Liebe Störenfriede und Landfriedensbrecher!
Vor ein paar Tagen machte in meinen Internetkreisen diese Suchanzeige für ein Zimmer in einem antikapitalistischen Wohnprojekt die Runde, und man hat sehr gelacht. Gestern Abend nun gastierte bei uns das Atos Trio, und in der Pause sprachen wir über den angespannten Immobilienmarkt, wie so oft. Und selbstverständlich habe ich dort darauf verzichtet, mittels Beschreibung dieser Anzeige einen kostengünstigen Scherz auf anderer Kapitalusmusfeind_Innen Kosten zu machen. Das tut man nicht (solange man damit kein Geld bei einer Zeitung verdient). Man macht sich nicht über Leute lustig, die weniger besitzen. Zurecht. Ich schwieg still und dachte mir, jeder mag sein Leben gestalten, wie er will, was geht es mich an, wenn andere anders glücklich werden. Ich bin kein Richter oder Ankläger. Und würde nicht vielleicht jeder gern in einer Welt leben, die dem anderen grosse Freiräume schenkt?
Das Atos Trio spielte als Zugabe das Ihnen, hochverehrte Störenfriede und Landfriedensbrecher, eventuell noch unbekannte Klaviertrio in G-Dur, KV 496 von Mozart, und das dauert etwas. Bedauerlicherweise war die Aufführung in meiner dummen, kleinen Heimatstadt an der Donau, die nie etwas anderes hervorbrachte als bösartige Gegenreformatoren und bösartig dreinschauende Luxusautomobile – nur jetzt, genau zu dem Zeitpunkt, da das Atos Trio Mozart intonierte, kam noch etwas dazu: Der deutsche Meistertitel für Massenschlägereien auf Kufen und Eis; in Ihrer Welt vermutlich unter dem Namen “Eishockey” bekannt. Dieser Titel nun wurde von einer zusammengekauften Truppe erschossen, erschlagen und erkörperandiebandegequetscht, und so kam es, dass der hiesige Konzertverein beim Verlassen der Tiefgarage in einen hupenden und grölenden Corso eingequetscht wurde, gänzlich ohne Abendkleidung und S-Klasse, aber mit einer monotonen Hupmusik, die man als Abrundung für KV 492 eher nicht vernehmen möchte.
Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, bewohne ich das Haus, das die Familie schon seit einigen Generationen ihr eigen nennt und dessen Geschichte weit ins Mittelalter zurückliegt. Es befindet sich an einer der Durchfahrtstrassen der Altstadt, und somit habe ich die halbe Nacht damit verbracht, Augen und Ohren für eventuelle Straftaten – in Ihren Augen Unterhaltung – zuzubringen. Bis heute morgen ging eigentlich alles gut, aber ich komme gerade vom Wochenmarkt, wo ich den letzten Spargel und famose Kräuterseitlinge und frische Tortelli bekam. Und auf dem Rückweg kamen sie mir dann entgegen: Immer noch nicht nüchterne Fans in Kleidung des Vereins und Mitläufer. Einer, der wie ein Zeitsoldat aussag, trug ein Hemd mit der Aufschrift “Obey.” Und ein anderer ein Hoodie mit der Erklärung “Fuck Life” und so sah er auch aus.
Ich bitte um Verständnis, hochgeschätzte Störenfriede und Landfriedensbrecher, wenn ich hier nicht umhin kann, öffentlich meine Prädisposition zu erklären: Anhänger dieser sportlichen Vereinigung haben über Monate hinweg diese Altstadt mit dem Gründungsjahr des Vereins beschmiert. Wir sind da, um ehrlich zu sein, als Hausbesitzer nicht wirklich angetan. Ich habe natürlich nichts dagegen, wenn sich Kanadier und Deutsche vor ein paar Tausend Johlenden gegenseitig die Schläger an den Kopf hauen, und es ist auch fein, dass es dafür die Mauern des Stadions gibt. Aber die Ausweitung der Kampfzonen in meinen Lebensbereich sehe ich wirklich nur ungern. Ungeachtet dessen ist mir und Ihnen natürlich vollauf bewusst, dass es eine einseitige Sache ist: Keiner aus meinem sozialen Umfeld käme auf die Idee, während der Festspielsaison in die schlechten Viertel zu fahren, armen- und richardwagnerfeindliche Parolen zu schreien, die Wände mit Rezitativen von da Ponte zu beschmieren und zu guter Letzt die Eckkneipe in Brand zu setzen, weil die Bar wirklich scheusslich ist. Es gibt in unserem Land keine Ausschreitungen der Vermögenden gegen die Unterschichten mehr. Allein schon, weil man sich, wie oben bemerkt, schämen würde.
Das jedoch ist nicht die historische Realität, sondern eher eine Anomalie der letzten gut 50 Jahre. Davor war es nämlich sehr wohl üblich, dass die besseren Kreise bei den weniger Begünstigten eingefallen sind und sich nicht eben freundlich benahmen, was ich als Nachfahr eines Ungelters allein schon aus der Familiengeschichte zu berichten weiss. Aber nehmen wir doch aus Gründen der Diskretion und Bildung einfach Mozarts Don Giovanni, KV 527, und denken an den gerissenen Verführer, wie er die Bauern Zerlina und Masetto herumkommandiert. Gedenken wir der Leichtigkeit, mit der er das Leben seines Dieners Leporello aufs Spiel setzt, wenn er davon nur den kleinsten Vorteil davon hat – am Ende des ersten Aktes beschuldigt er öffentlich Leporello genau jener Vergewaltigung, die er selbst begangen hat, und droht, ihn zu erstechen. Oder denken wir an den Conte Almaviva in Le Nozze di Figaro, KV 492, der Cherubino mit einem Wisch in den fast sicheren Tod an der Front schicken kann, und alles daran setzt, Figaros Mädchen zu entjungfern. So ging es zu im christlichen Abendland, und wenn die Opern letztlich auch die andere, moralisch bessere und fortschrittliche Seite triumphieren lassen: Die Realität der niederen Schichten sah weniger erfreulich aus.
Später schrieb man leider keine so schönen Opern mehr, die einen weia oh walleten in Bayreuth und die anderen sangen “Wacht auf, Verdammte dieser Erde”, was auch so einiges über das Selbstbild der arbeitenden Klasse im 19. Jahrhundert sagt. Weit sind wir seitdem gekommen, heute singen sie eher die Spots der Elektromärkte. Gleich vor dem Gesetz sollen wir alle sein und uns nach den Spielregeln der Zivilisation verhalten – das, mit Verlaub, wurde in der öffentlichen Erscheinung eine sehr einseitige Sache. Wir behalten unsere Heiligen Hallen, in denen kein Verräter lauern kann, denn der kommt hier nicht rein. Und unten auf der Strasse kocht in vielen Orten am 1. Mai in den Herzen der Hölle Rache, da würde man uns gern geköpft, dann gehangen, dann gespiesst auf heisse Stangen sehen, denn wie Masetto es so trefflich formuliert: “Wir haben uns vereint, Ihn tot zu schlagen. “. Und am Ende der Aufmarschstrasse stehen keine Kanonen mit gehacktem Blei im Schlund, sondern nur ein paar Wasserwerfer – liebe, gute Störenfriede und Landfriedensbrecher, das ist keine Repression, das ist, vom Rokoko kommend, der allgemeine zivilisatorische Fortschritt! Auf zu dem Feste, feucht soll es werden, bis meine Gäste triefen von Schleim! Rutschen lass all sie wild durcheinander, hier eine Hundertschaft, schliesse die Reih’n, dort bayerische SEKs, schliesse die Reih’n. Die Autonomen haben ihre Traditionen der Walpurgisnacht und des revolutionären Maifestes, wir dagegen eine passende Musik.
Spielt der Wasserwerfer dann tatsächlich den horizontalen Kontrapunkt zu den Aufmärschen, gehört das wohl zu jenem Open Air der Revolte als Stilmittel dazu, wenngleich nicht gesungen wird. Ja, man könnte es auch als eine höhere Schule der Geistesentwicklung und der Herzensbildung bezeichnen, jetzt mal so relativhistorisch betrachtet, denn sanft schiebt da der Staat seine Kinder beiseite, wenn sie gar zu unerzogen sind. “Der Schurke, der freche Bube, hat die Knochen mir zerschlagen!” – was Masetto einst sang, steht danach klagend in den Protestnoten der Aktivisten, und gemeinhin ist es zum Glück nach dem ersten Mai vorbei – aber ganz ehrlich, bei uns sind Feiertage etwas Erfreuliches und keinesfalls ein Anlass, Angst vor Ausschreitungen haben zu müssen. Sagen wir es deutlich: So etwas tut man eigentlich nicht.
Natürlich sehen andere das anders, und so wird es immer wieder zu unterschiedlichen Auffassungen kommen, was man in der Öffentlichkeit tun kann, und was nicht. Eine Rückkehr zu den alten Zeiten sehe ich auf unserer Seite jedenfalls nicht; in unserer Überflussgesellschaft gibt es nichts, was es unten mit einem Überfall der Oberen an Vergnügungen zu holen gäbe. Der gewaltsame Übergriff der Vermögenden ist einfach komplett aus der Mode gekommen, und wenn das noch 10, 20 Jahre so weiter geht, werden wir uns sogar noch genauer überlegen, wie wir unser Missfallen öffentlich ausdrücken. Dabei fehlt schon heute ein Instrumentarium für den Umgang mit sozialen Auffälligkeiten, denen man nicht mehr mit Beiträgen wie diesem und Mozart beikommt, und gleichzeitig noch nicht mit dem Wasserwerfer begegnen kann. Keine Ruh bei Tag und Nacht, die zerbrochene Bierflasche, eingeworfene Scheiben, das Grölen Nachts um Vier, die Bierleichen am Morgen – das ertrage, wem’s gefällt, das alles treibt die gesellschaftliche Spaltung voran. Nur beklagen wir uns selten, wir ziehen die Konsequenzen, überlegen genauer, wem wir unser Eigentum anvertrauen, und dann wird es für Euch, hochwohlehernichtgeborene Störenfriede und Landfriedensbrecher, auch schwer mit der Gründung von antikapitalistischen WGs.
HINWEIS:
Leicht wird es dagegen mit dem Kommentieren im Kommentarblog – allein schon, weil ich am 1. Mai bis Abends in Schloss Pommersfelden bin.