“Veronika, der Lenz ist da,
die Mädchen singen tralala.
Die ganze Welt ist wie verhext,
Veronika, der Spargel wächst!”
Text Fritz Rotter, gesungen oft von denComedian Harmonists
Gestern war ich, relativ früh, weil andere Leute ja auch bei diesem Wetter auf den Gedanken kommen, im angrenzenden Park spazieren. Ich mag keine Menschenansammlungen, bei mehr als drei Leuten in einem Radius von zehn Metern um mich herum beginnt für mich Folter. Aber der Winter ist meine schwache Zeit, ich mag es weder dunkel noch kalt, und entsprechend bin ich mit dem allergrößten Genuss durch die angenehm wärmende Sonne gelaufen und habe mir so meine Gedanken gemacht.
Der Park ist weitläufig und hügelig, man hat wie vielerorts aus Trümmern Landschaft zu machen versucht, und hier ist es sogar einigermaßen geglückt. Einzig die Rasenflächen sind noch matschig und braun, nicht wirklich ansehnlich, aber so ist das eben, wenn es lange kalt war. Es braucht ein bisschen, bis man in Fahrt kommt. Der Frühling, die ersten Sonnentage, oder das, was die Menschen für sich als die ersten warmen Tage empfinden, sind immer gut fürs Geschäft. März, April und Mai sind angenehme Monate, da will niemand traurig sein und schon gar nicht alleine, und man selbst hat auch wieder etwas mehr Energie, das geht sich dann meistens ganz gut aus. Spontan muss man halt sein, je mehr Sonne, umso spontaner sind die Leute. „Hast du um vier Zeit?“ fragt dann einer um zwei, und wenn ich gut gelaunt bin und Zeit habe, lasse ich mich entgegen meiner Gewohnheit auch mal hinreißen.
Eigentlich mag ich nämlich Planbarkeit und Übersichtlichkeit, ein penibel geführter Kalender erfüllt mich mit Wohlgefallen, genau wie eine möglichst leere Wohnfläche, am liebsten weiß und keimfrei und der Inbegriff der Ordnung und Sauberkeit – im Gegensatz zu gewissen anderen. Das mit dem Kalender habe ich mittlerweile im Griff, aber an der weitläufigen Wohnung, in der sich dann möglichst nur weiße, fast leere Flächen befinden und vielleicht ein Bauhaussofa in einem sehr dunklen Braunton, sowie eine wirklich gute Stereoanlage, arbeite ich noch.
Ich arbeite daran, nachdem all die viel wichtigeren Dinge getan sind, der Broterwerb und die Bildung und der Genuss, das Einkaufen und das Kochen und das soziale Miteinander. Das auf-dem-Sofa (nein, noch kein dunkelbraunes Bauhausmodell) Herumliegen, das Schreiben und das mit-der-lieben-Freundin-nur-eine-halbe-Stunde-und-dann-doch-fünf-Telefonieren und dann muss man in meiner Branche ja auch einigermaßen gepflegt sein, und auch das kostet Zeit und in dieses Museum und jene Ausstellung wollte ich auch noch, und siehe da, es liegen die Schuhe herum und die Decke ist nicht akkurat gefaltet und die Spülmaschine exakt gleichzeitig mit dem Abendessen fertig, sodass ich leider erst essen muss und dann müde und lustlos das Ein- und das Ausräumen auf den nächsten Tag verschiebe, und fragen Sie nicht, ich habe wahrlich noch einen langen Weg zu gehen bis zur klinisch reinen Minimalistenwohnung.
Dafür führe ich den Kalender in Schönschrift und hake alle erledigten Aufgaben akkurat ab. Mit einem ganz bestimmten Stift in einer ganz bestimmten Farbe. Pro Aufgabenfeld eine Farbe. Weswegen ich immer rund zwanzig Stifte herumtrage, während ich nicht in der Lage bin, auch nur ausnahmsweise im Bedarfsfall ein Taschentuch in meiner Handtasche zu finden. Dafür ist die Arbeitstasche wieder ein Hort der Übersichtlichkeit und Inbegriff der penibelsten Ordnung mit trockenen und feuchten Tüchern und solchen zur Flächen- und Händedesinfektion.
Was meine Wohnung in keinem Fall hätte, wäre ein Garten. Ich hasse Gartenarbeit wie die Pest, ständig wächst und gedeiht einem irgend etwas vor der Nase herum, das zurückgeschnitten, gestützt, geharkt oder verlesen und geerntet werden will. Ich möchte einen Balkon, mit einem Stuhl oder allerhöchstens zwei, und einem Tisch und vielleicht einem Kaktus. Einen Garten möchte ich nicht. Auch weil Gärten, daran erinnerte mich die Rasenfläche im Park, gewisse Rückschlüsse zulassen auf ihre Inhaber.
Gärten sind so etwas wie eine gigantische Visitenkarte, das habe ich gelernt, denn ab und an komme ich ja etwas herum, und natürlich macht man so seine Beobachtungen und manchmal fallen einem gewisse Korrelationen auf, nicht nur in den Gemächern, auch im Drumherum. Zum Beispiel Rasenflächen. Um genau zu sein: Rasenkanten. Wo ein Rasen, da auch eine Rasenkante, und es gibt mannigfaltige Möglichkeiten, diesem Problem, so man es als eines betrachtet, was ein nicht unerheblicher Anteil der Gartenbesitzenden zu tun scheint, beizukommen. Beispielsweise kann man der Sache begegnen, indem man abgrundtief hässliche, in angeblichem Grasgrün oder Erdbraun gehaltene Plastikteile dort in den Boden rammt, wo die Rasenkante verläuft. In solche Gegenden komme ich aber selten, ich meine, das ist die Klientel für aushäusige Arrangements, ohne das weiter vertiefen zu wollen. Manchmal stecken diese Plastiktrenndinger auch mitten in einem Wust aus Rasen und Unkraut und in aller Regel geht es da recht ungezwungen und handfest zu und man spricht Dialekt.
Eine weitere Möglichkeit, etwas hochpreisiger und variantenreicher, sind Einfassungen aus Stein. Meist sind die aus Naturstein ansehnlicher, gewiss auch teurer, aber so läuft das eben, als die künstlichen. Von denen die, die natürlich wirken sollen und es aber nicht tun, wiederum die sind, die mein Auge am wenigsten erfreuen. Je näher an die Stadt man kommt, umso Naturstein die Raseneinfassung, und in unmittelbarer Stadtnähe, wo es grün, ruhig und teuer ist, weil der Weg zur Arbeit trotzdem nicht mehr als eine halbe Stunde in Anspruch nimmt, findet sich dann oft die hohe Schule der rein organischen Rasenkante, die einerseits einen perfekt gepflegten und üppig spießenden Rasen erfordert und andererseits abrupt endet, ohne fransigen Wildwuchs, ohne Unkraut, fein säuberlich zurechtgestutzt, vermutlich im mindestens wöchentlichen Rhythmus, je nach Wetterlage. Wenn es schwül-warm ist, wächst das Zeug ja wie bekloppt. Und manche haben trotzdem eine Rasenkante wie im Katalog. Keine Einfassung, kein Unkraut oder Moos. Nur Rasen, der genau da endet, wo er enden soll und nicht ein abtrünniges, eigensinniges Hälmchen, das sich widersetzt und sich über die ihm angedachte Grenze hinaus reckt.
In solchen Gärten sind oft auch Bewässerungsanlagen und teure Sitzgruppen zu finden, vielleicht ein Smoker, mindestens aber ein wirklich hochwertiger Grill für seine ebenso wirklich hochwertigen Steaks und ihr in Aluminiumfolie mit einem Tröpfchen gutem Olivenöl und sonntags vielleicht einem Fitzelchen Bio-Feta angemachtes Gemüse. Nicht selten auch ein Schuppen mit hochwertigen Rädern, von denen aber nur eines, das Herrenrad meist, genutzt wird. Nach meiner Theorie genutzt wird, um den immer mal wieder aufkommenden Fluchtreflex zu sublimieren, denn ich frage immer nach, wenn ich solche Rasenkanten sehe, weil mich die Akkuratesse und der Fleiß beeindrucken, der da in so etwas Unscheinbares wie den Übergang von Gras zu Erde investiert wird. Und ich bekomme in aller Regel zur Antwort, dass diese Kanten, nunja, die schneidet er am Wochenende, er habe da ein Kantenschneidegerät eines namhaften Herstellers, und wenn sie Samstag nachmittags nach dem gemeinsamen Einkauf die Wohnung … dann rutscht er auf Knien durch den Garten und schneidet die Rasenkante. Sonntags fährt er dann Rad.
Ich will jetzt nicht sagen, dass die männlichen Bewohner von Speckgürtel-Einfamilienhäusern mit ordentlichen Rasenkanten generell gerne auf den Knien herumrutschen, das wäre eine unzulässige Verallgemeinerung und würde einer wissenschaftlichen Überprüfung gewiss nicht Stand halten, Korrelation und Kausalität und all das. Aber es ist schon so, dass die Art, wie das Wohnumfeld gestaltet wird, manchmal zu mir spricht. Deswegen gehe ich nicht gerne in Wohnungen, Hausbesuche habe ich mir so gut wie abgewöhnt. Ich fuhrwerke nicht gerne ungebeten im Privaten anderer Leute herum, und ich sehe ja die sorgfältig arrangierten Vasen und die geschmackvollen Kunstdrucke und die lustige Figur vor, oder den saisonal passend gewählten Kranz an der Eingangstür. So etwas machen Männer nicht, an der Stelle bestehe ich auf meinen althergebrachten Stereotypen. Türkränze werden von Frauen gekauft und von Männern angebracht, das ist kein Sexismus, das ist Empirie. Und ich spreche damit auch keinem alleinstehenden Mann die Freiheit ab, sich einen Türkranz zuzulegen, gerade um die jetzige Zeit sind ja Ostermotive sehr beliebt.
Eine unaufgeräumte Junggesellenbude stört mich im Gegensatz zur kantengeglätteten Vorstadtidylle dann wieder gar nicht. Es ist mir noch nie passiert, dass das Bett in solchen Wohnungen nicht frisch bezogen war, und selbst wenn nicht, empfinde ich es als die bei Weitem geschmacklosere Vorstellung, dass sich jemand, der das nicht möchte oder nicht mal ahnt, in ein Bett legen muss, in dem ich den Gatten wegen der Rasenkanten und des Fluchtreflexes getröstet habe. Entsprechend sind nach meiner bescheidenen Erfahrung Ordnung und guter Geschmack oder wenigstens normaler Anstand mindestens zweierlei, und ob Ordnung, Sauberkeit und Akkuratesse auf einen statthaften Charakter oder eine in sich ruhende Persönlichkeit schließen lassen, darf nach allem, was ich weiß, zumindest in Frage gestellt werden. Also mache ich mich auch wegen des Schuhbergs nicht verrückt, und auch nicht wegen des vertrockneten Wildwuchses im Balkonkasten. Ich werde im Frühsommer vielleicht Kräuter hineinsetzen und ihnen Ende Juli beim Verwelken zusehen oder auch nicht, möglicherweise fahre ich ja auch weg, und ich werde mich während des Verwelkungsvorganges freuen, dass ich die Gelassenheit dazu aufbringe, das einfach passieren zu lassen, statt manisch Rasenkanten zu frisieren.