Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Geschichte von der Moral

Von der Vollbeschäftigung zum Kaputtarbeiten ist es nur ein kleiner Schritt: Die Erfolgsgeschichte und der Profit sind dem Kapitalismus wichtiger, als Moral und ein Leben in Anstand und Würde.

Gerechtigkeit bewegte meinen Bauherrn
Dante, Inferno

Die moralischen Betrachtungen zu Gut und Böse gehen in meiner Familie vergleichsweise weit zurück, denn zu Vermögen kommt man nicht immer durch Freundlichkeit, und vor 300 Jahren hatten wir sogar mal jemanden in der Familie, der heute sicher FDP wählen würde: Ein Privatunternehmer im Steuer- und Abgabengeschäft, der nur einen festen Betrag beim Fürsten abliefern musste, und den erwirtschafteten, flexiblen Rest der Eintreiberei behalten durfte. Das war lukrativ, aber auch nicht sonderlich moralisch, weshalb spätere Generationen erfolgreich eher den Status der menschenfreundlichen Rentiers und Hausbesitzer anstrebten – über die erzählt man sich dann auch nur Gutes.

Also, fast nur Gutes, zumindest in dem Rahmen, über den ich hier öffentlich sprechen möchte. Sie gingen manchen Beschäftigungen nach, waren allseits anerkannt, nur selten gierig und zufrieden mit sich und der Welt. Wenn sie einen richtigen Beruf hatten, erfüllten sie ihn mit Anstand und Standesbewusstsein und so, erzählt es die Familiengeschichte, kommt man gut und anständig durch das Leben. Das ist vorbei: Ich schreibe das in so einem Rentiershaus auf dem Sofa, ich komme gerade aus Gardone Riviera und fahre gleich wieder zurück zu Mille Miglia, arbeite jetzt effektiv zwei Stunden und der Rest meiner Zeit ist angefüllt mit dem Betrachten und Begleiten stinkender, alter Blechhaufen durch Italien. Das sind so die Lebensläufe, die es auch in anderen Familien früher gab, und die laut Berichten selten bestens ausgingen, es sei denn, es kam eine Frau und hätte den eingefangen und ihm dann Mores beigebracht: Aber auch das wird nicht geschehen.

Es geschieht nicht, weil sich die moralischen Geschichten geändert haben. Sehen Sie, wenn ich länger am Stück im Ausland bin, führt mich mein erster Weg daheim entweder auf den Wochenmarkt oder zur Bäckerei, und dort höre ich dann die Neuigkeiten, die in dieser immer noh pittoresken Stadt so passiert sind. Darf ich das brühwarm weiterreichen? Familienunternehmer der dritten Generation, feiner Mann, hoch angesehen, noch keine 50 Jahre alt, immer nur gearbeitet und das Geschäft ausgebaut und am Tag vor einer Bauchoperation noch schwer gearbeitet: Unter das Messer gekommen, üble Komplikationen, schwere Eingriffe, daran verstorben. Da weiss man nicht mehr, was man sagen soll. Manager eines Grosskonzerns, Ehe zerbrochen, Zwangsverkauf des Hauses. Es geht nicht anders, wegen der Schulden. Und dann ist da noch der Leistungsträger, mit zu viel Projektarbeit, die sinnlos war, weil sich die Pläne änderten, mit der Folge eines Hörsturzes, und der Arzt meint, dass das gut so ist: Noch ein paar Wochen mehr davon, und es wäre nicht so glimpflich ausgegangen. Das sind alles feine, ehrliche, arbeitsame und hingebungsvolle Menschen, und jetzt? Tot, schwer schuldenbelastet, 3 Monate krankgeschrieben und die Firma würde ihn gern loswerden.

Das ist bitter. Das nimmt man durchaus mit nach Italien. Ich würde nichts sagen, wenn das nur einmal so wäre, aber immer nach den Frühlingsaufenthalten in Italien ist einer tot, einer ruiniert und einer in der Reha. Es gibt Varianten, und in den Zeiten der New Economy war das auch schon schlimmer, aber da ist doch so etwas wie ein grundsätzliches Problem mit der Anwendung alter Moral in unseren Tagen sichtbar: Sie lohnt sich nicht mehr, sie macht keine schönen, glücklichen Geschichten, sie ist auch nicht sonderlich gerecht. Meines Erachtens ist das so, weil die Umstände ebenfalls nicht mehr kontrollierbar sind. Bei mir und meiner fragwürdigen Lebenseinstellung ist das natürlich etwas anderes, ich lebe, wenn man so will, wie meine Vorfahren mit festen Riten und beständigen Laufbahnen. Das Haus hier stand schon vor 400 Jahren und wird in 400 Jahren noch stehen, ich bin hier geboren und möchte hier auch wieder aus der Welt gehen, ich interessiere mich nicht für Karriere, weil wir gelernt haben, dass der Mensch einen Platz zum Wohnen braucht und uns dafür zu zahlen bereit ist. Das Modell ist einfach und überschaubar, und sollte etwas Unvorhersehbares kommen, wird man eben sagen: Naja, aber er hatte ein gutes Leben. Was sagt man zu einem, der einen Tag vor dem Operationsdebakel noch 12 Stunden in der Firma war? „Theoretisch war die Moral auf seiner Seite, aber praktisch…“

Praktisch lese ich von Einweisungen wirklich toller, junger Menschen in Kliniken, weil sie in jungen Jahren dem Stress der vielen Anforderungen nicht mehr Herr werden. Praktisch sehe ich, wie manche in einem Monat das wegarbeiten, was andere in zwei Monaten tun, und dann den Urlaub zur Krankheit nutzen. Praktisch sehe ich jede Menge Anreize, so einer Tätigkeit nachzugehen, ein PR-Unternehmen etwa möchte mich für viel Schmerzensgeld nach Wales schicken, nur wäre dann kein Platz mehr in meinem Dasein, den Gewinn auszuleben. Fahren Sie nach Salo’, schauen Sie sich dort die Luxusyachten an, die dort Woche für Woche einsam im Wasser schaukeln: Das ist teuer. Das muss jemand verdienen. Da wird hart gearbeitet, damit das Boot in den Wellen schaukeln kann, so einsam und verlassen. Praktisch ist das Leben nicht moralischer, sondern unsicher geworden, es gibt keine Garantien und Sozialsysteme mehr, durch die man sich auf einen Minimalkonsens verlassen könnte. Über die goldene Uhr für 40 Jahre Betriebszugehörigkeit sollte man nicht lachen, wenn man schon für 20 Jahre einen Burnout und eine Freistellung bekommt.

Es liegt mir fern, hier deshalb zu Mitleid aufzurufen; instabile Systeme zwischen Krise und Aufstieg, zwischen Druck und Erfolg haben natürlich auch die Neigung, sich den Menschen nach ihren Vorstellungen zu erschaffen, so wie die Konditoren in meiner Familie auch alle rund und zuckerlastig waren. Momente der Niedergeschlagenheit und der vergeblichen Sinnsuche garantieren überhaupt nicht, dass man diesen Typus bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit, beim kleinsten Vorteil oder einfach nur aus der Lust am Mobben an der Gurgel hat.Es gibt keinen Grund, warum in einem System jenseits aller Zuverlässigkeit und Regeln jemand anfangen sollte, sich selbst mit nicht sinnvollen Moralvorstellungen zu belasten. Man kann die strauchelnden Leute auf dem Weg zu einem diffusen, kaum mehr erklärbaren „Oben“ der Gesellschaft als Warnung begreifen, oder aber auch als Chance, weil wieder ein Platz, eine Stufe auf der Treppe frei wird. Ich lese in letzter Zeit von Vollbeschäftigung, die uns ereilen wird, weil sich Deutschland an der Krise anderer europäischer Länder gut zu nähren versteht: Ich fahre als Halbbeschäftiger nach Italien.

Es macht da eine nette Illusion die Runde – gerade in Bezug auf eine Stadt wie die, aus der ich hier erzähle, die schon seit Jahren Vollbeschäftigung erreicht hat und deren Bewohner, wenn sie nicht gerade solche Schicksale erleiden, blendend verdienen – dass die Zukunft angesichts der Demographie eine Goldene sein wird, weil die vielen Alten in Rente gehen und für die wenigen Jungen dann in Vollbeschäftigung kommen. Vielleicht stimmt das sogar, denn diese Renten wird ein armes Schwein einer erarbeiten müssen, und es steht zu befürchten, dass es jene Jüngeren sind, die die Gerechtigkeit der Moral schon heute nur noch aus Erzählungen kennen: Es wird jede Menge Arbeit geben, Pflegedienste, Alzheimerbetreuung, Seniorenunterhaltung auf Kreuzfahrtschiffen, ein ganzer Generationenvertrag und Finanzierung der Propaganda, die sagt, dass es einem hier doch gut geht, wenn man so viel zu arbeiten hat, woanders sind 40, 50 Prozent der jungen Leute arbeitslos, und wenn einer aufmuckt, dann holt man sie eben hierher, oder verlagert die Arbeit ins Ausland. Das sind eben so die Unwägbarkeiten des Lebens: Die einen bekommen mehr Arbeit, als sie sich wünschen, und den anderen geht der Scheibenwischer am Sportwagen kaputt, weshalb sie die Mille Miglia mit einem Citroen Berlingo Diesel besuchen müssen. Nein, gerecht ist das alles nicht.

HINWEIS:

Und während draussen auch noch wirklich fieser Regen über der Poebene die Rennstrecke der Mille Miglia in eine Rutschpartie verwandelt (jaja, an einem schönen Maientag), möchte ich sagen, dass jene glücklich zu schätzen sind, die ihre Kommentare und Bemerkungen auch gern im speziellen, gut adminsitrierbaren Kommentarblog hinterlassen.