Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Rentner schauen Arbeit an

Die lieben, respektierten alten Machthaber schauen gerne beim Arbeiten zu. Und wir anderen dürfen deshalb später mit dem Ofenrohr ins Gebirge schauen, sofern wir nicht das Pech haben, Flaschen sammeln zu müssen.

Quidquid agis prudenter agas et respice finem.

Jede Epoche hat ihre eigenen Horrorvorstellungen: Bei Don Giovanni ist es der Komtur, beim deutschen Innenpolitiker seine NSA- und Stasiakte, und mein Grossvater etwa liebte es, Weinberln am Fenster zu pflücken und dann mit einem Blasrohr auf alte Frauen zu schiessen, wobei er selbst auch nicht mehr jung war. Aber es gab eine Ausnahme: Vorne an der Strasse, wo jetzt das schicke Cafe ist, war die alten Leichenhalle der Stadt, und die Leichenwäscherin – Seelfrau sagt man in Bayern – kam jeden Abend auf dem Weg nach Hause hier vorbei. Die konnte mein Grossvater gar nicht ertragen, und schaudernd ergriff er, der sonst kaltblütig alles und jeden beschoss, die Flucht.

So ähnlich sind die Reaktionen im fernen Berlin, wenn die Flaschensammler am Abend zwischen den heiteren Runden auf der Suche nach frischem Altglas auftauchen. Das ist nicht nur wegen der grassierenden Altersarmut ein Stimmungskiller, sondern auch und vor allem, so berichtet man mir, dem Umstand geschuldet, dass die Nachtschwärmer hier ihre eigene, ferne Zukunft erahnen. Irgendwo zwischen dem Ausleuchten der Mülltonnen, dem Kriechen in Buschruinen und der Verfolgung durch die Sozialämter, bei denen die Gewinne aus dieser Tätigkeit eigentlich anzugeben sind, damit sie die Bezüge der nicht mehr ganz so Notleidenden entsprechend kürzen können, sehen sie auch ihre eigene Altersperspektive. Und fragen sich vielleicht, wie man dem entgehen könnte. Vielleicht mit einer Zusatzversicherung, die sie aber kaum bedienen könnten, oder der Immobilie, die ihre Eltern vor drei Jahren vielleicht noch hätten zahlen können. Fast möchte ich wetten, dass der Griff zur Wodkaflasche schneller kommt, wenn der Flaschensammler kommt.

Weil es dort so viel Wodka gibt, und auch kein Mensch erwarte würde, dass man aus Anstand auf das öffentliche Trinken aus der Flasche verzichten würde, kann man sich nicht nur wie ein Asozialer benehmen, sondern auch alkoholumdünstet glauben, dass 45 Jahre ohne jemals geleistete echte Arbeit kein Problem sind, irgendein Gebührenprofiteur von ZDF Neo einem schon mal einen Auftrag geben wird, und irgendein Kühlschrank eines Freundes wird schon voll sein: Kurz, es ist noch viele Flaschen lang hin bis zum Rentenbescheid plus Sozialamt, und wenn man den Mann mit den klirrenden Tüten erst mal weggetrunken hat, kann man auch wieder mit proletarischem Stolze sagen, dass Berlin mehr Geld braucht, Armut nach Revolution schreit und Solidarität und bedingungsloses Grundeinkommen sein muss. Damit es ein Ende hat mit der Bevorzugung der Bayern, die selbst schuld sind, wenn sie in so einer uncoolen Region so viel arbeiten.

In der mit Abstand uncoolsten Ecke jedoch lebe ich, und niemand könnte hier vom Flaschensammeln leben: Erstens gibt es hier keinen bezahlbaren Wohnraum und zweitens lässt hier auch niemand die Flaschen herumliegen und falls es drittens doch einmal passiert, kommt jeden Morgen die Reinigung und macht alles sauber. Trotzdem weiss ich natürlich, dass das Alter für viele sehr unerfreulich wird. Ich kann den Zynismus in Bezug auf die Altersvorsorge und Rente durchaus verstehen, und wenn ich ganz ehrlich bin, sehe ich die Sache nicht weniger pessimistisch. Nicht, weil hier Flaschensammler sind. Hier ist das Gegenteil. Hier sitzen vermögende Rentner am Ufer in Tegernsee und schauen zu, wie Menschen arbeiten. So richtig. Sie bauen einen Steg, damit die Rentner in Zukunft weiter am Wasser spazieren können, und bezahlen mit ihrer Arbeit auch gleich noch die Rente, die es ihnen finanziell ermöglicht, so ihre Tage zu verbringen.

Es gibt wirklich viele davon. Ich sitze im Cafe am See, und sie schippern mit ihren Segelbooten vorbei, ich bin am Ufer, und ich höre ihre Wägen röhren und Erzählungen von der speziellen Kur in Südfrankreich, die man ihnen bewilligt hat, ich sehe die Juweliere, die Torten und die Fettabsauger, die dafür sorgen, dass die Ketten trotz Torten wieder an die Hälse passen, und das alles muss bezahlt werden. Ich bin einer der wenigen Menschen, die hier zwischen Bergtouren und Auszeit gegenüber der Alm noch wirklich arbeiten. Wir sind so wenige. Und das sind so viele. Da ahnt, da befüchtet man, wo die Altersvorsorge hingeht. Nicht dorthin jedenfalls, wo man sich noch irgendwelche Gedanken über meine Rente machen würde.

So wirst Du einst sein, sagt der Flaschenmann dem Berliner. So wirst Du nie sein, sagt mir die fettabgesaugte Ministerialdirektorenfrau, und zwar nicht, weil Du es wegen der Bergsteigerei nicht nötig haben wirst, sondern weil ich es jetzt nötig habe und dann später nichts mehr da ist. Und hier kann man sich nun fragen, was schlimmer ist: Das Wissen, dass man in viel zu naher Zukunft wird hungern und darben müssen. Oder das Wissen, dass es einmal anders war und jede Chance, dass es so bleiben würde, hier und jetzt verkonsumiert wird. Es wird immer so sein, sagt der Berliner. Es war nicht immer so, werde ich später einmal sagen. Es wird schlaue Forscher geben, die errechnen, um wie viele Jahre das Flaschensammeln in Not das Leben der Armen kürzt, und wieviel das dem Staat an kümmerlicher Rente spart. Aber niemand wird vermutlich nachrechnen, wie viele Tegernseerentner damit all die Jahre und Jahrzehnte jammern können, dass es mit dem Golfen nicht mehr so geht, wenn sie jetzt nicht bald neue Carbonschläger bekommen. An der Stelle jedoch wird es dann wieder Forscher geben, die erklären, wie gesund das für diese Senioren ist, und es sie fit hält.

Nun ist es bei uns freilich so, dass man noch nie allein auf die Rente angewiesen gewesen ist, es gab seit der Erfindung dieses jetzt zusammenbrechenden Schneeballsystems immer auch noch zusätzliche Sicherheiten für das Alter und das Glaserl Sekt am Morgen. Zum Staat gehen war früher ohnehin verpönt, und dass er einen, wenn er kann, wie eine Gans ausnimmt, wissen wir seit Jahrhunderten. Es ist daher das Bestreben, zur Not so viel zu haben, dass es auch ganz ohne Rente geht, und einen keiner aus den Häusern vertreiben kann, weil sie einem selbst gehören. Trotzdem können wir nicht umhin, an diesem System teilzunehmen, und manchmal, wenn die Rentner am See sitzen und hinüber zur Spielbank schauen, frage ich mich schon, ob die gesetzlich garantierte Verlustrate da drüben nicht besser ist als jene, die andere nach einem Leben der schlecht bezahlten Arbeit zum Flaschensammeln schickt. Zum Glück merkt man das woanders, wo die Menschen viel und hart an ihrem Aufstieg arbeiten, nicht so deutlich, denn diese Rentner sind hier: Sonst würden die Arbeiter vielleicht auch Zweifel haben, ob all die blumigen Versprechen vom sorglosen Alter, für das sie sich so anstrengen, nicht übertrieben sind.

Dieses sorglose Alter ist hier und jetzt. Bei uns wird man, da muss man sich keine Illusionen machen, das Renteneintrittsalter in Richtung 70 Jahre öffnen, und weil man vom Markt trotzdem spätestens mit 62 aussortiert wird, läuft das dann auf eine praktische Rentenkürzung bei theoretisch weiterhin gut klingenden Versprechungen hinaus. Anders, wird man uns sagen, ist das alles nicht mehr finanzierbar. Es stimmt, denn nachher werde ich gleich an einem ganz normalen Werktag Mittag gegen diese Rentner um einen Platz in meinem beliebten Biergarten kämpfen müssen, und am Ende, ganz zum Schluss, bekomme ich dafür eine Rechnung, die ich weder bezahlen noch prellen kann.

Ja, die Jugend, sie ist ein wenig zynisch, wenn es um die Rente geht. Aus guten Gründen in Berlin und allerbesten Gründen hier am Tegernsee.

Hinweis:

Neben dem porösen System hier gibt es auch ein zweites System, in dem die Kommentare für diesen Beitrag nicht so lahm wie am Krückstock daherkommen.