So wie ein gut angewendeter Tag frohen Schlaf bringt, so bringt ein gut verbrachtes Leben heiteren Tod.
Leonardo da Vinci
Besagter da Vinci musste 1484 auch von ein paar weniger heiteren Todesfällen Kenntnis nehmen: In Mailand raffte damals die Pest gut ein Drittel der Bevölkerung dahin, und war obendrein auch noch so unfreundlich, das ohne angemessene Rücksicht auf Vermögen und Stand zu tun. Leonardo entwickelte daraufhin die Vision einer Idealstadt mit zwei Ebenen; unten hätten sich in Gewölben wenig erbauliche Aspekte des Lebens abgespielt, und darüber hätten jene wandeln können, die das alles gar nicht so genau wissen wollen, solange die anderen nur brav unten blieben und sie nicht mit Krankheit und Tod konfrontierten. Leonardo arbeitete damals für die Sforza, die sogar in ihrer nicht zimperlichen Epoche eine fragwürdige Berühmtheit als Schlächter und Giftmörder hatten; da ist eine saubere Idealstadt für die einen mit den negativeren Folgen für die anderen recht normal und akzeptabel, so lange man sich auf der richtigen Ebene aufhält. In einer Demokratie wie der unseren gibt es das nicht. Aber dafür Novembernebel über der arbeitenden Bevölkerung von der Mangfall bis an die Alster.
Und einen Nachsommer rund um den Tegernsee, der es locker mit den Sumpfregenperioden aufnehmen kann, die man in Berlin als „Sommer” bezeichnet. Ich mache das nunmehr seit 5 Novembern mit, und es ist immer das gleiche: Bergtouren, im Strandcafe sitzen, Sonnencreme kaufen und am Abend die Wettervorhersage hören. Es ist November, da sind die Wolken immer besonders tief. Tiefer als der Tegernsee. Und das teilt dieses Land in 82 Millionen, die über graue Depression reden, und ein paar Zehntausend, die sich mit Hautkrebsprävention beschäftigen sollten. Kurz gesagt, die Idealstadt von Leonardo ist im Zeitalter der S-Klasse gar nicht mehr nötig; man lässt die anderen dort, wo sie sind, und kann sich dann eine Etage höher am Berg überhaupt nicht, also wirklich nicht vorstellen, was die anderen immer über den November jammern. Das fällt einem nur wieder auf, wenn man einen Berg besteigt und von dort aus in die Ebene blickt, wo es eine Wolke gibt. Nur eine, aber die ist ziemlich gross.
Das war natürlich nicht immer so. Weiter hinten im Tal steht der Wallberg, einstmals berühmt als Skigebiet: Heute ist eine Abfahrt ins Tal nur noch selten möglich. Unten funkelt das ganze Jahr das Wasser des Sees: Früher war es üblich, dass man im Winter über Eis mit Schlittschuhen von Tegernsee nach Wiessee in die Kirche fuhr, und dort das Angebot an möglichen Partnern betrachtete. Spätestens im November war hier tiefster Winter, das Eis hatte die Berge erobert, die Bauern kauerten in ihren Hütten und die Biedermeierdamen des Hofes ergötzten sich beim Pferdeschlittenfahren. Manche nennen die Veränderung „Erderwärmung”, hier verkürzt sich die Rodelzeit zugunsten einer längeren Badesaison, und die ideale Zeit zum Bergsteigen verschiebt sich eben in diesen wunderbaren November, mit dieser glasklaren Luft, so dass man von der Neureuth aus die Kirchen auf dem Hohen Peissenberg mit blossem Auge sieht, 60 Kilometer entfernt. Das kann sich so ein Mensch unter diesen flauschigen und von oben im Übrigen auch sehr hübschen Wolken überhaupt nicht vorstellen.
Kurz, hier oben ist November keine Drohung mehr, dass einem der Hornung an den Zehen nagt, sondern mehr eine Verheissung von Erdbeermündern, denn solche Bilder, an die Daheimgebliebenen verschickt, mehren natürlich die Heiratschancen der hier Zweitresidierenden, zumal, wenn die Freunde zumeist im Donautal leben, das im November fast so trist wie Sylt im Sommer aussieht. Man kann viel über arrangierte Hochzeiten in der Oberschicht lästern, aber man muss nur einmal an so einem Spätsommertag mit einer kinderwünschenden Frau zum Schlossgymnasium gehen, wo die Kinder an der Uferpromenade mit Blick auf die Blauberge sitzen. Da fällt kein Groschen, sondern gleich ein ganzer Tresor, so idealresidenzstädtisch, wie das daherkommt. So und nicht anders kommt es dann zu den typischen Paaren dieser Region, und ihrem Nachwuchs.
Und vielleicht ist es auch eine Chance, den Ebenen zu entkommen, und den Schrecken, die dort walten. Es sind ja nicht nur die Nebelschwaden, es ist auch die Angst, bis 67 oder 70 arbeiten zu müssen, immer mehr Rente durch einen Generationenvertrag zu zahlen, den ich meines Wissens übrigens gar nicht abgeschlossen habe und, mit Verlaub, da wäre ich ja auch doof, wenn ich das gemacht hätte: Denn wenn ich zur Neureuth gehe, sehe ich auch, wie sich der Klimawandel auswirkt. Bei so einem Wetter ist es doch kein Wunder, wenn die Rentner hier so prächtig gedeihen und zack zack mit Steckerln hinauf und hinab marschieren. Die sind richtig schnell. Und fit. Ich habe hart arbeitende Freunde aus den Niederungen, die nach der Neureuth ein Vollbad und drei Tage zur Regenration brauchten: Die hiesigen Rentner sind bestens trainiert, die können das im November jeden Tag machen, die brauchen unten nur einen Sprizz und ein Telefon, um sich zur Abendgestaltung zu verabreden. Die Klimaerwärmung macht es möglich.
Und so verwandelt sich eine Zeit, die für ältere Menschen eher gefährlich und schauderhaftwar, zu einer Periode erfreulichen Daseins. Was in München durch Arbeit an Abgasen unter die Wolke geblasen ist, erwirtschaftet das gute Leben am See, und mit jedem Grad, mit jeder Sonnenstunde wird es besser und länger. An meiner Terrasse führt ein Heilklimawanderweg vorbei, und woher hier Grippe oder Lungenschaden kommen sollte, wüsste ich auch nicht: Das sind einfach ideale Bedingungen zur Lebensverlängerung weit, weit über die Zeit der Arterhaltung hinaus. Der Rentner hat hier keinerlei natürliche Feinde, nur zu wenig beheizte Tennisplätze. Er vermehrt sich zwar nicht, aber er lässt es sich gut gehen. Und mit jedem Tag, da ihn keine Eisplatte zum Stürzen bringt, und er statt dessen mit seinen Enkeln kraftvoll den Garten mit Seeblick vom Laub befreit, muss jemand anderes dafür unten im Nebel länger arbeiten, mehr Abgase produzieren, es wird noch wärmer und Tennis geht auch noch im Dezember ohne Heizung: Ein Teufelskreislauf, der hier die Tage schöner und unten die Nebelschwaden dicker macht. Das Wort Inversionswetterlage ist längst kein meteorologiescher Begriff mehr, sondern ein sozialer Zustand.
Natürlich renkt sich auch das wieder ein, denn dort unten sind die Folgen von längerer Lebensarbeitszeit, seien wir ehrlich, nichtarbeitslebenszeitverkürzend. Die Entwicklung am See – längeres Leben im sonnigen November – wird aufgefangen durch überalterte Arbeitnehmer, die im Nebel von jüngeren Vorgesetzten um den letzten Nerv schikaniert werden. Natürlich sind die Strassen an den See auf Kosten der Allgemeinheit schön glatt und die Parkplätze sicher, aber dazu müsste man erst mal hierher kommen. In der Renaissance hätte man einfach die wenigen Aufgänge verrammelt, aber so eine Klimakatastrophe passiert wie auch die Rentensatzanpassung ganz, ganz langsam, mit dem gleichen Effekt.
Ich habe mir da oben mit Blick auf den Nebel, und nach einem längeren Gespräch mit einer sagenhaft sportlichen 81-Jährigen lag überlegt, was ich Tröstliches zum Ende sagen kann. Vielleicht: Die Region ist klein. Hier leben nur ein paar Zehntausend Menschen besser, und weil es schon voll ist, werden es auch nicht mehr. Unser Leben in der Sonne mag länger dauern, aber unsere Zahl ist endlich. Ausserdem ist auch unser Dasein nicht ohne Grenzen: Die Arbeit in den Gärten, das Aufhängen der Gemälde auf brüchigen Rokokostühlen und die zu anstrengende Bergtour, das alles kann böse enden und das Lebensalter kürzen. Man kann also recht gut und genau berechnen, wie teuer das alles wird. Wir liefern nur schöne Bilder und keine versteckten Zusatzkosten.
Und wenn Sie das für zu wenig halten, schauen Sie sich Frau Merkel und Herrn Schäuble und die Beihilfen für Griechenland und die Banken an.