Can’t stop the rock
Apollo 440
Schneller und schneller fuhr der signalgrüne Audi 100 hinab in den Wald, nahm die Kurven mit quietschenden Reifen und hinterliess den beissenden Gestank einer gequälten Handbremse. Am Steuer war ein Stier von einem Mann, der in seiner Jugend, nur zur Gaudi, Bomben aus der Donau getaucht hatte und sie anzündete, der mit seiner Sachs Europa erkundet hatte, ausgeraubt wurde und dann halbnackt Pässe überquerte. Hier nun kämpfte er mit dem Wagen, den Kurven, und dem unerfreulichen Umstand, dass die Bremsanlage weitgehend ausgefallen war. Rasend schnell grollte der grüne Blitz durch kleine Weiler und Wiesen, stinkend und hupend immer weiter hinunter nach Brixen, und so gefährlich es auch gewesen ist: Es war keine Stunde der Angst, sondern der Bewunderung, denn am Steuer war mein Vater, ich liebte die Geschwindigkeit, und ich war absolut sicher, dass er auch diese Situation meistern würde. Diese Kurventechnik! Die Geräusche! Wie der Wagen am Postbus vorbeiflog! Wie die Leute von der Strasse rannten! Huiiiii, quietschte ich zum Fenster hinaus. Ich fand das toll, und bewunderte meinen Vater. Und nach dem Abenteuer konnte ich es verschmerzen, dass wir von Brixen aus mit dem Zug heimfahren mussten, spannender wäre es sicher nicht mehr geworden. Daheim war man zwar froh, dass wir alle gesund und heil angekommen waren, aber auch ein wenig enttäuscht, denn in all der Hektik blieb keine Zeit, Südtiroler Speck zu kaufen, und ihn den Bekannten und Verwandten mitzubringen.
Das alles war in den frühen 70er Jahren, Flugreisen waren noch teuer und die Bratensossen so fettreich, dass man heute damit einen Berliner Nudelhipster vergiften könnte. Die Welt war klein und überschaubar, jemand hatte die Preussen weggemauert, die Äpfel kamen aus dem Garten und das Brot vom Bäcker, der am Morgen sein Brot gebacken hat. In der Metzgerei bekamen Kinder, wenn sie brav waren, Schweinsblasen geschenkt, die noch ein wenig feucht von Blut und Urin waren. Die blies man dann auf, und veranstaltete damit lustige Schlägereien. Am Sonntag gab es auf dem Jura frisches Kesselfleisch in Gaststätten, in deren Ställen Blutpfützen zu sehen waren. Das war ein Fest, und aus der Stadt kamen die Honoratioren, um Teller um Teller leer zu schaufeln. In dieser fleischseeligen Zeit, als Vegetarismus unvorstellbar und Rinderwahn unbekannt war, dachte man sich nichts beim Inhalt von Leberkas, aber sehr wohl im Urlaub an die Daheimgebliebenen. Es muss stimmen, diese Viehzüchter im Süden haben das einfach in den Genen. Der Südtiroler Speck war etwas, das jedem zusagte, saftig und geräuchert, mit Fettrand und intensivem Geschmack. Das gab es daheim nicht, also nahm man mit, was man im Auto schmuggeln konnte.
Heute fallen keine Bremsen mehr aus, Autos sind meist silber oder schwarz lackiert, und Väter gelten Kindern als Helden, wenn sie Pedelecs an den Strom anschliessen können, ohne dabei einen Schlag zu bekommen. Ich bringe, obgleich seit 20 Jahren Vegetarier, immer noch denen Speck mit, die Fleisch konsumieren; kleine, vakuumverpackte Stücke für Singlehaushalte, in denen wenig gegessen wird. Es müsste auch gar nicht sein, jeder deutsche Supermarkt bietet das an. Oberhalb von Hall in Tirol kenne ich einen Hofladen, der noch eigene Marillenmarmelade kocht, und bei Prenn in Sterzing kaufe ich Apfelstrudel: Auch die Vegetarier bekommen etwas, das es zumindest identisch in Deutschland nicht gibt. Aber das alles, diese Liebesgaben aus der guten, alten Zeit des späten Wirtschaftswunders, könnte ich so ähnlich auch in Deutschland erwerben. Es gibt immer überall alles, wenn man nur den Preis dafür bezahlt.
Nun – fast alles. In der Toskana zum Beispiel gibt es halbe, mitsamt den dicken Borsten geräucherte Wildschweine, was dann wie gebratener Oger aussieht. In der Poebene fault in den Höfen der Culatello unter einer Schimmelschicht vor sich hin, und in den Lauben von Meran findet sich auch so manches tote Vieh am Leichenstück, das deutschen Lebensmittelkontrolleuren seltsam vorkommen könnte. Aber es wäre dann noch etwas, das man in Deutschland nicht bekommt. Ein echtes Souvenir, das dem Weltmarkt trotzt. Allein, so eine halbe Kuh passt nicht in meinen kleinen Sportwagen, es sei denn, ich setzte sie auf den Beifahrerplatz, und mache das Verdeck auf.
Hm.
So stand ich also unter den Lauben von Meran, dachte nach, und kam zum Entschluss, dass die Idee vielleicht doch nicht so ganz praktikabel ist, mit einer halben, verbrannten Kuh und der Missa Celensis im Autoradio offen über den verschneiten Jaufenpass zu fahren. Vor allem ist daheim auch niemand, dem ich so eine halbe Kuh geben könnte. Aber da sieht man, was man zu tun gezwungen ist, in unserer perfekten, abenteuerfeindlichen Vollkaskowelt mit 16 Airbags und Sicherheitsgurtstraffern, wenn es nur darum geht, andere mit etwas zu beschenken, das sie sonst nicht bekommen könnten: Wir können alles haben, immer, sofort, und deshalb ist es auch so langweilig in dieser Welt, deren Eliten sich nur noch über Geld definieren, und gar nicht mehr wissen, wie man den Zünder aus einer Panzergranate schraubt, oder wie man, bei den Kindern verborgen, alles mögliche über Grenzen schmuggelt. Essen, Callgirls, Reisen, Schmuck: Alles im Internet nur einen Knopfdruck entfernt, immer, überall. Ich konnte zum Kulturpessimisten werden, bis es mit dann in Algund auf den Kopf fiel. Plopp.
Aua. Zum Glück war es keine Esskastanie im Gehäuse, denn die hätte mit ihren vielen Stacheln weh getan. Plopp, machte es wieder, und eine Kastanie landete auf dem Boden. Plopp machte es weiter vorne und dann weiter hinten, Plopp, Plopp, Plopp, und dann erst begriff ich: ich stand nicht einfach nur im Bergwald über dem Meraner Becken, sondern in einem alten Edelkastanienwald. Über mir erhob sich das dunkle Gold der Blätter in den blauen Himmel, und unter mir war alles voll mit stachligen Früchten. Plopp. Hübsch schauen sie aus, die Esskastanien, oder wie sie hier heissen, die Kesten. Plopp. Es ist wirklich ein putziges Geräusch, wenn sie fallen. Früher war das eine Speise für die Armen, heute dagegen sind sie, wenn sie geerntet, verpackt und verschickt werden, eine global erhältliche Delikatesse. Aber nicht von hier. Denn diese Kastanien, das sah man an den Mengen der braunen Kugeln auf dem Boden, wurden nicht bewirtschaftet. Ein paar, dachte ich mir, könnte ich doch mitnehmen, als Andenken.
Eine der vorzüglichsten Eigenschaften besserer Kreise ist die Fähigkeit, sich bescheiden zu können. Meistens zumindest. Sicher, Spielchen mit Phosphorbomben hätte es nicht gebraucht, nur um zu beweisen, dass auch eine Stahlbrücke brennen kann., beim Kesselfleisch wurde immer zu viel gegessen und danach zu viel Schnaps getrunken, und es war schon abenteuerlich, was da alles im Kofferraum über die Grenze ging. Aber sonst hält man Mass. Mein Mass an diesem Nachmittag in Algund auf dem Berg war der grosse Sack, den ich zufälligerweise dabei hatte, und man glaubt gar nicht, wie schnell man das wieder lernt: Mit dem Fuss seitlich auf die stachlige Schale der Kesten treten, ein wenig nach unten ziehen, schon platzt die Haut auf, und man kann – vorsichtig – die Edelkastanien entnehmen. Man ist an der frischen Luft, man lernt dazu, man entwickelt einen Spürsinn und ehe man sich versieht, ist eine Stunde vorüber, der Sack ist voll und Plopp oh da ist noch eine die nehme ich noch Plopp und die auch noch mit. Und da hinten ist doch noch ein Baum, da schaue ich auch schnell. Plopp. Es vergehen die Stunden, die Sonne wandert vom Passeier über den Ritten bis ins Vinschgau, und dann sind der Sack und alle Sakkotaschen und die organisierten Tüten voll, voll mit Kesten.
Plopp. Diese eine noch. Es gibt gute Gründe für die Raffgier, denn das ist es, was ich gesucht habe. Ein Souvenir, das es nicht zu kaufen gibt, Kesten aus einem Bergwald bei Algund, selbst aufgemacht, gesammelt und den ganzen Berg hinunter getragen, von einem, der die Zeit hat, das zu tun, und der in den Ferien, die sein Leben sind, auch mal einen Sonnentag für seine Freunde daheim verschenken kann. Beim Speck muss man vielleicht an den Stall und an die Schlachtung denken, aber wer diese Kesten bekommt, denkt nur an einen grunzenden Mann in einem sonnendurchfluteten Wald, der ploppenden Früchten nacheilt, von Baum zu Baum, und glücklich ist mit dem, was er tut und findet. Es ist Zeit und Glück und eine Geschichte aus schönen Tagen, die andere Menschen im hohen, grauen Norden des Vorwinters unterhalten und ablenken kann. Das gibt es nicht überall, man kann es nicht bestellen und nicht kaufen. Wie das Licht auf den Bergen.
Dazu kann man natürlich noch Speck, Öl, Wacholderkäse aus der Käserei Algund, getrockneten Tomaten und Nudeln mitnehmen. Die Beschenkten machen dann Kastanienpesto mit Speck, um nur mal eine Möglichkeit zu benennen, Urlaub am Esstisch, für ein paar Momente, und denken an mich. Ich glaube, so wie dort oben würde ich gern in Erinnerung bleiben, für immer in den Ferien. Nicht als Blogger oder Autor oder Herr über 82.000 Kommentare, sondern mit einem Sack voll Kastanien auf einer Bank mit Blick über Meran. Darum geht es. Alles andere ist nicht so wichtig.
(Trotzdem: Danke, dass Sie hier mitlesen und mitreden. Ich weiss das sehr zu schätzen. Man kann nicht den Stein anhalten.)