Für H. und R.. Alle Bilder werden angeklicht gross.
Ich schliesse den Stöpsel im Waschbecken, lege die weisse Radhose hinein, drehe das Wasser auf und gehe nur schnell in die Küche des Sieneser Palazzos, in dem ich meine Zelte aufgeschlagen habe, um nun Wasser für den Tee aufzusetzen. Als ich zurückkomme, schwimmt die Radhose in einer dunkelbraunen Brühe; einige Luftblasen blubbern vor sich hin, und als ich den Hahn abdrehe, schwappt die Suppe noch etwas und hinterlässt an den Rändern sandige Schlieren. Das alles kommt nicht aus dem Wasserhahn. Es hat sich auf und in der Hose angesammelt.
In elf Stunden am Sonntag davor, genau genommen. Denn als ich die Radhose zu nachtschlafender Zeit angezogen habe, war sie frisch gewaschen. Draussen vor dem Palazzo dunkelte der sprichwörtliche Stock, ich speiste noch schnell zwei Bananen, streifte das pink-grüne Trikot über, und stopfte das Regencape in die hintere Tasche. Das Regencape hatte ich am Vortag wegen dreier notorischer Schwarzseher erstanden, die in Gaiole in Chianti behaupteten, es werde regnen. Ich hatte das letzte Mal zwei Wochen davor auf die Wettervorhersage geschaut, und weil sie mir 29 Grad wissenschaftlich fundiert versprach, hatte ich mich auch darauf verlassen. Die drei Schufte jedoch bestätigten einander auch noch und zeigten mir, dass ihre neumodischen Apps tatsächlich für morgen, den grossen Sonntag der berühmten L Eroica, eines Radrennens über staubig-trockene Pisten der Toskana mit alten Stahlrössern, ausgiebige Regenfälle vorhersagten. Und einen Temperatursturz. Dabei war am Samstag das Wetter doch so schön und weitgehend wolkenlos – wo sollte da ein Unwetter herkommen.
Das fragte ich mich auch auf dem nächtlichen Weg vom Palazzo nach Gaiole. Sicher, man sah keinen Mond und keine Sterne, aber etwas Bewölkung ist normal. Ausserdem bewies diese Bewölkung, dass meine Wettervorhersage falsch war und das bedeutet natürlich im Gegenzug, dass auch die Wettervorhersagen der Defätisten nicht weniger falsch sein dürften. So befiehlt es die Logik. Oder auch nur der Halbschlaf, in dem ich nach Gaiole gebracht wurde. Dortselbst war es natürlich trocken und nicht sehr kalt, und die Stimmung beim Aufbau der blankgeputzten, schimmernden Räder famos. Ich fuhr, wie schon im Frühjahr, mein gold-chromfarbenes Mittendorf, und mein Schrittmacher, Begleiter und Anpeitscher ein candyrotes Grandis aus Verona. Solche Räder sind im Übrigen viel zu schön für schlechtes Wetter, und weil wir sie dabei hatten, schloss ich messerscharf, dass es deshalb schön werden würde. Sonst hätten wir sie ja wohl kaum genommen.
Noch keine Dämmerung war zu sehen, als der Stempel am Start auf die Teilnehmerkarte niedersauste. Voll war es, sehr voll, Tausende waren den Ruf gefolgt und standen nun hier, um auf die Reise in den schönen Tag zu gehen. Würde es regnen, beschloss ich, hätten sie das gemacht, was jeder nicht wahnsinnige Mensch tut: Sie wären daheim geblieben. Niemand würde hierher kommen, um stundenlang Wasser von oben und Dreck von unten zu erdulden. Also dankte ich meinem Schöpfer für mein optimistisches Vertrauen in die beste aller möglichen Welten, schwang mich auf das Rad und strampelte frohgemut dem Castell Brolio entgegen, das zwar ganz oben auf dem Berg liegt, aber einen Klacks für einen Jaufenpassbezwinger darstellt.
Ein Hügelchen, auf dem Lichter entlang des Wegs flackern, bis dann das Schloss erreicht ist und sich der Blick über die Toskana weitet, bis Siena, Grosetto, ja sogar bis zum Meer, wenn man Glück hat, und links hinten erscheint dann die gleissende Sonne am Firmament und küsst die Fluten der See wach, während man, befreit von allen Sorgen, über die erste, ausgewaschene Schotterpiste hinunter ins Tal fliegt, hinein ins Licht, in das Leben, in die Freude, die so nur ein Sonntag auf dem Rad in der Toskana vermitteln kann, warm und angenehm, während nördlich der Alpen schon im Nebel gefroren wird. Das alles begreift man, wenn man oben in Castell Brolio ankommt und
nicht in die Regenwolken am Horizont schaut, die sich im Norden auf das Land schieben. Wer tapfer radelt, kann auch tapfer ignorieren. Aber egal, die Route führt uns schliesslich nach Süden, links oben sehe ich sogar ein kleines Eckerl blauen Himmel und ausserdem: Ich war hier schon vor fünf Jahren. Da hat es geschüttet. Das war furchtbar. Ein Massaker. Die Wege so dreckig, als sei es Musik von Wagner, interpretiert von Roche. Das war entsetzlich. So entsetzlich, dass ich erst letztes Jahr einen neuen Versuch machte. Vor fünf Jahren bin ich als nasser Sack vom Rad gefallen, letztes Jahr wie ein nasser Sack, im Frühjahr wie ein nasser Sack und diesmal, habe ich mir geschworen, wird alles anders. Leichte Bewölkung hatte ich auch noch nie.
Ausserdem taucht nach anderthalb Stunden und ein paar hübschen Wegen durch Weinberge unvermittelt Siena mit seinen Türmen auf. So weit ist man schon – man merkt das gar nicht, wenn man so mit all den anderen durch die Landschaft gleitet. Die frisch geölte Kette tanzt auf den Ritzeln, die Muskeln lassen die Pedale kreisen, die Speichen rauschen im Wind, wildfremde Menschen am Strassenrand feuern einen an, eine italienische Gruppe setzt sich in ein Cafe, um einen Espresso zu trinken: Et in Arcadia ego. Nur ein paar Wolken weniger wäre gut. Dennoch bi ich zufrieden, denn es regnet nicht und bald sind es nur noch 9 Kilometer bis zur ersten Pausenstation. Wir schauen uns an, wir sehen gut aus, wir blicken in die Landschaft und sind guter Dinge.
Zumindest für die nächsten zwei Kilometer, denn dann beginnt es zu tröpfeln. Ganz leicht. Es hört aber gleich wieder auf, denn dann setzt der Regen ein. Aber der hat auch bald ein Ende, denn er wird von einer Sintflut ersetzt. Das geht ganz schnell hier. An der Pausenstation gibt es Tee, Trauben, Torte, Pecorino, ölgetränktes Brot, Wein, Salami, Nutella, Bananen von vorne.
Und dazu Wasser von oben. Wasser von der Seite. Wasser auch in den Pfützen von unten. Ausserdem wird es auch recht finster, ausser wenn gerade irgendwo ein Blitz herunterkommt.
Zusätzlich bekomme ich eine Dusche, als ich versehentlich beim Teeeinschenken unter eine übervolle Regenrinne gerate. Da trage ich längst mein Regencape, aber ich könnte genauso gut Nackttanz machen: Ich wäre nicht weniger nass. 47 Regenkilometer im Norden wäre Gaiole und das trockene Auto, also schwinge ich mich als triefend nasser Sack auf das Rad und beschliesse, dass es weiter südlich schöner werden muss. Im Süden ist es immer schöner. So kann das nicht weiter gehen.
Es folgen nun aber leider exemplarisch kommentar-, gnaden- und hoffnungslose Bilder der nächsten 50 Kilometer über Matsch, Dreck, Lehm, Baaz, Schmiere und überschwemmten Asphalt, in denen es – immerhin – zwei kurze Regenunterbrechungen gab.
Ich könnte viel dazu schreiben, aber man glaube mir: Es ist einem irgendwann egal. 20 Kilometer über Schotterpisten im Regen kommen einem mörderisch vor, danach fragt man sich nicht mehr, was zur Hölle man gerade tut. Das Hirn stellt die Funktion ein, denn es bringt nichts, sich solche Gedanken zu machen. Das Stammhirn freut sich an den kleinen Dingen des Daseins: Dass die Blitze aufgehört haben. Dass der Krankenwagen für jemand anderen kommt. Dass die Bremsklötze bei den halsbrecherischen Abfahrten auf den sandigen Felgen gut beissen, mit dem Geräusch einer schweren Schleifmaschine. Dass man selbst nicht viel schlimmer als das Rad aussehen dürfte.
Man freut sich, dass man letztlich doch abgestiegen ist und schiebend auf kurzer Strecke fünf Stürze aus sicherer Entfernung sah – die alle glimpflich abgingen und dreckig war man eh schon. Dass manche Gänge mitunter noch funktionieren. Dass die Kette sich noch bewegt und der Freilauf nicht blockiert, was sehr unschöne Folgen hätte. Dass man ein Ölkännchen bekommt und zwei Kilometer die Kette nur noch halb so schlimm rattert, bis zum nächsten Wolkenbruch. Mit der Reduktion der Ansprüche auf das reine Leben und Überleben stört einen auch keine Dreckfontäne mehr, die das Hinterrad des Vordermannes empor schleudert. Alles ist nass. War es je anders? Gibt es eine Welt ohne Regen? Man weiss es nicht mehr. Bis.
Bis dann die Wolken plötzlich aufreissen.
Ein normaler Mensch sieht die Sonne und denkt sich: Naja. Die Sonne. Zentraler Stern unseres Sonnensystems, Randerscheinung der Milchstrasse, kennt man, sieht man öfters. Aber all die geschundenen, dreckigen Kreaturen, die sich durch den Schlamm gekämpft haben, deren bunte Räder graubraun wurden und die als Verdammte dieser Erde den Gewalten der Natur und allen Gefahren trotzten, Meter um Meter, Steigung um Steigung, die Gefährten stürzen sahen und Verzweiflung in den Gesichtern trugen –
denen wird das Leben neu geschenkt. Die wischen sich die Spritzer aus dem Gesicht, die fassen neue Zuversicht und sehen von den erkämpften Gipfeln ringsum: Sonne. Kein Regen mehr. Es ist, ganz einfach gesagt, die Erlösung. Sicher, alles starrt vor Dreck, die Ketten knirschen und so mancher Schlauch wird noch platzen.
Aber die Sonne ist wieder da, es wird wärmer und auf goldenen Strahlen erheben sich die Leiber und gleiten durch eine Landschaft, die fraglos zu den Schönsten dieser Erde zählt.
Alles ist erleuchtet, alles ist Lachen, und selbst, wenn die Kräfte schwinden und die Muskeln schmerzen, wenn Hänge erschoben werden, die am Morgen noch hurtig im Sattel besiegt wurden: Es ist Italien. Es ist schön, In den Schuhen schmatzen fröhlich die nassen Socken und beim letzten Halt warten Kartoffelsuppe und Stühle auf die Helden.
Noch einmal geht es hoch zum Castell Brolio. Diesmal von der anderen Seite, unter lauter abgekämpften Menschen, die nicht aufgegeben haben. Die sich den Titel L Eroica, die Heldenhafte, diesmal wahrlich erkämpft haben, auf ihren alten, ramponierten Rädern, die eigentlich in Museen stehen sollten und nicht weniger als die Fahrer geschont wurden.
Stossweise keucht der Atem durch die zusammengebissenen Zähne, zwischen denen der Sand knirscht, aber die Lippen lächeln im Wissen, dass es von da oben aus nur noch hinunter nach Gaiole geht.
Ich schaue zurück. In der Ferne schimmern die Türme von Siena im Abendlicht, weiter unten erringen andere noch den Sieg über den Staub und sich selbst. Dann drehe ich mich um und rase den Pass hinunter ins Tal.
Dreimal bin ich hier wie ein nasser Sack vom Rad gefallen. Diesmal falle ich nicht. Ich bin nass, sehr nass, aber ich falle nicht. Ich steige im freundlichen Jubel der Zuschauer ab. Und ich war eine Stunde schneller als letztes Jahr, trotz Regen, Gewitter und all den anderen Erlebnissen, bei denen man besser daheim im Palazzo sitzen und sich darüber freuen sollte, dass es einen nicht erwischt hat.
Keine zehn Pferde hätten mich vor die Tür bekommen, wenn ich geahnt hätte, was mich hier auf 147 Kilometern und 2200 Höhenmetern in elf Stunden erwartet. Aber dann stehe ich am nächsten Tag im Bad, das Wasser im Spülbecken ist dunkelbraun von all dem Morast, durch den ich gefahren bin, von Unwettern und den schmutzigen Spritzern, denen niemand sich freiwillig aussetzen würde, und lächle. Ich lächle auch noch, als ich mein Rad stundenlang putze, und ich lächle, als ich hinausfahre in die Hügel, die so steil, so endlos, so hart und so
unfassbar schön sind, wenn die Sonne scheint. Und wenn sie nicht scheint, ist das Waschbecken eben dunkelbraun, aber das ist letztlich auch egal. Nach einem Tag hat man all das Elend schon wieder halb vergessen, es war gar nicht so schlimm, wirklich, eigentlich war es nur Wasser, und nach drei Tagen kann ich auch wieder gerade laufen. Wir sind nicht aus Zucker, weshalb ich gleich mal darauf hinweisen will, dass die nächste L Eroica Anfang Mai wieder in Buonconvento beginnt. Ich werde auch dabei sein. Denn meine Wettervorhersage meint, dass die Sonne scheinen wird.