Darüber spricht man nicht
ist das Motto dieses Blogs seit nunmehr fast vier Jahren, und ich kann mich mit etwas Mühe durchaus an einige Ereignisse erinnern, die ich hier nicht bis zum Letzten ausgeschlachtet, vertratscht und gegen gute Bezahlung verhökert habe. Wie es nun mal so ist, ist eine gute Pointe mehr wert als ein guter Freund, zumal, wenn sie finanziell vergoldet wird, und dass man hier so beredt schweigen kann über das, worüber man nicht spricht, hat natürlich auch ein wenig mit meiner Sonderstellung zu tun: Schreiben könnten das bei uns viele, aber sie haben andere, gut dotierte Berufe, und andere, die darüber rein handwerklich schreiben könnten, haben nicht ganz eine im eigenen Fett gekochte Biographie, zumal aus jener Ecke in Deutschland, die leben wird, wenn andere längst untergehen und wie Bochum oder diese Reeperbahn da in Blankenese aussehen. Ich muss in diese halkyonischen Gefilde nicht fahren und ein Zimmer mieten und recherchieren, die Themen fallen mir einfach so zwischen Konzert und Konditor zu. Trotzdem bleibt natürlich eine Befürchtung.
Nämlich das, was andere Presseerzeugnisse schon mit Favelas wie Los Angeles oder Verbrechenshochburgen wie Miami tun: Menschen an die Oberfläche solcher Regionen schicken, wo sie dann in Bars sitzen, darauf warten, dass eine bekannte Persönlichkeit mit einem Schuss Heroin in der Toilette gefunden wird, und solange das zu einem Beitrag zusammenfassen, was sie im Internet so an Gerüchten finden. Was bleibt einem auch anderes übrig, wenn man wie Presse aussieht, niemandem vorgestellt wird und als Ausgeschlossener diese ganzen Illusionen über die real existierende Klassengesellschaft mit sich herumträgt. Wer nicht auf Safari gehen kann, geht halt in den Zoo und die Affen halten sich natürlich an die Anweisung, diese Tiere nicht zu füttern. Und bei so einem gesellschaftlichen Zoobesuch in meiner Heimat könnte ein Unkundiger natürlich sagen: „Nein! Was diese Stützen da in der FAZ erzählen, stimmt gar nicht! Ich, ja ich war letzte Woche auf Spesenrechnung für die Firma und auf Einladung durch das Etablissement und auf Steuererstattung für das Finanzamt im berühmten Hotel Kraxenhuber am überfahrenen Malerwinkel und das stimmt alles gar nicht! Da sind lauter nette, gesittete Menschen, die sich blendend zu benehmen wissen und den 76er Bordeaux…”
Vier Jahre Angst, dass so etwas passiert. Vier Jahre Befürchtungen, meine Klassengenossen könnten auf die dumme Idee verfallen, in so einem Rahmen plötzlich so tun, wie sie gar nicht sind. Dass sie schäumende Anflüge von Molekularküche über Tomatenmark in kleinen Glaswürfeln zu schätzen vorgeben und dann darüber reden, wie Simone Kermes heute der Netrebko – die im Übrigen wirklich etwas, also, ganz ehrlich, nachgelassen hat – Lektionen in der Aufführungspraxis gibt, man denke nur an die Schwingungen originaler Celli. Und dass sie über das Essen sprechen, wie es ihnen jene vorgeben, die als Gastronomiekritiker die Luftherrschaft über den besser gedeckten Tischen der Reichen haben wollen: „Also, letztes Jahr, da waren wir in Monaco und da beliebte der Wassersommelier zu betonen…” Das ist nämlich so, also faktisch, das gibt es in Monaco wirklich. Einen Sommelier nur für das Wasser. Und da ist dann die Angst, sie könnten wirklich versuchen, dem Bild entsprechen, das Luxusbeilagen gern zeichnen. Wenigstens zum grossen Fest mit den vielen Gängen.
Gut, zugegeben, in solchen Ausnahmesituationen glitzert manche Dame teuer, sogar Kinder tragen rote Fliegen, viele haben Anstand und Benehmen. Als Mann kann man wenig falsch machen, man trägt, vom mittlebenskriselnden Lederjackenfehlgreifer abgesehen, einen schwarzen Anzug und eine Krawatte, eine Weste und vielleicht auch noch eine Taschenuhr. Frauen aber haben in solchen Momenten mehr Auswahl und auch die Gelegenheit, mit dem Christbaum zu konkurrieren, und das tun sie. Das schwere Brokatkostüm mit gestickten Engerln an jener Schauspielerin – gewagt und gewonnen. Seidentücher mit Tigern – mutig, aber vergebens. Kropfbänder in ihrer ursprünglichen Funktion – ja, der Jodmangel in Bayern und seine Folgen. Immerhin, Diadem ward keines gesehen, nur ein paar Eiswürfel, genug Perlen für ein mittleres Riff im Pazifik, manchmal Seide und manchmal Pailetten, als hätte man einen Vorhang im Frankfurter Bahnhofsviertel verarbeitet, und eine alte Dame in Rot; da wäre ich gern aufgestanden, herumgegangen und hätte einigen anderen Damen gesagt:: Schauen Sie. Die Dame ist mindestens 85 und es sieht dennoch umwerfend aus.
Aber das hätte nur gestört, denn die Kinder der Schauspielerin probierten ihr Spielzeug durch, die lokal-bayerische Prominenz schickte die Weinkarte weg und bestellte Bier, die beiden dicken Herren dagegen liessen, nachdem sich ihre Frauen für die Telefonate mit den Verwandten zurückgezogen hatten, ein paar Gläser zu viel bringen und wurden lustig, und der Industriellenclan aus Düsseldorf sorgte über der Frage des Deutschseins für einen typischen Familienkrach in meinem Rücken, dass ich mich gar nicht so gut auf die Qualität des Trüffels konzentrieren konnte. Mein lieber Schwan, da haben sie aber Glück gehabt, dass die Notare auch zwei Tage lang geschlossen haben, sonst hätte der ein oder andere Passus im Testament anders aussehen können. Kurz, es war wie bei den Kesselflickern, ich habe mich blendend amüsiert, und man sprach mehr so über Immobilien als über Opernbesuche. Alles zu seiner Zeit. Hier nun war Weihnachten. Ah, die Gans. Gottseidank kein Experimentessen aus dem Physikunterricht mehr, ging es in manchem vor.
Und am Tag darauf ist der F. auf der anderen Seite des Sees wieder offen, wo dann wieder alle sind, die von hier sind: Schliesslich wollen die angereisten Enkelkinder doch sicher Nudeln, oder? Wagt es ja nicht, nach ein wenig Schaum auf grossen Tellern zu verlangen! Nur die Touristen gönnen sich dann etwas Exquisites mit Stern, von dem sie irgendwo gelesen haben, und schauen sich um, wer wohl die anderen sein mögen: Vermutlich auch Leute, die das irgendwo gelesen haben. Oder vielleicht noch schnell das Spesenkonto vor dem Jahresende leer essen müssen.Oder manche, für die das wirklich wichtig ist, und die auch etwas davon verstehen, oder sich gern belehren lassen. Als „Geschmack-Manager” will der Sommelier heute gesehen werden, las ich bei der Recherche zu diesem Beitrag, und ich denke, das Letzte, was man hier am Tegernsee in seiner Freizeit haben will, ist noch ein mittlerer, devoter Manager, der an einen berichtet, was nun zu tun ist. Es geht doch nur um das Essen, nicht um die nächste Performance.
Und irgendwie ging das auch zu Zeiten, als dieses Land kulinarisch für die Franzosen so angenehm wie für mich die englische Küche war. Auch damals musste man auf freier Wildbahn der gutbürgerlichen Küche nicht verhungern, auch damals gab es gute Restaurants, nur ohne Stern, aber dafür mit Ruf, auch damals trank man Wein, und an den fetten Sossen – Saucieren gab es, Saucen aber noch nicht – ist auch keiner gestorben, nur die Teller, die waren nicht so leer. Trotzdem gab es auch damals eine Oberschicht, es gab sie um die Jahrhundertwende, als die Familie ein kalorienstrotzendes Kochbuch mit Eierexzessen, Griebenschmalz und Karpfenfett führte, es gab sie zu Zeiten der Stillleben und des Rokoko. Wir sind Dekaden und Epochen auf dieser Gesellschaft wie das Fettauge auf der Suppe geschwommen und haben nie dem Wirt etwas geschenkt, und zu keiner Zeit oblag es einem Geschmack-Manager uns zu sagen, wie und mit welchem Wein wir nun das Bröckerl auf dem Teller owischwom sollen. Das funktioniert – das ist die erfreuliche Erkenntnis des Abends – noch nicht mal in den ersten Häusern bei den grossen Festen. Tags darauf wirft man die üppigen Käsevorräte des Clans zusammen und tarnt sie heimtückisch mit einer Lasagneabdeckung.
Und natürlich haben wir nicht den erborgten Luxus der Restaurants, sondern schönere Tischtücher, und zwar geerbt und nicht gekauft, und richtiges Silber mit Monogrammen längst vergangener Generationen ganz anderer Seitenstämme, und altes Porzellan, heute Wedgwood vom Trödel und morgen Imarikopien aus Limoges, die Stühle sind aus Nussbaum und keine Stilmöbel, und für neue Halogenspots sind wir zu arm, wir haben nur silberne Kerzenhalter, Bienenwachskerzen vom Wochenmarkt und das komische Gefühl, dass es halt so ist, wie es ist, und schon immer so war. Aber so geht es nun mal zu, das ist die Realität und alles andere die glatte Konstruktion von Geschmack-Managern, furchtbar wenig Geschichte auf gigantischen Bedeutungstellern, umfeldangenehme publizistische Bescheidwisser, die auf Papier drucken, was wir etepetete lesen, denken, kaufen, tragen, besuchen und essen sollen. Darüber spricht man nämlich. Angeblich.
Nun, nicht wirklich, ich erzähle lieber haarklein, wie der Düsseldorfer Stammhalter und die Erbtante, also, die sind richtig zusammengerückt, da hat nicht viel gefehlt und man hätte sich am Schlafittchen… und die Tigerlilly, also der ihr minderbehaarter Mann, oder was sag ich, der Walküre ihr Deoroller, der hätte ihr ja eigentlich auch mal die raubtierbedruckte Weiawoge entwallen können… da ham’Se dann auch Ihre Operngespräche… aber darüber spricht man natürlich nicht im Zoo der Öffentlichkeit.
Zumindest nicht jetzt, wenn man daraus noch eine weitere Geschichte machen kann.