Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Bundesjugendspiele gewinnen und abschaffen

Leid fressds ois zwam, mia lebm nimma lang
Bayerische Volksweise

Alt ist er geworden, noch etwas älter als die meisten. Deutlich älter. Alt wurden wir schliesslich alle, aber beim P. fällt es wirklich auf, wenn man ihn von früher kennt. Ich kann den Gedanken nicht unterdrücken, jetzt, wo der P. vor mir steht. Alt und behäbig, in der Schlange beim Käsewagen auf dem Wochenmarkt steht also, leutselig, gealtert und freundlich, der schlanke, ranke P. von damals in einem Gefängnis aus reichlich Fleisch, und sieht gar nicht mehr so aus, als würde er um mich herum dribbeln und mit Leichtigkeit aufs Tor schiessen können. So wie früher. Damals, in der achten Klasse. In Bayern. Wo die Fähigkeit, unsportliche Leute umdribbeln zu können, sehr viel mit dem Prestige in der Klasse zu tun hat.

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Schulsport habe ich gehasst. Sport ist immer so eine Neigungssache, und die Kinder vom Dorf, deren Eltern sie selbstverständlich im Dreck spielen liessen, standen erst als Ministranten in der Kirche und traten danach die Dorfjugend des Nachbarkaffs beim Fussschienbeinkicken ins Krankenhaus. Meine Eltern achteten bei ihrem Nachwuchs, den damaligen Vorgaben entsprechend, auf grösste Reinlichkeit, mit dem Ergebnis, dass ich seit dem vierten Lebensjahr Heuschnupfen in seiner schlimmsten Form habe. Wenn es dann nach den Wintern warm genug für Fussball in der Schule war, stürmte die Dorfjugend mit dem ganzen Ungestüm der erlittenen Demütigungen im Deutschunterricht heran, und sich ihnen in den Weg stellen, zumal man selbst allenfalls japsen konnte, war keine so gute Idee. Ein Bekannter, der im Tor stehen musste, meinte einmal, seine Hände heben zu müssen, als ein anderer einen Meter vor ihm abzog. Dem sind dann vier Finger gebrochen.

Ich kann mich beim besten Willen nicht an rücksichtsvolles Verhalten beim Schulsport erinnern. Auch von meiner Seite aus nicht. Denn Skifahren konnte ich wie eine Wildsau, das war mein Element, und da gab es dann endlich die Gelegenheit, es denen heimzuzahlen. Mit all der Erfahrung eines Jungen, den sein Leistungsskilehreronkel durch jede Waldschneise von Pertisau bis Chamonix getrieben hat, wusste ich genau, wie man die Dorfjugend von der Buckelpiste in die Botanik abgehen lässt. Ausbremsen, reinwedeln, schneiden, wegstossen, sich freuen, wenn es einen von denen im Wald derbröselt – es war Bayern in den frühen Achtziger Jahren. Helme gab es damals nicht. Alles unter einem Knochenbruch galt da nicht erwähnenswert. Dafür schlug mir dann einer im Sommer den Hockeyschläger über den Kopf. Und aus diesem Geiste heraus waren auch die Bundesjugendspiele bei uns geboren.

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Ich habe mir gerade mal die Website der Spiele, die jetzt per Petition abgeschafft werden sollen, angeschaut und kann sagen: Ganz ehrlich, bei uns war das wirklich keine inklusive Mimimi-Veranstaltung, wo jeder noch so Lahme und Kaputte irgendwie mitgenommen wurde. Die Dorfjugend gewann erwartungsgemäss. Ein paar fürsorgende Eltern hatten ihre Kinder ohnehin gleich lieber krank geschrieben. Leute wie ich hechelten hinterher, übertraten beim Weitsprung dreimal, schmissen irgendwas irgendwohin, und der Direktor, der unsere Schule als eine bayern- und damit deutschlandweit führende Kaderschmiede der technischen Berufe positionierte, räumte dem Klimbim auch nur so wenig Zeit wie irgend möglich ein. Wichtiger war, dass wir wussten, wie sicher die Kernkraft ist und welche Wunderwelt sich hinter Zahlen verbirgt. Das waren für mich auch so Mysterien wie der Schulsport.

Offen gesagt habe ich allenfalls sehr schemenhafte Erinnerungen an diese Spiele, und sie stechen keinesfalls besonders traumatisch aus dem restlichen Sportunterricht heraus, den ich halt mitmachte, weil das Motto bei uns generell „Marschier oder stirb“ war. Ausserdem bekam ich trotzdem eine Ehrenurkunde – leicht gefälscht, aber bestens gemacht von meinem Waldschneisen- und Botanikschubsonkel, und da lernte ich auch die Bedeutung des Clans kennen. Ansonsten galt: Wer nicht mitkommt, ist draussen. Besondere Programme zur Kindsrettung gab es in keinem Fach, statt dessen Lehrer, die schon am Anfang des Schuljahres verkündeten, wer am Ende durchfallen würde. Noch so ein richtiges Bayerisches Abitur, auf das sich ältere Politiker so viel einbilden. Nach meiner Meinung war die Plackerei mit all den Psychopathen nichts, worauf man stolz sein konnte. Im Altbau jedoch gab es im Treppenhaus eine grosse, schwarze Tafel, und auf der waren all die Namen und Todesdaten der Schüler und Lehrer verzeichnet, die im Ersten Weltkrieg gestorben sind. Das waren sehr viele. Und immer nach dem Sport dachte ich mir dann: Da sieht man, wie es endet, wenn man zu den Schnellsten und körperlich Überlegenen gehört.

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Um mir den Abiturschnitt nicht zu ruinieren, habe ich dann Sport in rechtzeitig per grossfamiliär-ärztlicher Verfügung abgelegt, und bin lieber meinen wahren Neigungen zu Büchern nachgegangen. Mit dem Abitur begannen die meisten Sportler mit dem Rauchen und danach, beim Bund, auch mit dem Saufen. Ich war untauglich. Zivilist ist ein Sport, den ich immer gern betrieben habe. Woran ich mich sehr genau erinnere, war der Sommer nach dem Abitur, und meine morgendlichen Rennradfahrten ins Altmühltal, durch das jene Flugzeuge rasten, die mancher meiner Klassenkameraden beim Bund gern geflogen wäre. Ich war damals sehr frei. Die anderen marschierten mit Rucksäcken in Uniformen und erzählten am Wochenende Schreckliches. Selbst für die immerhin zum Abitur gelangte Dorfjugend war so ein Spiess mit Hauptschulabschluss eine traumatische Erfahrung. Rücksichten hat angesichts des drohenden Russen keiner genommen. Was ich damit sagen will: Auch für einen Kreismeister der A-Jugend kann körperliche Betätigung traumatisch werden. Es gab Fahnenfluchten und Einweisungen in die Psychiatrie, einige wirklich schwere Unfälle und noch mehr Alkohol: Habt Euch nicht so, möchte ich fast den Müttern der Aktion Bundesjugendspieleweg zurufen. Es gibt Schlimmeres.

Der P. und ich, wir haben uns lange nicht gesehen, aber wir wissen grob, was der andere macht. Er ist bei der grossen Firma und beschäftigt sich mit Hinterradaufhängung, und ich war in Italien. Beruflich, kein Vergnügen natürlich, so schön habe ich es auch nicht, im Gegenteil. Da war so ein Radrennen über Geröll in der Toskana, auf alten Rädern, aus der Zeit unseres Abiturs oder älter, 2000 Höhenmeter, da fuhr ich mit.

Er könnte so etwas ja nicht, er hat es im Rücken.

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Er war einer von den Sportlichen, aber keiner von den Hinterfotzigen – ich gebe es zu, das ist eine eher seltene Kombination gewesen. Ein feiner Kerl, und sicher auch ein guter Vater seiner Kinder. Übergewichtig, zu lange nichts mehr gemacht, aber was soll man mit Rücken auch tun, zumal die Arbeit auch ihren Tribut fordert

Alle Männer müssen sterben.

Es gibt da einen netten Spruch, den sage ich dann immer: „Sportler leben nicht länger, sie sterben nur gesünder“. Es ist keine Frage, P. hat ein erhöhtes Todesrisiko durch zivilisationsbedingte Verhaltensmuster der Unbeweglichkeit. Und bei mir darf, wenn ich auf dem Rad mit Tempo 90 das Penser Joch hinunter rase, keine Speiche brechen, sonst ist es aus. Seit einigen Jahren greift auch nach meiner Generation unbarmherzig die kalte Hand des Todes, aber niemand kennt Ort und Stunde. Heute mache ich das, was all die Cracks von damals nicht mehr könnten. Die Bundesjugendspiele bringen einem nur bei, in festgelegten Sportarten besser als andere zu sein. Sie erzählen einem nichts über den guten Umgang mit sich selbst und der Balance, die das gute Leben ausmacht. Sie halten vermutlich ein paar Apparatschiks in Lohn und Brot und kommen wie die Grippewelle. Sie schicken Leute auf die Aschenbahn, machen eine Momentaufnahme mit Sieg und Niederlage, und fragen seit all den Jahrzehnten nicht, wie man das Leben langfristig besser macht. Aber das tun Germanys next Top Model und all die anderen Leistungsfetischveranstaltungen auch nicht. Wie man am besten durch das Dasein marschiert, mit einem frohen Lied auf den Lippen und ohne zu sterben, muss jeder selbst lernen. Ein Onkel, der einem eine Urkunde fälscht und ein Arzt in der Verwandtschaft, der das Attest schreibt, sind natürlich hilfreich und individuell eine sehr elegante Art der Abschaffung von Bundesjugendspielen.