Retreat may be subtle, but victory lies in the other direction
Es ist November. Es ist kalt und neblig, zumindest jenseits des Tegernsees. Am Tegernsee selbst ist es auch November, und wie so oft ist es nachgeholter Sommer.
Trotzdem sind die meisten Lokale im Betriebsurlaub. Das Schlosscafe: Geschlossen. Die Ostiner Stuben: Geschlossen. Seeglas: Geschlossen. Villa am See: Geschlossen. Und deshalb geht es am Samstag Abend bei Francesco wie auf einem Rettungsboot der Titanic zu, jeder will einen Platz, überall drängeln sich unterschiedlichsten Schichten: Reiche vom Leeberg, normale Multimillionäre aus Rottach und arme Schlucker wie ich, die schon seit Jahren keinen anderen Wohnsitz mehr als die drei, die sie ihr eigen nennen, zu sehen bekamen, und sogar einer anderen Arbeit als gefälliges Depotbetrachten nachgehen. Aber hier ist es egal, bei Francesco gilt das Prinzip des zuerst Kommenden und die Kastanientortelli zwischen den Zähnen Mahlenden, ich habe einen Platz und nebenan stehen welche und warten. Und reden derweil im Dialekt ihrer Düsseldorfer Urheimat.
Und sie reden so laut, dass ich nach kurzer Zeit im Bilde bin: Grossvater ist mit Enkelin (hellblaue Bluse von Van Laack, Rolex Oyster, dunkelblauer Kaschmirpulli, Perlenkette, wählt vermutlich FDP) zu Besuch bei Onkel und Tante, auf dem Leeberg wohnhaft, wo, wie sie berichten, der Quadratneter damals für vierfünf totaaal billig war, wenn man es mit heute vergleicht. Und sie sind wirklich froh, hier zu sein, denn die Schweiz war dann doch nicht so ihres, das müssen sie nachträglich wirklich zugeben. Wegen der Schweizer natürlich, aber auch wegen der zu nahen Berge und dem Elend mit der Swisscom, die zwar alles anbiete, aber so richtig würde das mobile Netz oft nicht funktionieren. 30 Jahre alt mag die noch nicht verheiratete, gut gekleidete Nichte sein, Onkel und Tante sind gut Mitte der 50er: Für einen Moment denke ich dennoch, ich bin im Obdachlosenasyl des Sankt Oberholz in Berlin. Und das nicht nur, weil der Parmaschinken auf dem Schneidetisch inzwischen restlos weggeschnitten und verteilt ist, und auch schon vorher in der Bergschwalbe die Dampfnudeln nicht mehr verfügbar waren, und somit das Angebot so überschaubar wie in Berlins Gastronomie ist.
Es ist mehr das Verhalten der gar nicht so jugendlichen Gäste. Denn die Tante greift nach ihrem iPhone und macht das, was hier eigentlich alle machen, ausser ich paranoider Armer, der ich aus Prinzip kein Mobiltelefon mehr mitnehme: Sie wischt. Sie wischt durch die Dateien und zeigt dann der Nichte Bilder vom Anwesen in Gstaad, während der Opa erzählt, wie er ihnen damals die Bodenvase ganz unauffällig in seinem Wohnmobil mitbrachte und wie schwer es war, sie dann nach der Aufgabe des Schweizer Hauses nach Italien zu schmuggeln, wo noch ein Haus steht. Welche Bodenvase, fragt die Enkelin, und Opa zückt auch sein kleines Kästchen, wischt herum und zeigt Bilder. Ein wenig Kastanienfüllung löst sich von meiner Gabel, fällt in die Butter und ich zucke zusammen: Ich hasse es, wenn ich besudelt zu Tisch sitzen muss.
Das war der Schreck der Erkenntnis. Denn eigentlich empfinde ich es als normal, dass die Jüngeren wie ich keine Zeitung mehr lesen. Ich persönlich tue das durchaus, wenn ich in Italien bin und recht viel Zeit habe. Dann sitze ich wie ein alter Mann in der Bar Venzia, lese vor den Tortelli das Feuilleton, bestelle danach noch etwas zum Runterspülen, und gehe weiter zur politischen Kommentarabteilung. So sitze ich unter dem Sonnenschirm und lache herzhaft. In Italien, einem Land der langen Mittagsruhe, passt so eine Zeitung bestens in meinen Tagesablauf. Daheim müssen sie einer noch geregelteren Arbeit als meiner nachgehen, da dominiert der Neoliberalismus, und ich kann mich gar nicht genug wundern über die Ironie, mit der viele Presseprodukte die Effizienz und die Flexibilität und die Sparamkeit predigen. Und dann erstaunt sind, wenn die Leibeigenen dieses Systems gar keine Freiräume mehr haben, in die solche Medienprodukte passen könnten. In Italien gibt es eine andere Arbeitsauffassung, da wird noch viel Zeitung gelesen, es gibt jede Menge Kioske und Bars, und für das Internet ist es viel zu hell. Wer weniger tut, hat mehr Zeit für ein dickes Printprodukt, so einfach ist das. Und so furchtbar, gäbe es da nicht noch die Alten und Vermögenden.
Aber leider ist es aber auch so, dass ich die ganze Zeit am See (ich bin hier schon etwas länger, schliesslich sind momentan Werktage für andere und bis auf das Wochenende ist das sehr angenehm), eigentlich nur einmal Leser von Buchstaben und Bildern auf schlechtem Papier gesehen habe, und dahinter steckte vermutlich kein allzu kluger Kopf. Es war mehr so wie hier in Francescos italienischem Rettungsboot: Man hat etwas Zeit, bis man einen Platz oder das Essen bekommt, also wischt man auf dem Mobilgerät. Die jungen Mütter, die aus lauter Langeweile ein Kind bekommen haben und es im Stil der 70er Jahre aufwachsen lassen, mit Jean-Seberg-Frisur und Kinderwagen mit orangen Punkten, wischen mit grösster Selbstverständlichkeit im Strandcafe. Wie das Kind in jenem Wagen dereinst den Umgang mit einer Zeitung lernen soll? Vielleicht packt es in 30 Jahren so ein Wischgerät aus und denkt, dass es voll retro ist, und das eigene Kind erleben soll, wie das damals in den 10er Jahren war. Mit Apfelgerät!
Es machen aber auch die Alten, zum Zeitvertreib: Photo von den Freunden, rumwischen, verschicken. Lachen, wenn bedauernde Antworten aus den trostlosen Nebelregionen kommen. Wie die kindischen Leute in Berlin, nur hier in alt, reich und gut angezogen. Jeder wischt. Niemand liest Zeitung. Auch wenn das hier ganz einfach wäre: Zeit ist da, Geld ist da, das Cafe ist da und die Bedienung freut sich, wenn man noch einen Sprizz in der Sonne nimmt. Aber ob man dabei wischt oder blättert, ist ihr egal. Hier, in einer Region, in der man noch erwarten könnte, die Welt sei in Ordnung, und die Leute wären wie früher.
Aber sie haben das Wischen gelernt, und eine Flatrate, wenngleich nicht mehr von der Swisscom. Auch bei Francesco wischen alle, jung und alt, und an den Reaktionen meine ich erkennnen zu können, dass sie sich nicht zu jenen wischen, die so freundlich sind, ihnen die Welt zu sortieren und zu erklären, warum man weiter mit allen Mitteln darum kämpfen muss, beim Export den Anschluss an die Chinesen nicht zu verlieren; jene Chinesen, die bei ihren 16-Stunden-Schichten nicht mehr mal Zeit zum Wischen haben. Niemand wischt sich hier ein paar Kilo E-Paper. Wozu auch, es gibt genug anderes, was man damit anfangen kann. Ich bin, wie gesagt, überhaupt kein Freund dieser Gerätschaften, ich denke auch, man sollte nur so oft online sein, wie es nötig ist, aber gewischt wird hier auch vor dem schönsten Sonnenuntergang, mit dem spielenden Hund und eigentlich immer, wenn sich im zersplitterten Tagesablauf etwas Zeit dafür findet. Da kommt gerade der nächste Medienwandel, und ich selbst laboriere, wenn ich nicht gerade mit dem Cabrio zwischen den Wohnorten wechsle, auf Berge steige oder – nein danke, keine Zuppa Inglese, aber vielleicht Panna Cotta, was, aus, na auch egal, die Rechnung bitte – gehe, um den Düsseldorfern Platz zu machen, ich selbst also laboriere noch am Wandel zum normalen Internet. Ich bin noch gar nicht so weit, dass ich den Wischern nachkriechen könnte.
Man darf sich eigentlich nicht beschweren. Wir haben aus dem gemütlichen Kommerzienrat erst den leitenden Manager und dann den erfolgsorientierten CEO gemacht, und aus dem Arbeitnehmer die Humanressource, wir haben sie angetrieben und Druck gemacht, da ist es nur gerecht, wenn wir vom Autor zum Wischerinsmobilnetznachkriecher degradiert werden, wenn überhaupt, siehe Frankfurter Rundschau und Financial Times Deutschland. Das ist fast schon ein Privileg, sich zwischen Hundebildern und Mails an die Haushälterin einsortieren zu dürfen. Sonst wischt das Schicksal in Form eines brilliantengeschmückten Seniorinnenfingers über einen weg. Ganz beiläufig. Sie haben das gelernt, sie werden es nicht mehr vergessen.
Und vielleicht sollte ich das nächste Mal nicht mehr so borniert dreinschauen, wenn neben mir eine Millionärsenkelin steht, deren Grossvater vielleicht noch ganz andere Sachen als Bodenvasen in die Schweiz gebracht hat. Ich mache schon, was ich kann, um nicht überwischt zu werden, aber, seien wir ehrlich, wenn wir am Ende alle weggewischt sind, gibt es sehr viel Schlimmeres, als ein Haus am Leeberg vom kinderlosen Onkel zu erben, dem Ehefrieden zuliebe FDP zu wählen und ab uns zu die Bodenvase vom Opa abzustauben, die man, wie alles andere und besonders das Haus in Italien, in höchsten Ehren hält.