CYNIC, n. A blackguard whose faulty vision sees things as they are, not as they ought to be. Hence the custom among the Scythians of plucking out a cynic’s eyes to improve his vision.
Ambrose Bierce, The Devil’s Dictionary
Der Realitätsschock im Literaturhaus Graz ist – zumindest für mich – nicht so hart wie in einem Baumarkt. Ich sitze auf einem Ledersofa, trage eine Cashmerejacke und massgefertigte Schuhe aus Verona, und sage dumme Sachen wie: „Ach wissen Sie, Schriftstellerei war von Anfang an eine Privatvergnügen der Vermögenden, das ging Jahrtausende so, bis vor gut zwei Jahrhunderten – da kamen die ersten Berufsschriftsteller auf, die davon leben konnten. Aber Aussterben gehört nun mal zum Leben und es gibt angesichts des Internets keinen Grund, warum wir nicht wieder in diese alte Phase zurückfallen sollen. Die war übrigens gar nicht schlecht, bei der Anfahrt habe ich Musik von Benedetto Marcello gehört – der hat nur zu seinem Vergnügen geschrieben, und das hört man der Musik auch an.“ Meine Sicht der Dinge des Lebens und Verschwindens wird hier naturgemäss nicht geteilt: Andere berichten hier über ihre Mischkalkulation, die es ihnen erlaubt, den Traum des Schriftstellers zu leben. Bücher, Lesungen, Kongresse, Nebenberufe, Förderung.
Schräg über uns residiert, man kann es nicht anders sagen, das veranstaltende Literaturinstitut in grossbürgerlicher Atmosphäre. Sehr schönes, altes Parkett, Stuck, Kronleuchter, ich fühle mich fast wie daheim, und im Hotel, das mich liebevoll umsorgt, haben sie Besteck, das den Namen verdient: Augsburger Faden, gross, schwer, silberglänzend, bedeutungsvoll. Überall sind Anspielungen auf gut situiertes Dasein, Geschichte, Tradition, und nach dem Frühstück, bei dem wir uns verratschen, kommt das neue Grazer Bürgertum: Junge Mädchen mit teuren Taschen, junge Familien mit erstaunlich vielen Kindern und Haarschnitten wie aus „Mad Men“. Coco Chanel hätte hier ihre reine Freude, und wenn die Kinder einmal erwachsen sind, werden sie Erinnerungen in sich tragen, die nicht schlechter als meine sind. Erinnerungen von Sicherheit und an ein verlässliches Leben, das am Wochenende in einem leicht ironisch restaurierten Grand Hotel seinen Höhepunkt findet. Dort logieren die Schichten der Gesellschaft, die sich noch Bücher, echte Literatur und auch den ein oder anderen Literaten halten, und durch ihre Neigungen hinab zur Kunst dazu beitragen, dass man dem, was Autoren sagen, Bedeutung beimisst.
Ihre Kinder fahren, wie die Kinder früher auch, gegenüber am Ufer der Mur mit dem Karussell und dem Riesenrad, bekommen Zuckerwatte und heisse Marone. Zu Weihnachten erhalten sie jedoch ein Smartphone, und ob sie das zum Lesen und zum Erwerb von Büchern nutzen werden, ist hier Gegenstand einer nicht ganz netten Debatte, um nicht zu sagen, eines Streits unter Literaten. Ich habe keine Kinder und betrachte sie ohne falsche Sentimentalitäten: Noch keines hat sich je bei mir auf die Bibliothek gestürzt, alle fragten sie entsetzt, wo denn der Fernseher sei. Andere haben Kinder, und ihre seien da ganz anders. Betonen sie im Literaturhaus, und privat mag ich ja den unerschütterlichen Optimismus. Den braucht man vermutlich auch, wenn man, wie so viele Bürgerkinder, sein Leben im Rahmen der Kultur gestalten will. Reich geboren sein ist da sehr hilfreich, werfe ich in die Runde, und um sie aufzustacheln, sage ich auch, dass ich den Tank meines Autos nicht mit Luft füllen kann. Ich bin gleichzeitig in die Verlässlichkeit und in die Kultur hineingeboren, es gab Sicherheit und alle Bücher, die ich wollte, und sie haben mich für eine normale Karriere untauglich gemacht: Jetzt sitze ich hier und höre mir Lebensentwürfe anderer Menschen an. Es ist wohl unter anderen Bedingungen nicht ganz so einfach, dieses Schriftstellerdasein. Sagen sie.
Je nachdem, aus welchem Blickwinkel man darauf schauen will. Aus Sicht der Syrer, die in Spielfeld , 40 Kilometer weiter südlich mit ihren Plastiktüten in staubige Busse verladen werden, um den letzten Teil der Reise nach Deutschland anzutreten, sind das reine Luxussorgen. Wie das aus Sicht der Menschen aus Sri Lanka sein mag, die nochmal hundert Kilometer weiter südlich vor der slowenischen Grenze auf unüberwindlichen Stacheldraht treffen, mag man sich gar nicht vorstellen. Es ist ein kleiner geographischer Raum, in dem wir uns alle befinden, die einen in ihrer gewohnten Umgebung unter Kronleuchtern und die anderen ausgeleuchtet vom Militär, aber die meisten denken nur daran, wie sie wohl weiter kommen: Die Fliehenden, der Hoffnungsgetriebenen, die Bedeutungsvollen, sie wollen voran, und nur ich sitze unbeweglich da, denn ich fühle mich gerade wohl unter dem Stuck und den Kronleuchtern und die einzige gerade entscheidende Frage ist die Öffnungszeit von Kloster Admont: Macht es wirklich am Sonntag um 2 Uhr schon zu, lohnt sich die Fahrt dorthin nicht, zumal im Norden Schnee liegt. Wäre Italien nicht schöner?
Das ist ehrlich. Ehrlich und verwerflich wie die Aussage, dass man sich gern an die Leser prostituiert, und die Ähnlichkeiten zwischen den Berufen ohnehin frappierend sind: Man muss unterhalten, man darf nicht langweilig sein, man muss den Kontakt suchen und sich einfühlen, besonders im Netz, und ich fühle, während ich das ausspreche, dass sich andere davon überhaupt nicht unterhalten fühlen. So eine unheilige Vita in gerader Linie mehrerer Generationen gut lebender Menschen, mit kleinen Sorgen und grossen Privilegien – das ist ein Affront, das gibt es allenfalls in der banalen Unterhaltungsliteratur. Um mich herum, in den Köpfen der Autoren, herrschen Zweifel und Hinterfragen, die diktatorische Suche nach dem wunden Punkt, und so sie ihn nicht finden – gar kein Problem: Das grosse Privileg des Autors ist es, jedem nach Belieben Syphilis, Furunkel, einen Naziopa, Vorfahren aus dem Balkan oder wenigstens eine anständige psychische Störung andichten zu können. Das war nicht immer so, bei Schnitzler etwa sieht man, wie man grossbürgerliches Bewusstsein mit leiser, aber kluger Kritik verknüpft. Heute muss man als Literat, speziell im deutschsprachigen Raum, schon deutlicher den anderen den Privilegiencheck machen, wenn sie es in ihren goldglänzenden Speisesälen schon selbst nicht tun wollen.Für eine gesunde Härte im Umgang mit dem Publikum. Das soll es ja nicht zu bequem haben. Für Nettigkeiten wird man nicht Stadtschreiber von Leberheim an der Alk.
Und ich sitze dabei und frage mich, wie man das auf Dauer aushalten kann. Diese ständig zu übende Kritik, diesen Zwang zur Verunsicherung anderer Leute in der Erwartung, dass die Gesellschaft sagt: Ja, genau, diese Infragestellung brauchen wir. Die Frage wird drüben in Spielfeld viel eindringlicher gestellt, die Frage entzündet sich an den offenen Feuern, die die Grenze markieren und flackert auf in den Signalen, mit denen die Polizei die dreckigen Busse mit ihrer erschöpften Fracht nach Graz leitet. Wir rühren Zucker in den Tee und denken nicht daran, dass die Weltenläufe noch immer jede Vergangenheit in Geschichte aufgerieben hat, wie vor dem Fenster die Mur den Granit der Alpen zu Staub zermahlt. Das kommt ganz von allein und niemand muss nachhelfen: Die einen verlieren schon, während die Geschichte passiert, und die anderen, wenn die Geschichte nach ihrem Sieg weiter geht und durch den Wandel dennoch alles zerstört, was sie als sicher angenommen haben. Egal ob sie Kerzen zogen, den Zehnten eintrieben oder der kaiserlichen Hoheit zujubelten: Genauso gibt eine enorme, alte europäische Kultur des Buches, und jemand auf dem Podium hofft, dass die Menschen aus Spielfeld die Sprache nun verändern werden, und das sei doch spannend. Ich bin Historiker. Ich sehe da zuerst einmal einen unschönen Kausalzusammenhang von spannende Zeiten und grossen Gräberfeldern für jene, die diese Spannungen nicht überlebten.
Das habe ich nicht gesagt. Ich war ohnehin schon bissig genug. Ich bin, auch wenn man das nicht laut sagen sollte, nur jemand, der seine Privilegien mag und sie nicht abgeben möchte, mit der gleichen selbstgerechten Grundüberzeugung, wie Autoren ihren Platz im Katalog des Verlags nicht anderen überlassen und auf ihren Vorschüssen bestehen, um weiterhin das Spiel der prekären Existenz spielen zu können. Manchmal scheint es mir fast, als wollte man damit kokettieren: Wer nicht dauernd auf der Suche nach Mitteln für sein Überleben ist, kann auch nicht fühlen, was die Erde in ihrem Innersten auseinander treibt. Der Autor als Kanarienvogel im Bergwerk der digitalen Globalisierung, als erster Mann vorn am Chlorgas des internetbasierten Kulturkampfes: Diese gefährliche Rolle mag dem saturierten Publikum wichtig erscheinen. An ihr entscheiden sich die wirklich grossen Fragen. Aber mir persönlich ist die Frage wichtig, ob an einem Kronleuchter geschliffene oder nur gepresste Gläser hängen. Damit bin ich, fürchte ich, untauglich für die bewährte Form der literarischen Weltbewertung.
Alle Lager für Flüchtlinge, sagt der Landeshauptmann der Steiermark an diesem Tag, seien nun überfüllt. Ich bekomme mit meiner höchst angenehmen Begleiterin mit Müh und Not noch einen Platz beim Restaurant „der Steirer“. Das Cafe daneben hat Mehlspeisen und internationale Zeitungen, darunter auch meine, und dort wird entschieden, welches Buch relevant wird, und welche wichtige Krise gerade den Kontinent bestürmt. Im goldenen Saal spielen die Kinder mal mit sich und mal mit ihren Endgeräten, die Eltern passen auf, damit keines ins Buffet fällt und alles umreisst. Das sind die wahren Katastrophen der bürgerlichen Welt, und so waren sie schon immer: Was sollen die Leute denken. Die Leute von der Balkanroute, die gestern Abend nach Graz gebracht wurden, sind jetzt schon auf dem Weg in die verschneite Grenzregion zu Deutschland, Literaten müssen zum Flughafen, und ich entscheide mich, ein paar Tage in Italien zu bleiben. Denn über soziale Verwerfungen kann man vielleicht schreiben, aber echten Klassenkampf muss man leben.
Aber Graz ist wirklich schön und das Literaturhaus befriedigt wirklich alle Wünsche, die man haben kann – nicht nur für Freunde des Stucks wie mich. Da ist demnächst der Austrofred – schade, dass ich nicht dort bin.