Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben.
Andre Gide
Erinnern Sie sich noch an früher, als grundlegende Werke unserer abendländisch-christlichen Kulturgeschichte von Diderots Enzyklopädie bis Josefine Mutzenbacher auf Subskriptionsbasis erschienen? Als standesbewusste Herren entschieden, dass derartige Werke erscheinen sollten? Nun, das erfolgreichste Crowdfunding-Beispiel der deutschen Gegenwart ist vermutlich das Buch einer Laiendarstellerin, die in einer Privat-TV.Serie zum Rollenmodell und Facebook-Star wurde. Und jetzt auch zur gefeierten Autorin. Wer hätte das gedacht.
Also, es steht im Buchregal und angesichts des amtlich nachgedruckten Kulturguts mit fünfstelliger Auflage kann man nun auch Kinder mit gutem Gewissen vor den privaten Fernsehstationen endlagern, wo sie dann lernen, wie sich Vertreter ihrer Schicht in Köln und Berlin zu benehmen haben, wenn sie das Lebensglück in gebleichten Haaren und dem diskriminierungsfreien Tragen von T-Shirts mit Biermarkenwerbeaufdruck finden möchten. Man weiht sie ein in die Bedeutung des Automobils als Ausdruck der gesellschaftlichen Stellung, das mehr als drei Wohnungseinrichtungen kosten sollte. Man vermittelt ihnen den angemessenen Ton bei der sozial gewünschten Formulierung ihrer Bedürfnisse. Sie lernen spezifische Tischsitten und, so berichtete man mir, der ich kein TV-Gerät besitze, dass man Bier auch aus der Flasche trinken kann, als wäre man ein Berliner Nudelhipster und hätte sich im Görlitzer Park verlaufen.
Zudem wird ihnen nahe gelegt, dass der persönliche Vorteil über dem Nutzen der Allgemeinheit steht, und das alles in einem Wohnumfeld, das von Mietern geprägt ist. Die Gestaltung ihrer Beziehungen ist konfliktreich, eher rasant denn beschaulich, und umfasst auch körperliche Konfrontation. Man nennt das alles scripted reality. Natürlich schreit die laut Eigenbuchwerbung „fette Kampflesbe“ den dicken Mann nicht wirklich an und natürlich sind die Umgangsformen dazu angetan, den Zuschauern an den Geräten in ihrem nicht von Aufstiegschancen geprägten Umfeld eine gewisse soziale Befriedigung zu verschaffen. Aber die Kinder lernen dort alles, was sie für das Überleben und Fortpflanzen in einem neoliberal geprägten System der Verdrängung brauchen. Immer schön laut sein, sich um die Meinung anderer Leute nicht kümmern, und oben angekommen ist man, wenn das Leben aussieht wie in der nächsten Reportage über St. Dropäh.
Soziologen sehen hier natürlich den sog. Fortschritt am segensreichen Werk und auch wir – angesiedelt am anderen Ende der sozialen Nahrungskette – können nicht umhin einzusehen, dass es immer noch besser als jene Epoche ist, da minderbemittelte Kinder in Bergwerken die Türen der Schächte öffnen mussten, oder von Lehren schikaniert wurden, deren sittliche Bemühungen auch zum Betrieb eines Arbeitslagers geeignet gewesen wären. Aber wie auch immer, weder die alten Bergwerke noch die neuen Serien sind bei uns die Stätten der Geistesbildung. Heutzutage hält man sich solche Leute nicht mehr als Personal und schottet sich von ihnen deutlich ab. Früher lebten Herren und Personal unter einem Dach oder, wie bei uns, in einem weitläufigen Komplex mit Hinterhaus, und da konnte eine gewisse Vermischung nicht ausbleiben. Natürlich gab es im Königreich Bayern keine sexuelle Aufklärung an den weiterführenden Schulen, aber laut den Erzählungen war das nicht so schlimm, denn es gab genug Waschweiber, Bäckergesellen, Kutscher, Kammerzofen und Köchinnen, die ihre einschlägigen Erfahrungen zumindest verbal weitergaben. Die alte Sittenlosigkeit der niederen Leute hatte also durchaus auch ihre Vorteile.
Die Aufklärungsleistung der Eltern bestand lediglich darin, diese Entwicklung ein wenig zu bremsen, und das auch nicht allzu lange, denn mit 20 hatte eine Frau idealerweise weg und verheiratet zu sein, fünf Jahre später waren auch die Männer verkuppelt. Wer zehn Jahre später noch ohne Partner war, bekam keinen mehr. So war das, und man wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass man früher einfach andere Ansichten zum Thema sexuelle Reife hatte. Öffentlichkeit und Wissenschaft hatten darin nichts verloren, und man sollte diese Epoche auch nicht glorifizieren – aber nach allem, was man über Familiengeschichten hier so weiss, ging auch damals niemand ohne zumindest grobe Vorstellung über das Kommende ins Ehebett. Ansonsten wage ich die Behauptung, dass sich die sonstigen Wünsche und Ansichten zu Beziehung und Sexualleben nicht grundsätzlich von den Idealen unterscheiden, die man heute immer noch bei ernsthafteren Singlebörsen nachlesen kann.
Allerdings hat sich in der als Demokratie verkleideten Oligarchie, in der wir leben, viel verändert. Klassen werden nicht mehr durch Hinterhäuser oder Stockwerke definiert, sondern durch ganze Viertel, in denen eine Klasse homogen herrscht, und andere Viertel oder gar Regionen im preussischen Ausland, die den Unterprivilegierten überlassen werden. Bei meinen Urgrosseltern war der räumliche Abstand zum Waschweib keine 20 Meter – in meiner Jugend waren es bis zum ersten schlechten Viertel dagegen schon zwei nie überwundene Kilometer. Die Ziele aller Eltern waren und sind heute modern, aber nicht weniger elitär: Erst sollen die Kinder das Abitur machen und um Himmels willen keinen Nachwuchs zeugen, dann studieren und sich auch gern austoben, und danach angemessen heiraten, wenn sie wollen. Die gesamte Planung bis zur Hochzeit hat sich um eine lebenslustige Dekade verlängert, und da ist von Internetanschluss bis Tanzkurs genug Gelegenheit, auf dass sich der Nachwuchs alles Wissenswerte schon irgendwie selbst aneignet. Es ist nicht mehr wichtig, die Entwicklung an sich zu bremsen, man sollte nur ein wenig auf die richtige Partnerwahl achten – aber was bei der Umsetzung elterlicher Wille, was räumliche Gelegenheit und was instinktive Klassenerhaltung der Jugend ist, ist schwer zu sagen. Ich sehe jedenfalls kaum Klassenvermischung vor dem Traualtar.
Kurz, es hat hoffentlich keiner erwartet, dass wir uns absondern, den Rest unserer Nichtgesellschaft Richtung Autobahn und Raffinerie weggentrifizieren und dann, in Sachen Fortpflanzung dumm geworden, mangels Sexualität aussterben. Eine behütete Kindheit passt da nun mal zur gewünschten Lebensplanung. Das ist klassistisch, das kann vielen nicht gefallen, aber so ist das nun mal in einem Land, in dem Herkunft, Selbstbewusstsein und Erziehung von zentraler Bedeutung für das weitere Leben sind. Wir sind da übrigens gar nicht so weit weg von der sich als modern betrachtenden Soziologie, die glaubt, dass vieles gar nicht biologisch angelegt sei, sondern nur auf Einflüssen der Umwelt beruhe. Wir haben daraus nur etwas andere Schlüsse gezogen – eben jene, die zum Erhalt unserer dominierenden Stellung sinnvoll sind. Geschlecht und Sexualität spielen dabei keine besonders bedeutende Rolle, entscheidend ist vielmehr, dass den Anforderungen der Klasse höflich entsprochen wird, und das macht die „fette Kampflesbe“ in ihrem Umfeld auch nicht anders. Auch dort wird über Rollenbilder erzogen, es werden Bücher offeriert und man ist zufrieden mit dem Stand, so wie es ist.
Dieser Gegensatz der Kulturen wird jedoch zum unweigerlichen Kriegsschauplatz, wenn man mit den Methoden der fetten Kampflesbe der Oligarchie nahebringen möchte, dergleichen Personen auch genau so zu akzeptieren und die totale Gleichheit über Leitbilder im Schulunterricht zu festigen – und dann mit dem Begriff „Homophobie“ die Bedrängten abzuwerten versucht. Die bessere Gesellschaft kann schon recht lange mit dem „Tod in Venedig“ umgehen, mit dem Werk von E. M. Foster wurde ich nachgerade gefüttert, Andre Gides Falschmünzer waren umstritten, wurden aber dennoch beschafft und gelesen. Virginia Woolf und Erika Mann gelten auch nicht mehr als Mädchenverderberinnen, ja nicht einmal mehr im Giftschrank möchte man sie attraktiv machen. Und ich hörte, mitunter soll sogar Krachts Faserland zum Abiturstoff gehören. Mit Sicherheit, möchte ich zu bedenken geben, liegt es also gar nicht an der Frage, ob man jungen Menschen die diversen Spielarten der Sexualität nahebringen will, denn angesichts der aktuellen Verfügbarkeit bekommen sie das alles ohnehin mit. Wir lernen daraus, dass es Bücher und Autoren gibt, die unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung höchste Wertschätzung erfahren. Es geht wie so oft um den richtigen Ton.
Oder den falschen, aggressiven Ton auf der Seite von Privat-TV und mit ihrer Espressomaschine angebenden SoziologInnen: Sexismus, Homophobie, Reaktion, Bigotterie – das sind Vorwürfe, die sich leicht mit einem Verweis auf den literarischen Kanon zu widerlegen sind. Jedes halbwegs gut gefüllte Bücherregal eines Abiturienten sollte in der Gegenwart mehr an homoerotischen Erfahrungen und Beschreibungen versammeln, als man sich vor einem Jahrhundert überhaupt nur hätte vorstellen können, und was ihre Bookmarks im Internet enthalten, geht Eltern ohnehin nichts an. Trotzdem wollen auch für mich schockierend viele junge Leute mit all diesem Erfahrungsschatz wieder feste Beziehungen und Kinder und Karriere Ja, auch ich frage mich natürlich, wozu ich eigentlich zehn Semester verfeiert habe, wenn die kommende Generation trotzdem nach sechs Semestern einen Abschluss haben will. Aber ich frage das höflich und verständnisvoll und verzichte darauf, meinen Altersgenossen, die diese Kinder erzogen haben, die Schuld zu geben. So kommt man gut miteinander aus.
Weniger fein erscheint es natürlich, wenn man nicht nur die schon vor dreissig Jahren mit Andre Gide Bekehrten zwangsbepredigt, sondern sich auch noch in die staatliche Schulbildung einmischen und unter Vorstellung von fetten Kampflesben zur totalen Toleranz aufrufen will. Das wird nicht als sexueller Übergriff empfunden, sondern als mangelnde Akzeptanz der gesellschaftlichen Regeln, an die man sich nun mal zu halten hat, wenn man seine Karriere nicht in der Scripted Reality der TV-Sender gestalten möchte. Es ist eine sehr hochmütige Belehrung durch Personen, denen man mitsamt ihrer Fair Trade Ideologieplörre eigentlich nicht vorgestellt werden möchte, und die es deshalb über Erlasse und Leitbilder an Schulen versuchen. Dabei sind wir doch gar nicht so. Ein Benimmkurs könnte denen vielleicht helfen. Etwas anderes anziehen vielleicht, den Ton mässigen und die Vorschläge als kluge Bitten verpacken. Niemand ist hier homophob, wirklich, man hat nur etwas gegen Gschleaf.