantil, es ist einfach der Anschluss an den Rest der Gesellschaft, die man mit den gesammelten Werken Karajans oder einer Blechdose voller Supermarktlebkuchen nicht mehr erreicht. Es ist Bewahrung der Tradition mit menschlichem Antlitz. Der Konditor, der das macht, ist für die CSU im Gemeinderat.

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Und gerade an Tagen wie heute sollte es einem auch bewusst sein: Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Es gibt in Deutschland keine Basis mehr für eine Bewegung wie die Tea Party in den USA, die eigentlich nichts anderes macht, als jene Werte zu vertreten, die in Deutschland vor 40, in Bayern vor 20 und in Fulda und Afghanistan bis in 50 Jahren die konservative Normalität darstellen. In Tegernsee besuchen mehr Menschen das Bräustüberl als die daneben liegende Kirche, Scheidungen, Abtreibungen und Sex vor der Ehe führen selbst bei uns nicht mehr zu einer gesellschaftlichen Stigmatisierung. Will man nicht wie ein Angehöriger des Berliner Kreises, ein Vertriebenenfunktionär, ein Leser der Welt oder ein Mitarbeiter von Kreuz.net wirken, muss man neue Formen der Koexistenz und schonenden Beeinflussung finden. Will man das Bestehende retten und erhalten, muss man nett und kinderfreundlich sein, vielleicht sogar selbstironisch und selbstkritisch, und keinesfalls so dogmatisch und unbelehrbar wie die Tea Party oder die Bundesfamilienministerin. Die Menschen nämlich haben überhaupt nichts gegen vorgestrige Besitzstandswahrung und traditionelle Unterjochung, wenn sie mit Süssigkeiten, grossen Kinderaugen, Pferdeumzügen, Sissiromantik und sauberer Luft daherkommen. Das ist nicht kindisch. Das ist Überleben in der Epoche der Bedeutungslosigkeit.