Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Soziale Porno-Anomalien der Reichen

Play ethnicky jazz to parade your snazz on your five grand stereo
Braggin’ that you know how the niggers feel cold and the slums got so much soul

Dead Kennedys, Holliday in Cambodia

Es ist Sonntag morgen und ich öffne Zeit.de, das Internetangebot einer Zeitung, deren Redakteure in Zimmern gehalten werden, die etwas kleiner als die meiner Gästewohnung sind, nur ohne Dachterrasse, Kronleuchter und Mahagonimöbel. Trotzdem gehören sie zu den Privilegierten dieses Landes, werden mittelgut bezahlt und gerne herumgereicht, weil sie die Meinung in diesem Land, zumindest bei den Gebildeten, mit beeinflussen. Was serviert mir diese Seite der Privilegierten wohl so am Sonntag?

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Die Präsidentschaftskandidatur einer Frau, die wegen eines „War on Women“ Stimmen bekommen möchte. Ein Beitrag über Pegida: Tillich warnt vor Ausländerhetze. Darunter bezeichnet Michael Jürgs die ostdeutsche Gesellschaft als pubertierend. Der Ratgeber erklärt, wie introvertierte Hascherl auch Karriere machen können. Die Familienministerin setzt sich für eine bessere Entlohnung von Erziehern und Erzieherinnen ein. Eine Frau wird mit einem Foodblog vorgestellt, obwohl sie nicht kochen kann und das ihrem Mann überlässt. Es wird beklagt, dass Kenia Flüchtlinge des Landes verweisen will, und weiter unten wird empört gefragt, warum wir über Charlie Hebdo trauern und die Kenianer nach dem Massaker an christlichen Studenten allein lassen. Wenigstens will die CDU in Brandenburg mit der AfD brechen. Die italienische Küstenwache rettet derweil Flüchtlinge, aber noch mehr sollen in Seenot sein. Dafür gibt es in der Kultur Good News, denn endlich entdeckt Amerika das Thema Transgender, und die Zeit hat sich ein Haus angeschaut, das sich um die Belange queerer Leute kümmert. Auch toll die Überschrift im Stil der Wehrmachtsberichte: „Der deutsche Jazz hat ein weibliches Gesicht.“ DerrDoitschäh Tschähzzzz, ich stelle mir sowas immer mit der Stimme von Goebbels vor. Ein Feature über die Tiefen der armen Showgrösse Lena Meyer-Landrut ist direkt vor einem fleischlosen Gulasch. Danach ein Beitrag über Konzentrationslager und nochmal Flüchtlinge, diesmal in der Version „hochbegabt“. Cannabis ist super und die Lage der Diamantenschürfer in Banharbaru ist entsetzlich, weil die vom Reichtum nichts abbekommen. Der Sport: Hannover gegen Herta. Hier werden zwei schwarze Spieler abgebildet. Dann noch ein Leseraufruf, wo Flüchtlinge willkommen sind – man soll von seinen Erfahrungen erzählen, sofern sie gut sind. Zum Schluss nochmal Mindestlohn und die schlimme Lage der Taxifahrer in Hamburg.

Das ist nicht die taz, nicht die Jungle World und auch nicht eine Internetpostille der Antideutschen, das ist die Zeit. Und wenn dann einmal eine Autorin der Welt etwas über Feminismus schreibt, in einer Serie mit Pro- und Kontra-Stellungnahmen, sagt eine Studentin auf dem Social-Justice-Warrior-Trip:

meinungsfreiheit heißt vor allem den menschen eine stimme zu geben, die wenig möglichkeiten haben diese zu äußern und gehör zu finden.
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Die hätte mal besser die Zeit lesen sollen, da liefert man genau das, was sie will. Jede Menge Mitleid und Bedauern, und wahrscheinlich weinen die Redakteure Nachts noch in ihre zertifizierten Biokissen, weil sie vergessen haben, einen Beitrag über die Adoptionsbedingungen für vegan gepiercte transsexuelle Paare in Peru, deren Schönberginterpretation mit der Ukulele vom Goethe-Institut lobend erwähnt wird, hochzuschalten und dem Publikum nochmal Tränen abzuringen. Die spannende Frage ist jedoch: Warum macht ein Organ der gebildeten und hohen Stände so etwas? Das alles sollte doch nach Wunsch und Möglichkeit überhaupt nicht die eigene Lebensrealität der Leser zeigen, und generell findet man es doch super, wenn einem keine feministische Jazzpianistin so lange auf Cannabis mit der Musik New Yorker Genderhäuser quält, bis man seinen Besitz den Armen der Welt vermacht und den Rest des Daseins mault, dass es wegen der polarnahen Lage von Hamburg vor der eigenen Öltonne nie Sonne geben wird.

Die Antwort ist mir wie so oft beim Umhängen der Bilder gekommen; ich habe da eine neue Rokokoschönheit mit Schleier und der musste eine italienische Strassenszene im Guardistil mit einem dekorativ herumliegenden Bettler weichen. Für solche sozialen Anwandlungen nämlich zahlen und zahlten Gebildete seit jeher viel Geld, man denke nur an die Gemälde von Murillo, die Schule von Barbizon, und es wäre mir auch neu, dass die Sammler von George Grosz mit seinen Freudenmädchen und Spiessern in, sagen wir mal, bildungsfernen Schichten zu finden wären. Sogar bei mir, der ich normalerweise perlenbehängte Schönheiten mit prachtvollen Gewändern bevorzuge, ist so ein Sujet in die Sammlung gerutscht. Nicht allzu oft natürlich, aber schon früher zeigte man sich mit einem Bauernbild von Jean-François Millet im Salon fortschrittlich und weltoffen, und war ansonsten mit dem Reich von Napoleon III. zufrieden. Und sollten Sie einmal in das Bayerische Nationalmuseum kommen – da gibt es auch kunstvolle Elfenbeinskulpturen von Bettlern in zerissenen Kleidern. Das fand man bei Hof ganz wunderbar – es war nicht alles nur parfümierte Beischlafsanbahnung der oberen Klassen wie bei Bustelli. Oder eben den Partneranzeigen in der Zeit.

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Dunkel meine ich mich da nämlich erinnern zu können, dass dort mehr der musikalisch begabte Unternehmer im Ruhestand eine kulturell interessierte Dame suchte, die Unterschichten nur in Form von Befehlsempfängern beim Personal kannte – und eben vielleicht aus der Zeitung. Eigentlich wollte ich ja schreiben, wie widerlich ich die Doppelmoral meiner Kollegen mit ihrem Poverty Porn finde, aber wenn ich ehrlich bin, hängt in meiner Küche zwischen den Stillleben und dem Imariporzellan auch so ein Gemälde einer romantisch verrussten Bauernküche. Ich habe auch das Portrait einer Dienstmagd aus dem XVII. Jahrhundert, vermutlich flämisch, auf dem sie ein Huhn rupft. Und dann habe ich noch eine ganze Wand voller Capriccios – was darauf nicht verkleidete, halbnackte Adlige oder durch Hecke geknallte verführte Nymphe ist, ist wirklich arm, kniet betend oder geht sogar einer echten Tätigkeit nach. Ich brauche mich also gar nicht beschweren: Das hatte man schon immer so.

Historiker jedoch werden nun richtigerweise einwerfen, dass all dieser künstlerische Poverty Porn auch durch diese letzten vier Jahrhunderte wenig daran änderte, dass man den schwarzen Mann versklavte und als Leuchterknaben hielt, arbeitsscheue Leute in Armenhäuser steckte und zur Arbeit und Umschulung zwang, Menschen ohne Pass des Landes verwies und bei aller Lust an der Verkleidung in der Oberschicht nur wenig Gefallen an sexuell abweichendem Verhalten weiter unten empfand. Die Kunst beweist uns, dass man sich über die Existenz des Elends voll bewusst war und die Geschichte zeigt, wie gleichgültig sich deren Käufer im vollen Wissen um die Probleme verhielten: Ars der Reichen longa, Vita der Armen brevis. Für das Stück Goldledertapete neben meinem Schreibtisch hätte man eine Familie einen Monat satt machen können und könnte es, den richtigen Kontinent vorausgesetzt, noch immer, selbst abzüglich der Verwaltungsgebühren der Nothilfeorganisationen, sofern sie nicht tebartzen und erster Klasse in die Slums fliegen.

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Aber natürlich: Heute nutzen auch wir die Medien, um den Unterdrückten eine Stimme zu geben und ob man das Elend anklickt oder nicht, spielt keine Rolle. Mir selbst ist ja auch erst jetzt aufgefallen, wieviel Elend hier in Öl in meiner Wohnung hängt, über dem grünen Chippendalesofa, auf dem ich Torte esse und mich über neue Auktionserlöse der Schule von Barbizon informiere. Man kann es geradezu als Konstante der bürgerlichen Epoche begreifen, dass wir bestens über den Stand der Welt und seiner unteren 90 Prozent informiert sind. Selbst wenn der Sauhirte von früher heute mit Baugrund reich wird: Es gibt noch genügend anderes Elend. Und auch genug Kunst, die das thematisiert. Wir schauen uns das natürlich an, und überlegen, wo war das noch mal? Das war eine Ausstellung in – war das jetzt Madrid oder Paris? Schahatz, weisst Du noch, diese Bilder da mit den betenden, armen Bauern, die waren? Ach so, Victoria an Albert. Oder doch Tate? Das kann doch niemand auseinander halten.

Es ist halt auch nur beliebiger Porno. Man klickt das an, man schaut es sich an und wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Trotzdem hätte ich mir gerade von der Zeit mal wieder etwas mehr Empathie für arme Gemäldesammler wie mich gewünscht, denen die Wände nicht mehr ausreichen und deshalb den Guardi abhängen müssen. Irgendwo muss so ein armes, unterprivilegiertes Waschweib des Rokoko ja seinen Platz finden, und da tragen wir gern unser Scherflein zum Wohlergehen der Welt bei.

ACHTUNG: WEGEN TECHNISCHER ARBEITEN KANN ES HEUTE ZU AUSFÄLLEN BEI DEN KOMMENTAREN KOMMEN.