Wir verstehen und es wird alles vorbereitet sein, damit in dieser Richtung die Masseninstinkte gelenkt werden.
Edvard Benes
Lebte ich in einem Flüchtlingslager, und würde ich lesen, dass eine Regierung plant, für mich un meinesgleichen Zwangsvermietungen durchzuführen, und würde ich außerdem wissen, dass es so eine Wohnungszwangswirtschaft schon einmal gab, und dieses Volk in jener Zeit zwölf Millionen Menschen erfolgreich eingegliedert haben will, unter widrigsten Bedingungen, dann würde ich auch auch kommen. Das ist eine einmalige Gelegenheit. Eventuell gerade rechtzeitig zum Tag des offenen Denkmals, also morgen, und weil es dafür jetzt vielleicht schon etwas zu spät ist, möchte ich hier eine kleine Führung geben, und eine Geschichte erzählen von jenen Zeiten, deren Methoden wieder in Mode kommen und deren Erfolge herhalten müssen, um dem Volk die Vorteile des aktuellen Staatsversagens – so sue me, Merkel – nahezubringen. Ich weiß leider nicht, wie es anders ausdrücken soll, wenn München heute Nacht Notzelte aufstellen muss, weil die Weiterleitung versagt. Aber im Orient hält man sich in solchen Momenten mit dem Geschichtenerzählen bei Laune, und das möchte ich auch tun.
Wenn man heute das barocke Collegium betritt, in dem ich wohne, sieht man wenig vom Elend und von der Not vergangener Tage. Man sieht Juramarmorböden und hölzerne Treppenläufe, die für die Ewigkeit gemacht scheinen, es hängen dort Kronleuchter, die ich aus Berlin mitbrachte und alte Stiche, die einem bei der Sammlertätigkeit eben so zufallen. Man kennt das, man geht auf den Antikmarkt, um ein Rokokogemälde zu kaufen und nimmt dann für die Hausgemeinschaft auch einen Blick über Rom mit. Wirkliches Elend sieht man nur auf zwei Stichen mit Szenen aus dem Umland von Paris, die nur mit viel gutem Willen als Capriccio und nicht als Sozialstudien durchgehen.
Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es früher, in der guten, alten Zeit, so etwas wie eine vertikale Klassengesellschaft gab. Unten wohnte man im Piano Nobile behaglich und unter dem Dach starb man reihenweise an sehr unschönen Lungenkrankheiten. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts verschieden drei Töchter einer armen Familie unter dem Dach innerhalb von wenigen Monaten an Schwindsucht. Das war auch für diese Zeiten schlimm, aber nicht sonderlich ungewöhnlich. Heute hängen dort, wo man die Leichen hinunter trug, einige schöne Biedermeierspiegel und ein venezianischer Stich mit einem Maskenfest von Pietro Longhi. Es geht eben nicht anders. „Nie stehenbleiben“ ist meine Devise, obwohl ich Historiker bin. Zähne zusammenbeißen und weiter gehen. Man sollte als Historiker entweder so abgebrüht sein, dass man bedenkenlos den burlesken Longhi in einem Seminargebäude aufhängt, in dem einige der übelsten Theoretiker und Praktiker der christlichen Religionskriege wirkten, oder sich belügen können. Dann wird Geschichte rückblickend so schön und erträglich, wie sie nie war. Mein Haus ist, das darf ich sagen, eines der finstersten der ohnehin nicht besonders hellen bayerischen Geschichte.
Eine dieser nicht so schönen Geschichten sind die Vertriebenen. Die Vertriebenen sollen momentan als Beispiel dafür herhalten, dass wir es nach dem Krieg geschafft haben, zwölf Millionen aus dem Osten zu integrieren. Wir schaffen das. Wir in Bayern ganz besonders, weil wir vor allem die Unmengen Flüchtlinge aufnahmen, die aus Tschechien kamen. Die Sudetenösterreicher. Zu Bayern haben sie nie gehört, das Sudetenland war habsburgisch, und zu Deutschen wurden sie erst unter Hitler, und dann dauerhaft nach der Vertreibung. Die CSU hat sich ihrer damals mit wenig politischem Erfolg angenommen, aber inzwischen gelten die Sudetendeutschen als gut integriert, arbeitsam und durch genetische Vermischung bald auch aufgefressen. Wir haben jede dritte Generation, wo wir zur Arterhaltung sonst normalerweise einen Stier einkreuzen, einfach Sudeten genommen, die gehen genauso. Entschuldigung, das war nicht ganz ernst gemeint, aber es ist schon so: Die sind feines, züchtiges Heiratsmaterial, die Vertriebenen.
Die Annäherung war dennoch schwierig. Es gab viel Misstrauen, die Sudeten wurden gleich nach dem Krieg zwischen Bayern und Österreichern recht ungnädig weitergeschoben, und bei den alten Flüchtlingen ist es oft wie bei anderen alten Leuten: Sie hatten diesen Tiefpunkt im Leben, von da an wurde es besser, und die alten Geschichten hat man verdrängt. Man hatte gar nicht die Zeit dazu, es gab genug zu tun, und wenn Vertriebene heute in Großkarolinenfeld und ähnlichen Siedlungen davon erzählen, mit Blick auf die Berge vor ihren schmucken Häusern, dann klingt das alles gar nicht mehr so hart. Niemand wollte damals zur sonstigen Not in den ausgebombten Städten auch noch Flüchtlinge, und dass man sie aufgenommen hat, lag alleine an den Zuweisungen durch die Wohnungszwangswirtschaft. Deutschland hat das Elend seiner Nachkriegsjahre inzwischen geistig entsorgt, und was diese Wohnungszwangswirtschaft wirklich bedeutet, wissen nur noch die Wenigsten. Daher kommen vermutlich auch die fröhlichen Vergleiche mit den syrischen Flüchtlingen, die jetzt kommen und auch alle einen Anspruch auf eine Wohnung haben, wenn wir sie anerkennen. Ich habe keine Ahnung, wie das gehen kann, denn wir bauen mitten im Boom deutlich weniger Wohnraum, als wir für die Flüchtlinge bräuchten.
Ich weiß nicht, wie das technisch, baurechtlich, in Sachen Infrastruktur und Baugrund, mit allen sozialen Nebenwirkungen und wirtschaftlich möglich sein soll – daher kommen wohl auch inzwischen angeblich dementierte Meldungen, man wollte jetzt ein Gesetz zur Zwangsvermietung prüfen. Damals war das anders, das Gesetz gab es auch schon bei den Nazis und in der Weimarer Republik, und nun wurde es eben noch schärfer durchgesetzt. Bei uns – mein Grossvater war damals ein hohes Tier in der Stadtverwaltung und zuständig unter anderem für Brennmittelverteilung und Displaced Persons – bedeutete das, dass ein Flüchtling trotz bester Beziehungen zum Amt im dritten Stock schlief, in einem Wandrücksprung unter der Treppe, die zum Speicher führt. Auf dem Gang, mit einem Vorhang vor der Nische, die jetzt ein Regal für Schuhe der Mieter ist.
Und zwar nicht nur für eine Woche, sondern für fünf Jahre.
Ohne Heizung, ohne Wasser, ohne Bad, ohne Küche, ohne Schrank, fünf Jahre in dieser ihm zugewiesenen Ecke. Sie wirkt zu klein? Man kann die Beine abwinkeln und draussen lassen. Alternative? Die Strasse.
So, unter diesem enormen Druck, funktioniert natürlich auch Integration. Wer im ersten Winter nach dem Krieg hier nicht erfrieren wollte, musste sich so gut stellen, dass er bei anderen in der Küche schlafen konnte. Meine Wochenmarktbäckerin hat mir gerade noch erzählt, dass ihr Schwiegervater fünf Jahre auf einem Bauernhof im Stall schlafen musste und nur das Essen für seine Arbeit bekam. So gesehen ist diese Stelle unter der Treppe gar nicht so schlecht. Wer sich nicht abrackerte, verhungerte damals. Hier hat also ein junger Mensch, der gerade dem Flakhelfertum entkam, fünf Jahre seines Lebens verloren. Es ist, wie gesagt, noch nich die schlimmste Geschichte des Hauses, von dem aus sich religiöser Fanatismus über den halben Kontinent verbreitete. Aber sie ist schon recht übel, weil es noch nicht so lange her ist, und die Überwindung dieses Zustands eigentlich eine Erfolgsgeschichte dieses Landes ist. Aber eben auch eine, bei der man nie vergessen darf, wie gross für die Menschen damals das Leid war. Die Wohnungszwangswirtschaft ist hauptverantwortlich für die jahrzehntelange Ablehnung der Flüchtlinge, weil sie einem aufgezwungen wurden, und für das Misstrauen der Flüchtlinge, dass die Einheimischen sie für Menschen zweiter Klasse hielten. Heute hat sich das eingerenkt, die Geschichten sind verschwiegen, die erste Generation oft schon tot und all die Baracken und Notlager sind weggeräumt. Wir haben auch hübsche Bilder aufgehängt.
Aber vergessen haben wir nicht und als ich heute auf dem Wochenmarkt – wie alle – von den Plänen der Regierung sprach, da kamen sie wieder, die alten Geschichten, die totgefroreren alten Leuten der ersten Winter, der Hunger, die Läuse, das Elend, die Lungenkrankheiten, der Schwarzmarkt, die Bestechungsversuche, die teilweise ruinierten Wohnungen, der Gestank, die Enge. Man redet nicht darüber. Man hat es nicht mehr erlebt, man weiss es nur von den Alten, aber der Gedanke, dass so etwas wieder kommen könnte, ist für die Besitzenden und jene, die sich danach den Besitz aufgebaut haben, nicht leicht erträglich. Es rührt an ein paar mit Heimatfilmen un mit Eierlikören betäubten Traumata, und ich denke, wenn es irgendetwas gibt, das in diesem Land die Erkenntnis reifen lassen wird, dass wir es sicher nicht schaffen: Dann sind es die Methoden aus der Epoche, da dieses Land es selbst verschuldet auch nicht selbst geschafft hat.
„Es ist doch nur vorübergehend“ dachte man damals auch. Es ist am Ende so gewesen, dass das Provisorium sehr lange Bestand hatte – so wie bei den Turnhallen und bei den Ausnahmesituationen am Bahnhof München. Es hat fraglos dazu geführt, dass sich zwölf Millionen Zwangseinquartierte angepasst und integriert haben, Bausparer abschlossen und ihre Reihenhäuser als Erlösung von einem Stigma empfanden. Es ist möglich. Wir haben das zwangsweise geschafft. Und jeder, der fünf Jahre seines Lebens bei mir in diesem Loch haust, hat dann auch die moralische Berechtigung, Wohnungszwangswirtschaft zu fordern und die Geschichte der Vertriebenen – abzüglich der Gräuel im Sudetenland – als Argument für die Beherrschbarkeit der aktuellen Krise zu verwenden.
Wer das nicht schafft, in diesem Loch auf einem ungeheizten Gang, sollte vielleicht vor der Geschichte ein wenig nachdenken. Und Schlüsse für eine ehrliche Debatte der Gegenwart ohne Geschichtsklitterung ziehen.