Roscoe warf einen harten Blick auf seinen Vater und wandte sich ab.
F. Scott itzgerald
Ich mag Bücher so, wie ich sie in meiner Jugend gelesen habe. Ich mag Übersetzungen, die noch nicht durch die Unschönes glättenden Hände von Lektorzensoren gegangen sind, deren Ziel es ist, Wörter auszumerzen, die das heutige, sensible Auge schlecht gelaunter und sexdefizitärer Leserinnen stören könnten. Deshalb werde ich hier nicht öffentlich schreiben, welchem der Bücher von F. Scott Fitzgerald ich in meiner Jugend das Wort „Nigger“ entnehmen konnte – es stammt jedenfalls aus einer deutschen Übersetzung von Fitzgerald, und man hatte wohl so viel Vertrauen zum Leser, dass niemand befürchtete, er könnte gleich losziehen und dem Ku Klux Clan beitreten. In meiner Jugend stand das einfach so im Original und wurde so übertragen. Zeigte ich nun mit dem Finger auf die Stelle, gäbe es vielleicht böse Briefe weisser Empörter an den Verlag. und mir ist es ohnehin lieber, wenn Sie die Stelle selbst im Gesamtwerk von Fitzgerald suchen. Es wäre auch ein feines Weihnachtsgeschenk.
Dieser „Nigger“ kommt in einer der böseren Geschichten vor, in der ein junger, weisser Mann aus den Südstaaten in einem Ort der Nordstaaten Karriere macht, indem er den Söhnen der besseren Kreise schlechtes Benehmen beibringt. Es ist die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, vieles hat sich verändert, und die jungen Herren möchten modern und mondän wirken. Zu diesem Zweck lernen sie fluchen, Faustkampf und durch den afrikanischstämmigen Diener den Slang, der damals in den Roaring Twenties so beliebt war. Mit dieser erfolgreichen Schule für das Leben in den Metropolen gewinnt der junge Mann das Herz einer Frau, und was aus seinem „Boy“ wird, erfährt man nicht weiter: Der Mohr hat seine Schuldigkeit bei der notwendigen Veränderung der Gesellschaft getan, der Mohr kann gehen.
Denn eigentlich geht es in dieser Geschichte von Fitzgerald um das Thema Veränderung, und unter welchen Bedingungen sie von den besseren Kreisen angenommen wird. Hier findet ein Nachkomme der Sklaven kurz Zugang und darf etwas vermitteln, weil es als schick angesehen wird, dergleichen ebenfalls vorzutragen. Das heisst nicht, dass man sich deshalb ernsthaft auf seine Stufe stellen würde – man nimmt mit, was einem zuträglich ist, wendet das in der eigenen Lebenswelt an, und hält ansonsten die Tür weiterhin geschlossen. Das mag zynisch sein, aber die ZEIT-Autorin, die jüngst die rührende Geschichte eines schwarzen Dealers vom Görlitzer Park veröffentlichte, hat ihm meines Wissens auch kein Praktikum in Hamburg verschafft, mit ergonomischen Stuhl und Klimaanlage, sondern ihn wieder zum Verkauf von Haschisch entlassen, während der Beitrag den Eindruck vermitteln kann, sie wäre mitfühlend und würde, wie das in Zeiten des Sommermärchens en Vogue ist, den Menschen ungeachtet seiner Herkunft in den Mittelpunkt stellen. Ich möchte das nicht verurteilen, mir fällt das nur auf, und eigentlich ist es ja immer so.
Wir nehmen, was uns an der Veränderung passt, zu den Konditionen, die uns zusagen. Elite ist zwangsläufig vergangenheitsorientiert, weil diese Vergangenheit der Urgrund von Reichtum und Prestige ist; die Zukunft und ihre Umwälzungen werden kritisch beäugt und gern anderen überlassen, die dort erst mal Erfahrungen sammeln sollen. Diese Fortschrittlichen – meist Menschen, die nichts zu verlieren haben, weil sie entweder wirklich nichts haben oder die neue Apanage pünktlich am Ersten kommt – wollen das alles ausprobieren, und in der Folge gibt es auch im bayerischen Oberland eine freiere Sexualmoral, ohne dass irgendwer früher gezwungen gewesen wäre, Kommunen beizutreten oder kindesmissbrauchsfreundliche Beiträge im Umfeld der Grünen zu publizieren. In den besseren Kreisen sitzt man selbstbewusst am Lenkrad des Landes und bekommt vom oftmals ruppigen Weg zur Veränderung wenig mit, weil die restliche Gesellschaft darunter die Härten, Fehler und unschönen Erlebnisse abfedert. Konservativ sein heisst nicht, dass man sich der Zukunft verweigert – man möchte sie lediglich unversehrt und gut verpflegt auf einem Weg erreichen, von dem hoffentlich die unschönen Kadaver der gescheiterten Visionäre entfernt wurden.
Das ist, wer möchte es bestreiten, egoistisch, und muss auch so sein, weil die Klassengesellschaft nur so funktionieren kann. Die einen haben eine grosse Auswahl an Bioprodukten aus der Region, und die anderen vergeudeten Jahre ihres Lebens mit Pulloverstricken. Manche kämpften jahrelang für den kommunalen Bürgerentscheid und andere setzen damit ihren Seeuferweg und Privatstrassen hinter öffentlich finanzierten Mauern durch. Die Kunst ist es, Veränderungen so lange kritisch zu beäugen, bis sie Zugeständnisse machen, und die nutzt man mit aller Entschlossenheit für sich aus. Denn irgendwann kommt jede Veränderung in eine Krise, verträgt den Kontakt zur Realität nicht, und verliert die Puste: Dann kann man sich mit ihr zusammen setzen, ihr ein Bier hinstellen und sagen: „Schau mal. So ganz unrecht hast Du natürlich nicht, aber so wird das nichts. So kommen Deine Vertreter nie zu einem Rentnerdasein mit Weingut in der Toskana. Für Deine besten Leute könnten sogar Posten in Stiftungen herausspringen, wenn Du diesen und jenen Extremisten, der Dich dauernd radikalisiert, in Frieden sein eigenes Ding machen lässt.“ Und so singen die einen immer noch in ihrer queerfeministischen Rockband und die anderen kämpfen nicht mehr gegen Männer, sondern gegen Frau Schwarzer und um schlecht bezahlte Juniorprofessuren. Und für Diversity ist man sogar im Automobilbereich immer zu haben, seitdem man weiss, wie gut, strebsam und eloquent Ingenieurinnen aus Nordafrika arbeiten. Es geht voran. In dem Tempo, das einem behagt, mit dem man umgehen kann, das einen nicht überfordert. So zumindest die Theorie.
Die Praxis jedoch will sich nicht mehr daran halten. Wie jemand ernsthaft sagen mag „Das Land muss sich ändern“, anstelle von „es wäre zum Vorteil der Eliten, wenn das Land sich anpassen könnte“, will mir nicht eingehen, selbst wenn es wahr ist: Natürlich muss sich das Land ändern, wenn es die kommenden Belastungen schultern will. Es geht schon los mit dem Bundeswehreinsatz im Inneren, erst bei der Flüchtlingsregistrierung und nun bei der Inneren Sicherheit. Es geht los mit veränderten Bebauungsplänen und der Frage, wie man viele zugezogene Menschen unterbringt. Über Themen wie die Frage, ob man hier Essen halal anbieten muss, wenn wir selbst längst am Freitag Fleisch essen und die Fastenzeit nicht mehr einhalten, wird gar nicht mehr diskutiert: Man ist da einfach weltoffen und tolerant und serviert, was der Koran erlaubt. Das mag, wie jede Veränderung, durchaus sinnvoll sein, aber mein Moment des klaren Nein war der Tweet eines linken Deutschen vor dem Lageso in Berlin, man sollte für ankommende Flüchtlingskinder nur halal Süssigkeiten kaufen, denn sonst dürften sie das wegen der Eltern nicht annehmen. Ich habe so ein Verhalten bei Flüchtlingen niemals erlebt – aber was ich da erlebe, ist durchaus der Wunsch deutscher Progressiver, neue kulturelle Standards zu setzen. Leute, die entsetzt wären, würde man bei uns versuchen, die theoretisch ähnlich strengen christlichen Speisevorschriften durchzusetzen, erwarten nun, dass wir uns anpassen und alles tun, damit andere sich integrieren, während enorm viele dieser anderen den Umstand des freien Alkoholverkaufs in Deutschland begrüssen.
Diese ganze, gerade erst anhebende Debatte um Integration innerhalb der Urbevölkerung des Landes – es ist ja nicht so, dass es bislang irgendeinen Beitrag zur täglich im Edeka in Tegernsee entschiedenen Frage gäbe, ob Syrern Augustiner oder Maxlrainer Hell besser mundet – ist so ein Beispiel dafür, wie nach der Eurokrise und der Globalisierung der Wandel schlecht kontrollierbar wird. Es betraf am Tegernsee niemanden, wenn Menschen in Berlin in Kommunen lebten. Die Veränderung hatte ihren Ort, und das Beharren auch. Heute muss sich das Beharren auf allen Kanälen anhören, das Beharren wäre falsch und hätte in diesem Land der Willkommenskultur keinen Platz. Der Flüchtling und seine angeblichen Ansprüche werden das Stemmeisen, mit der die wohlgeordnete Welt der Privilegienbesitzer aus den Angeln gehoben wird. „Check mal Deine Privilegien“ ist neben „Refugees welcome“, „No borders, no nations“ und „Deutschland verrecke“ eine der vier Grundforderungen der Linksradikalen gewesen. Jetzt kommen sie, weichgewaschen und hinter dem menschlichen Schutzschild von Kinderaugen vor die Mauern der Oligarchie gerollt: Gib etwas ab, kaufe halal, die Bundeskanzlerin hat die Lage im Griff, das Land muss sich ändern. Wer das anders sieht, ist sogleich im Braunverdacht.
Das traurige Ergebnis dieser getarnten Forderungen ist der Aufstieg der AfD in Regionen wie meiner Heimat, wo sie personell zwar kaum existiert, aber trotzdem längst die drittstärkste Partei ist. Weil sie nicht, wie andere Parteien, den Fortschritt im jeweiligen Interesse zu lenken und gestalten versucht, sondern ihn einfach bremsen will. Es gibt Debatten darüber, ob die Uneinigkeit der Union den Aufstieg fördert, aber bei mir daheim sind ja nicht die Dumpfen und Ungebildeten, die sich dort allenfalls einen Tagesausflug an den See leisten können: Das sind die Vermögenden und Wertkonservativen. Diese Leute sehen, dass das alte Prinzip der verzögerten Übernahme sinnvoller Veränderung nicht mehr funktioniert, und auch niemand sie fragt, ob sie das wollen: Praktisch alle Parteien sagen, dass das Land sich ändern muss. Also gehen sie dorthin, wo gesagt wird, dass man die Änderung aufhält, selbst wenn diese Partei dumpf, chaotisch und fern der Lebensrealität ist. Da wird gerade ein innerdeutscher Kulturkampf auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen, mit Migration als Mittel gewaltsamer Veränderung, ohne dass man sich lange mit Demokratie und ihren oligarchischen Grundlagen auseinander setzen müsste.
Ich weiss nicht, ob das schlau ist. Ich weiss nur, dass die „Sauren Kamelhoden“, die mein Gemüsehändler an Flüchtlingskinder verschenkt, nicht halal sind, und dass die Progressiven immer die gleichen Fehler machen: sie bekämpfen die einen Reaktionären mit Verbündeten, die strukturell selbst etwas für Reaktion und autoritäres Verhalten übrig haben. Ein nüchternen Blick würde vielleicht zeigen, dass die bayerische und nahöstliche Lebenswelten, was Fortschritt, Patriarchat und Werte angeht, durchaus Ähnlichkeiten aufweisen. Aber darum geht es nicht, wenn die Enkel der Hippies in Berlin glauben, sie könnten den Kulturwandel durch eine humanitäre Notlage und eine Staatskrise erzwingen.