Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Verwünschung stirbt zuletzt

Glücklich ist, wer vergisst, was doch zu ändern ist
Johann Strauss, Die Fledermaus

Ich mag Kinder nicht.

Ich mochte sie noch nie. Es ist nicht so, dass ich sie verachte oder gar schlecht behandle, ich halte es durchaus eine Weile mit ihnen aus, und ihre Anwesenheit schädigt meistens nicht mein Dasein, weil ich die Gemälde vorher verstecke. Selbstverständlich lade ich Freunde mit ihren Kindern ein und sorge für kindgerechte Würste, auch wenn ich Vegetarier bin. Ich erachte Kinder als notwendiges Kleinübel zur Erhalt der Menschheit, die ich als Grossübel durchaus nicht als erhaltenswert erachte, aber ich verurteile auch keinen, der das anders sieht. Man kann es ohnehin nicht ändern. Allerdings war meine Haltung vor einem Viertel Jahrhundert noch allgemein stark ausgeprägt. Entsprechend höhnisch wurde von der Singlefraktion meiner Generation das Scheitern von Familienwünschen bei anderen kommentiert.

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Der Hohn ist unsereins nicht vergangen, er findet nur stetig weniger Nahrung. Dafür mag es viele Gründe geben, aber Kinder und Familie gelten heute nicht mehr als sonderlich dramatisch und risikobehaftet, die Scheidungszahlen sinken, die Geburtenrate steigt, und ich beobachte auch eine gewisse Lässigkeit im Umgang mit Lebensentscheidungen, die mir immer noch fremd sind: Kinderkriegen und Familiengründen sind heute wieder geprägt von Demut gegenüber dem Lauf der Welt, während das Schielen nach besseren Optionen und die Suche nach dem absolut perfekt passenden Partner unmodern werden. Meine These ist, dass die Jagd nach der besten aller möglichen Welten bei Beruf, Wohnung, Partnerschaft und Vermögen früher noch leichter und vor allem nicht verpflichtend war: In meiner Generation konnten jene, die das wollten, sich wirklich noch beweisen, während wir feiern gingen und Orchideenfächer studierten. Heute ist diese wilde Jagd nach Qualifikation so verpflichtend und so hart, dass keine psychischen Reserven da sind, den gleichen Druck auch noch in der Beziehung zu erdulden. Da richtet man sich eben mit einem guten Zustand ein, neidet dem anderen nicht sein Weib und seine Babysitter-Sklaven, sondern errichtet ein harmonisches, dauerhaftes und Rückhalt bietendes Gegenmodell. So wie die Grosseltern.

Ich bin schon zu alt, um hier Schaden davonzutragen. Meine Generation hatte immer genug kinderhassende Singles zur Auswahl, und an ausgehungerten Geschiedenen gab es nie einen Mangel. Wir Harpyen des Scheidungsrechts bekamen die Optionen frei Haus serviert. Und wer in unserem Alter jetzt noch die Kurve und doch Kinder kriegt – und das sind erstaunlich viele – ist ohnehin nicht mehr unbedingt Teil des Beuteschemas. Wir waren bei dieser Entwicklung weg vom Kind früh genug dran, um alle Vorteile mitzunehmen. Jüngere Singles werden jetzt eiskalt von der Familienmode erwischt. Sie gelten nicht mehr als frei und glücklich, sondern als untaugliche Reste, die nicht in der Lage sind, das jetzt geltende Ideal umzusetzen.

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Kurz, junge Familen schauen auf Singles heute so sorgenvoll, wie es unsere Grosstanten taten. Mit Rückblick auf ein gutes Leben am Tegernsee muss ich solche Mäkeleien nicht auf mich beziehen. Generös vermag ich es, mich als Relikt einer grossen, aber vergangenen Epoche zu sehen, und im der Geriatrie treffen wir uns dann ohnehin alle kinderlos wieder: Ich, weil ich keine habe und sie, weil ihre Kinder nur an Ostern, Weihnachten und zum Testamentunterschreiben sogar mit Enkeln kommen. Das ist jetzt gemein, und vielleicht stimmt es nicht, aber nur, weil ich meine Niederlage unumwunden zugebe, höre ich noch lange nicht auf, das Salz des Zweifels in die Wunden der Unsicherheit zu streuen. Allerdings muss man auch den nachfolgenden Singles ganz klar sagen, dass die hohen Kosten und der Leisungsdruck für sie am Ende selten mehr als eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern in einer deutschen Metropole bereit halten werden, in der sie dann Vorruhestand und das lange Elend des Siechtums erdulden müssen, so sie nicht erben.

Denn natürlich bleibt die Klassengesellschaft bestehen und für jeden, der wie ich leben kann, muss es eben andere geben, die das nicht tun – und es sieht sehr danach aus, dass all die emsigen Arbeitsbienen und Drohnen rund um die Königin des Kapitals diese Rolle formschön, aber individuell wenig glücklich einnehmen. Eine Lösung des Problems weiss ich nicht; ganz im Gegenteil, ich halte sie sogar für unmöglich, denn ich will auf keinen Fall lügen. Andere sehen das jedoch anders und sprechen diese Zielgruppe auch punktgenau an: Ich war mal auf der Buchmesse bei einer Lesung von Charlotte  Roche. Zwangsweise, ich wartete am FAZ-Stand auf jemanden, als sie dort auftrat, und auf der anderen Seite war eine Horde von meist sehr schlanken, penibel sauberen und nicht mehr ganz jungen Frauen. Weil ich Vorurteile nicht nur gegen lutheranische Ketzer, slawische Preussen, Balkanbewohner aus Österreich, britische Küche, skandinavische Sexualprüderie und amerikanische Wilde, sondern gegen Jedermann fürsorglich hege, sage ich hier einfach mal: Das waren Singles. Weibliche, mitteljunge Singles aus einem von Verdrängung und Kostendruck geprägten Markt. Gerade die Buchbranche ist voll davon, denn sie ist eines der Traumziele für Frauen und gleichzeitig die Garantie für sich nie einstellende Zukunftserwartungen. Sie müssen so penibel reinlich sein, um Leistungsbereitschaft für die falsche Seite der sich unausweichlich öffnenden Gender Pay Gap zu signalisieren.

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Und sie mögen diese Autorin, die Schmuddel macht. Ihre Bücher sind voll von kaputten Frauen, die überhaupt nicht richtig funktionieren, und deren Dasein wenig erbaulich ist. Noch jede Protagonistin würde man mit Mitte Vierzig bei der Psychotherapie und zum Glück nicht am Tegernsee erwarten. Wie die Autorin selbst sind das Charaktere, bei denen in mir alle Alarmsirenen schrillen: Wer als Single seinen Spass will, will auf keinen Fall die in solchen Unzufriedenen randalierenden Probleme. Die Autorin beschreibt genau das Elend, dessen Vermeidung dem Single möglich ist. Als Single verzichtet man egoistisch auf Familie für den Spass und nicht für das Ertragen des Dachschadens anderer Leute – gewiss, es ist nicht nett, aber es lohnt sich. Im jüngsten Buch wandert die Rochesche Ikone der „Frau mit dem Dachschaden“ nun also ins Familiendasein. Und entwirft ein wie immer und nach dem dritten Schmuddelbuch reichlich gewöhnliches Bild von Verzweiflung und Unzufriedenheit in den neuen Strukturen mit Kindern.

Wer jetzt während der Herbstferien auf den Promenaden des Tegernsees spaziert und die Kinderernte der letzten Jahre sieht, der ahnt, dass dieses Buch keinesfalls junge Eltern ansprechen soll. Es ist ein Buch für uneinsichtige Sklaven des Kapitals, die mehr Karrierewünsche denn Familienträume hatten, aber gerade von steigenden Nebenkosten, Mieten und Preisen abgehängt werden, sich nicht mehr an das neue Ideal heran machen können, und nicht wie Gewinner aussehen. Die freuen sich natürlich, ein Buch zu lesen, in dem eine Frau neben einem Psychoknacks auch frustrierte Gewaltphantasien und schlechten Sex hat. Das ist so wie das Betrachten von Unterschichtenserien im TV: Das Gefühl, dass man zwar noch immer nicht am Tegernsee nebenher sein Geld verdient, aber immerhin geht es einem besser als denen da. In meiner Jugend hätte mir so ein Buch mit dem Scheitern der Familienerwartungen durchaus gefallen. Heute lese ich im Netz die lässigen Sprüche bei sich aufreizend gebenden Mütter, während die Rochesche Kernzielgruppe einsam und verlassen Twitter als kostenlose Alternative zur Therapie begreift. Aber wenigstens steht im Buch, dass es den anderen auch dreckig geht: Sicher sind diese freudestrahlenden Eltern der Realität, die in der Erziehung aufgehen, innerlich von derben Depressionen und finsteren Abgründen zerfressen.

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So ein Buch kann Linderung verschaffen – ich lese ja auch die World of Interiors als Gegenentwurf, wenn mal eine der Gefrusteten bei Twitter erzählt, wie sie unter der Nebenkostenabrechnung leidet. Man flüchtet sich gern in Träume und Phantasien, seien sie für einen selbst schön, oder für andere schlecht. Man sollte alten Frauen keine Vorwürfe machen, wenn sie versuchen, das zu kapitalisieren, denn auch Hedwig Courths-Mahler lebte und dichtete ihre Schmonzetten – wenngleich mit weitaus gesünderem Personal – finanziell gesichert am Tegernsee. Ich habe keinen Zweifel, dass mit den Veränderungen der Gesellschaft auch andere Autoren auf die Idee verfallen, den in die Krise gekommenen Rebellen düstere Schilderungen jener Spiesser zu vermitteln, die weder ein Genderseminar besuchen noch all die Beiträge der Medien über das spannende Leben der Transsexuellen lesen, weil sie vor lauter Ehegattensplitting Urlaube planen müssen. Das Wandern im Laub unter blauem Himmel, das kann es doch nicht gewesen sein, da muss irgendwo ein abgeschnittenes Ohr im raschelnden Laub vom sicher kommenden Unheil künden.

Denn nicht die Hoffnung, die Verwünschung stirbt zuletzt.