Sunt qui
Für einen Moment bin ich wieder 14 und am Kochelsee. Ich sitze in der Klostergaststätte an einem weissen Tischtuch, und neben mir ist die sichtlich erschütterte Frau P.. Denn einen Tisch weiter hat sich ein Paar diesen Tisch erlaufen. Zu jener Zeit, es ist Anfangs der 80er Jahre, bewegt man sich nicht hektisch durch Restaurants, man geht, sofern einem kein Platz zugewiesen wird, und nimmt an einem gedeckten Tisch Platz. Aber es ist Sonntag, die Gaststätte, die damals einen phänomenalen Ruf weit über das Blaue Land hinaus hat, ist recht voll. Und deshalb haben sich Leute an einen noch mit den Essensresten der Vorgänger übersäten Tisch gesetzt, noch bevor der gerade aufgestandene Herr der Dame in den Mantel helfen konnte. So war das damals mit dem wohlwollenden Sexismus, der damals noch als Höflichkeit galt, und mit dem Anstand, denn die Frau P. sagte so laut, dass man es hören konnte und am nächsten Tisch erahnen konnte: Was sind das nur für Leute, die sich an nicht gedeckte Tische setzen?
Sozialer Druck war damals keine Seltenheit.
Ich bin wieder 14 und am Kochelsee, weil ich hier in Teneriffa an sie denken muss und froh bin, dass sie mich jetzt nicht sieht. Mein Ideal ist auch eher altertümlich, so wie letztes Jahr auf Sizilien, als eine übergrosse Terrasse am Meer zum Schlendern bei der Suche nach dem besten Blick auf das Wasser und das Schloss und zum Begrüssen der anderen Gäste einlud. Oder wie in Gardone Riviera, wo zwischen Villa und weitläufigem Park genug Raum für jeden war – nur die Hauskatze, die musste man sich theoretisch teilen, aber praktisch war sie dann doch meistens bei mir. Da sass man stundenlang, hörte Schweizern und Menschen aus Giessen zu (das ist da irgendwo im Norden und sie fahren 7er-BMWs), unten rauschte der See, und die Frühstücksgeräusche wurden gnädig von der akustischen Vielfalt der Parkanlagen verdeckt. Das ist mein Ideal, so ertrage ich es, aus meiner selbstbestimmten und gewohnten Lebenswelt herausgerissen und unter Menschen geworfen zu werden, so kann ich mich benehmen, als wäre ich daheim – aber jetzt, in diesem Moment, benehme ich mich schlecht. Denn ich erlaufe, ergeiere, erobere einen Tisch, der gerade erst frisch gedeckt wird. Und fühle mich dabei vermutlich so im Unrecht wie Alice Schwarzer vor der Selbstanzeige. Oder wie Pofalla beim Wechsel von einem gut bezahlten Posten zum anderen.
Allein schon der Vorgang an sich… sehen Sie, momentan gibt es ja die Rentendebatte und darüber mache ich mir auch so meine Gedanken. Denn ich bin in einem Hotel in Teneriffa, das sich junge Menschen erkennbar nicht leisten. Oder für den Preis einer Woche lieber ein Monat in der Türkei oder zwei Monate auf dem Sinai oder ein Jahr bei Döneressen in Berlin sind – ich weiss es nicht, aber wie auch immer: Hier bin ich einer der Jüngsten. Und ausser mir wird hier kaum jemand die Zumutung empfinden, nach dem Urlaub wieder beruflich etwas zu machen; vielmehr werden sie bald wieder das Flugzeug besteigen. Der Tegernsee ist der reinste Jungbrunnen gegen dieses erstklassige Hotel direkt über dem Meer und leicht abseits vom Trubel von Puerto de la Cruz. Und deshalb ist dieses Rennen, in dem ich bin, auch ein wenig ungleich: Gefühlt 70 Jahre liegen zwischen meinen flinken Beinen und den ersatzteilgeschwächten Bewegungsapparaten derer, die sich keuchend auf dem Weg zum Fensterplatz befinden. Aufrecht schreiten sieht besser aus als hektisch humpeln, aber es ändert nichts am Umstand, dass es nur einen geben kann, und nach einer Woche Teneriffa halte ich die Jugend (also mich) für ein Objekt des Artenschutzes und “der Anfeindungen”, denen ich ausgesetzt bin, so sagt frau das heute. und gewinne um mehrere Längen Vorsprung.
Aber eben um den Preis, dass der Tisch noch nicht fertig gedeckt ist.
Damit es nicht gar so peinlich wirkt, wenn ich also an einem ungedeckten Tisch sitze und zuschauen muss, wie Geschirr und verbröselte Tischdecke entfernt werden, mache ich mir so meine Gedanken: Der Faschismus der Francodiktatur dauerte hier recht lang, und vielleicht hat das auch die Hotels beeinflusst. Das alles hier ist sehr uniform, eine neu geplante Tourismusmaschine, die nichts mit den umgeformten Villen und Schlossbauten zu tun hat, in denen ich zuletzt weilte. Die Essenszeiten sind zwar luxuriös lang, aber gleichzeitig auch unmenschlich früh, und der Schichtbetrieb der Nahrungsaufnahme ist mehr rational denn luxuriös. Niemand wirft einen nach einer Stunde hinaus, aber das stete Kommen und Gehen lässt erst gar nicht die vertraute Stimmung entstehen, die kleinere Häuser auszeichnet.
Und rein rechnerisch geht es hier auch wie in jeder Klassengesellschaft zu: 1/10 der Plätze sind direkt am Fenster und am Meer. 9/10 sind es nicht. Nach einer Woche würde man im kleinen Haus jeden (mitsamt Krankheitsgeschichte und heiratsfähigen Kindern) kennen, und sagen: Oh, Herr Dr. Soundso, guten Morgen, bitte, nach Ihnen. Hier ist es gesteckt voll mit ähnlichen Respektspersonen, aber man kennt sich nicht, man hat sich nie gegrüsst, und deshalb schwindet auch die Scham beim Rennen um die besten Plätze. Und, weil die anderen einen auch nicht kennen, nimmt man auch Unzumutbares für den Sieg in Kauf: Eben einen noch ungedeckten, gerade frei gewordenen Tisch. Und sehr ungleiche Rennen. Wobei ich nach einer Woche Praxis auch sagen muss: Briten sind selbst im hohen Alter oft noch schnell und durchsetzungsfreudig, und rammen sich ihren Weg durch unbeteiligte Dritte frei, als wäre das hier der Irak oder die Schwarzer in der PorNo-Debatte. Während mir dann in der letzten Konsequenz die volle Dreistigkeit, die den Deutschen sehr wohl in der Person von Alice Schwarzer zueigen zu sein scheint, doch abgeht. Ich bin dann auch ein guter Verlierer, achte schon vorher auf alternative Plätze und betone dann deren Qualität, als wären sie mein eigentliches Ziel gewesen. So wahren wir dann alle das Gesicht, auch wenn wir alle den guten Ton verloren haben.
Es gilt, hier zwei Lehren zu ziehen.
Erstens: Moral und Anstand gelten nichts mehr, wenn wir dem Wettbewerb des Kapitalismus ausgesetzt werden. Das ist zwar eine nicht ganz neue Erkenntnis von den Kohlegruben in Wales über die Bäckergesellenverschläge in Bayern bis zu den zynischen Finanzprodukten unserer Banken und Stuttgart21. Aber die Kinder schufteten unter Tage, die Gesellen husteten im Hinterhaus und was Waffen, todsichere, kapitalgedeckte Renten, Kreditderivate und schwäbische Mittelständler der Baubranche anrichten, an denen man meist irgendwie beteiligt ist, erkennt man in der Oper auch nicht. Da verbeugt man sich leicht, steht für den anderen auf und grüsst eloquent. Aber es reicht schon der minimale Reiz der Anonymität und der Fensterplätze, damit das alles von allen beiseite gelassen wird. Das ist schon etwas billig.
Zweitens: Klasse ist nichts ohne Kontrolle. Es müsste jemand da sein, der allen beim Betreten des Raumes erinnernd sagt: Sunt qui. Es gibt welche, die. Tu Du aber, der Du eintrittst, denen nicht nach. Benimm Dich. Lasse dem anderen gern den Vortritt und sage dabei “Bitte”. Wir leben 2014, Du musst nicht mehr in Ohnmacht fallen, wenn Messer stilistisch nicht ganz passen, aber achte auf Deinen eigenen Prinzipien. Setze Dich nicht an Tische so wüst und unaufgeräumt, wie Du sie, wenn Du nicht gerade wieder auf den letzten Drücker einen Beitrag schreibst, daheim nie akzeptieren würdest. Das hier sind Deinesgleichen, behandle sie mit Respekt, auch wenn Du nicht weisst, wie viele Plastikteile ihren Knochenbau aufrecht halten. Drei- , viermal am Tage ziehst Du Dich um, du wechselst die Hemden öfters als ein Politiker den Lobbyisten, der das Essen bezahlt – Du machst für Dich selbst, für die natürliche Ordnung der Dinge, aus Prinzip. Das Prinzip ist heilig und damit das Gegenteil eines Tisches ohne frische Decke. Sunt qúi. Du aber wage es nicht, daran auch nur zu denkend. Denke lieber an das Anstandsstück, und wenn Du auch verhungern solltest. So sollte jemand sprechen.
Das gibt es natürlich nicht, das ist längst vorbei, kein Oberkellner achtet mehr darauf, mehr als eine gewisse Herablassung, wenn man auf den Wein oder Fleisch verzichtet, bekommt man auch in den besten Häusern kaum mehr zu spüren. So ist das eben im Kapitalismus. Man bezahlt so wenig wie möglich, man nimmt, was man kriegen kann und wenn etwas nicht passt, wendet man sich an den Medienanwalt, die PR-Agentur oder das Beschwerdemanagement.
Als hätte man so etwas nötig.
Aber: Sunt qui so etwas tun und sich dann wundern, wenn ein jeder sich so benimmt, und nur seinen eigenen Vorteil im Sinn hat.
HINWEIS:
Eigene Vorteile kann ich bei der Software hier nirgendwo erkennen, und nach einem genervten Zusammenbau des Beitrags, der länger als das Frühstück dauerte, möchte ich auf das leicht zugängliche Kommentarblog für die Kommentare verweisen.