Do hosd an Dreeg im Schachdal
Tant’Betty
Wenn einer mit 18 am Hirschberg im Schneesturm erfriert, bekommt er an dieser Stelle ein Marterl, auf dem die Geschichte verzeichnet ist, und alle, die vorübergehen, lesen das Schicksal nicht ohne Beklemmung und passen auf. Wenn einer mit 19 betrunken ist, sich im Auto seiner ebenfalls alkoholisierten Freunde übergibt, von denen deshalb vor dem Elternhaus rausgeworfen wird und dort in einer Februarnacht erfriert, erinnern sich manche daran, aber ich muss das schon aufschreiben, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Ein Marterl gibt es dort natürlich nicht, nur einen Grabstein auf einem Friedhof in der Peripherie. Am Tegernsee geht man noch oft auf den Friedhof, in der Stadt nicht, am Berg ist der Tod nah und in der Stadt hinter den abweisenden Fassaden der Krankenhäusern versteckt, tief verborgen in den Innereien der Stationen und voll klimatisiert. Bei uns riecht es nach Tod.
Meine Mutter schaut mich an, als wäre ich der Boandlkrama höchstselbst und fragt, wo ich denn gewesen sei. Ich verstehe überhaupt nicht, was sie meint, denn ich war ja nur am Tegernsee und ein wenig oben auf dem Hirschberg, und dann am Abend noch im Feichtner Hof in Finsterwald – so müssen bayerische Orte heissen! – beim Essen, und dann bin ich schnurstracks heimgefahren. Ich würde riechen, sagt sie, als käme ich direkt aus einem Wohnungsbrand. Tatsächlich macht auch die Katze einen grossen Bogen um mich, das macht sie sonst nie, und schlagartig wird mir klar, dass ich drei Stunden neben dem offenen Kamin gegessen und geredet habe, und das fällt heute, in Zeiten des allgemeinen Rauchverbots, feinen Nasen auf – nur man selbst gewöhnt sich schnell daran, wenn man daneben sitzt. Früher rochen alle Menschen komisch, wenn sie einen Abend in einem Lokal waren, heute wird schon ein offener Kamin mit Verstörung wahrgenommen. So ist das. Bei uns.
Vermutlich ist so ein offener Kamin nicht gesund und wir in Bayern neigen dazu, den Feinstaub zu jenem Pfund Dreck zu rechnen, das der Mensch im Jahr braucht, um zu funktionieren – Mediziner würden sagen, um Resistenzen aufzubauen. Es ist ein merkwürdiges Zusammenspiel aus Frieren am Berg und vergleichsweise geregeltem Dasein, finanzieller Sicherheit und Strukturen, denen man nicht entgeht. Der Bäcker macht zwischen 12 und 2 zu, die Wirtshäuser stellen nach 22 Uhr das Kochen ein. Wer auf den Berg will, muss früh los und der Tod ist an allen Wegen mit Marterln. Friedhöfen, Kirchen und Kapellen allgegenwärtig. Wenn ich nur zum Bäcker gehe, komme ich in fünf Minuten an zwei Friedhöfen, vier Marterln, einer Kirche und einer Pestkapelle vorbei. Am See ist dann ein Denkmal für Thomas Mann, der nach dem ersten Weltkrieg hier war, um den Hunger in München zu entgehen, und von den Gmundner Bauern ernährt wurde. Was wäre gewesen, wenn ihn damals die spanische Grippe dahingerafft hätte? Der Tod ist hier überall.
Dabei leben die Menschen hier lang. Sehr lang sogar, wenn man bedenkt, wie oft sie hier von der Sonnenstrahlung Hautkrebs bekommen und den Unbilden der Natur ausgesetzt sind. Niemand weiss, wann er kommt, aber die Statistik meint, dass sein Eintreffen ein halbes Dutzend Jahre später als dort ist, wo man ihn gar nicht sehen kann; in Berlin nämlich. Ich mag das auch kaum glauben, so oft wie ich hier vom Berg gefallen, über den Lenker geflogen und in den Stacheldraht gerauscht bin, aber nach hinten hinaus halten wir einfach länger. Der Jugend mag das egal sein, aber in meinem Alter macht man sich schon so seine Gedanken: Würde man hier jeden älteren Herrn 5 Jahre vor seinem natürlichen Tod umbringen, wäre es Massenmord. In Berlin kommt das von ganz alleine und die nehmen das einfach so hin, weil sie, wenn er kommt, keine andere Wahl mehr haben. Davor aber schon, wenn sie genauer hingeschaut hätten. Denn der Tod umfängt uns immer im Leben, man muss sich das bewusst machen.
Der Tod in Berlin jedoch, das möchte ich annehmen, hat gelernt, wie man die Menschen täuscht. Zum Beispiel behauptet er, dass das mit dem Sterben schon lange her ist; die Einschusslöcher, die man noch aus dem letzten Weltkrieg sieht, sind ja schon alt. Die Mauer mit ihrem Todesstreifen ist weg, also sind die Risiken kleiner und man braucht sich keine Sorgen machen. Geniesst das Leben, sagt der Tod, er trägt bunte Kleider und bietet Pillen und Joints an und Freunde, die das auch machen. Macht Euch keine Sorgen um später, sagt der Tod und wirft billige Wohnungen auf den Markt, in denen man als junger Mensch auf Matratzen leben und als alter Mensch mit ramponierten Gelenken einsam sterben kann, weil die Freunde längst verschwunden sind. Halte Dich an keine Regeln, sagt der Tod, Du kannst alles immer haben, Zigaretten, Alkohol, eine Pizza, Zucker in allen Formen, immer, 24/7, gib Deinen Wünschen nach, und wenn Du lieber vor dem Bildschirm bleibst, den braunsiffige Kaffepot neben Dir, dann ruf einfach an und ich bringe es Dir, kostet Dich kaum mehr als ein Schnapserl, mein Freund. Bleib daheim, es ist kalt draussen, es riecht schlecht, Bewegung schadet.
Und so trinken sie und rauchen sie und ernähren sich mit allem, was ihnen die Industrie so liefert, wenn sie durchmachen, in ihrem Dasein ohne echte Regeln und viel verlockender Flexibilität, mit der man umgehen können sollte. Aber alle machen es so, alle kommen irgendwie durch und es ist immer etwas Wasser unter dem Kiel. Sie gehen ebenerdig in der Stadt dahin, die sie nie verlassen: Es geht, das schaffen sie, da können sie noch rauchen, denn nie stellt sich ein ernsthafter Berg in ihren Weg, macht sie klein und quetscht den Dreck aus ihren Lungen, bis sie merken, wie tief der Tod schon dort drinnen sitzt und ihnen das Kragerl abdrückt, nie müssen sich die Muskeln bewegen, um vor dem Bergunwetter davonzulaufen, allenfalls dem Bus wird nachgelaufen, und dann fallen sie in die Sitze und denken nur noch an das nächste Wegbier, um zu vergessen und nicht mehr all das zu schmecken, was an Abgasen und Nebel in dieser Luft das Atmen erschwert. Der Tod hat Flaschen und Dosen gemacht, die man nicht wieder verschliessen kann, es muss getrunken werden und es wird getrunken. Den Tegernsee, den kennen sie nur vom Etikett der Flaschen, sofern sie sich das überhaupt leisten können.
Es is wias ist, sagen wir hier in Bayern und unten am Sumpf ist nun mal viel Platz für einen Slum, den wir hier allein schon wegen der nahen Berge nicht bauen könnten, es muss welche da unten geben und warum sollen sie sich das, was ihnen vergönnt ist, nicht mit dem gefühlt immerwährenden Karneval schön machen. Vorletztes Jahr hatte dann ein Prügler an einem Camp ein böses Problem mit der Wirbelsäule, so ab 40 hört man oft von Verschleisserscheinungen, für die einen sind es Schüsse vor den Bug und für die meisten der Anlass für Pillen, die sie sich verschreiben lassen können, und nicht im Görlie bekommen. Bei uns schaut man in den Himmel und macht sich so seine Gedanken, was da wohl kommen wird, und wie klein man ist; in Berlin schauen sie alle den Fernsehturm an und denken, wenigstens ist es in einer Metropole und das Leben ist hier, das steht ja auch in amerikanischen Zeitungen, so amerikanisch wie das Essen, das sie sich kommen lassen und oft genug “Snickers” heisst.
Als ich den Hof nach dem Essen und vielen guten Worten verlassen habe, war da nur noch rotglühende Asche im Ofen; all die Jahre, die die Buche gebraucht hat, um so viel Holz zu werden, sind zerfallen zu Rauch, Gestank und angenehme Wärme. Buche brennt lang, Fichte brennt schnell und am schnellsten brennen alte, trockene Weihnachtsbäume, wenn man sie vorher noch mit Brandbeschleuniger übergiesst. Das weiss die Antifa in Berlin und wir wissen das auch. Wir leben so und die leben anders, und am Ende kommt er zu uns allen, so, wie wir es ihm halt einrichten.Unter der Erde brauchen wir dann alle den gleichen Platz, und davor sitzen wir alle auch auf den gleichen vier Buchstaben. Wir tun das sechs Jahre länger mit schöner Aussicht auf den See, die Berge, und auch auf ihn, denn am Ende jeder Fernsicht, das wissen wir, ist er, und gerade noch woanders beschäftigt. Früher in Berlin, später bei uns. Die Berliner finden sich damit ab und man kann hier eh nichts machen, denn es gehört dazu.
So is des. Man muss das heutzutage mit der Fastenzeit nicht ernst nehmen. Alles geht, und jeder geht einmal dahin.
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