Es ist Weihnachten. Und deshalb ist es Zeit, Danke zu sagen.
Danke.
Denn natürlich helfen mir viele Menschen bei meiner Arbeit im Garten der herrschenden Klasse. Es sind Twitternutzer und Facebookkommentatoren, definitiv Nichtkollegen anderer Medien und sonstige moralische Überflieger, Literaten und strukturelle Analphabeten, Aktivisten und soziale Selbstbereicherer, die mir täglich mit Forderungen und Hass auf Bessergestellte zeigen, wie es um den Klassenkampf bestellt ist, der in unserer Gesellschaft tobt. Es ist das Geschützfeuer der gegnerischen Seite, das ihre Stellungen verrät, die ich wiederum mit Spott und Amüsement bedecke. Wie es sich gehört, komme ich jetzt trotz „Danke“ nicht in Frieden, aber mit einem Geschenk. Heute ist schließlich „Boxing Day“, da hat man in England Stiefelknechten und Lakaien auch etwas zukommen lassen. Ich möchte daher ihre Arbeit würdigen, indem ich erkläre, wie all die Beiträge entstehen, die Familienstreit, Unwohlsein und bockiges Verweigern zur Weihnachtszeit zum Thema haben. Manche Zeitungen haben derer gleich drei oder vier im Angebot, und da fragt man sich natürlich, wie so etwas zu einer an sich schönen Zeit passieren kann.
Denn schön ist es wirklich. Wer in diesen Tagen nach Hause, in die tannengesäumte Provinz kommt, den erwartet der Frühling. Störche beschließen, hier zu bleiben, das Sonnenlicht funkelt golden auf sattem Grün, und der Himmel erstrahlt blau. Niemand muss frieren, und für die Mittelschicht, der die Schreibkräfte, die gemeinen Schreibratzen auf Twitter und die Was-mit-dem-iPhone-Peergroups in den grösseren Städten entspringen – für diese Mittelschicht war das Jahr gar nicht schlecht. Es herrscht vielerorts Vollbeschäftigung. Mit den Immobilienpreisen steigt das Vermögen der Hausbesitzer. Es werden wieder mehr Kinder geboren. Deutschland in der Provinz, wo die Mittelständler im Geld ersticken, geht es recht gut. Wirklich. Und dazu noch dieses Prachtwetter draussen und der knisternde Kamin drinnen.
Streit gibt es allenfalls um die Frage, ob nun die Christbaumkugeln von der Tante Betty oder von der Frau Gertrud verwendet werden sollen. In kluger Voraussicht haben die Mütter sich über vegane Kost schlau gemacht, damit das Problemkind – das, für dessen Miete man noch bürgt, das kein geregeltes Einkommen hat und sehr viele tolle Medien durch Praktika kennt – keinen Anlass zum Maulen hat. Es soll über sein eigenes Essen nicht maulen, und nicht über das Essen der anderen, das ausschliesslich aus heimischen Biozutaten besteht und für das – im Gegensatz zu Soja – auch kein Urwald gerodet wurde. Man lernt dazu, und lernt sich verteidigen: Das Essen ist stets ein willkommener Anlass für Konflikte, die immer dann ausbrechen, wenn das Kind gesehen hat, dass Schulfreunde inzwischen ihr eigenes Haus bauen.
Es trennen sie eigentlich nur ein paar Jahre und Selbstfindungen und Neuorientierungen; die einen machten was mit Automation und die anderen sind nach einigen Umwegen nun in der Lage, auch bei grösseren Medien für kleineres Geld zu schreiben. Die einen haben Schulden bei der Bank und die anderen beim Vermieter. Die einen sind jetzt hier und können nicht mehr weg, und wenn sie den anderen anbieten, doch einmal vorbei zu kommen und sich das Haus anzuschauen, dann kennen sie eben nicht die Freiheit, morgen nach L.A. oder Hamburg zu ziehen, um spannende neue Projekte zu machen, für die man schon fleissig, wenngleich unbezahlt, aktivistisch im Netz schreibt. So ein Haus mag vielleicht als Vermögen absolut sein, aber damit hängen die Erbauer eben auch lebenslang aufeinander und haben keine Chance auf heisse Abenteuer, die die Jouralistin vom Durchblättern bei Tinder zu kennen glaubt, wenn sie mit Pizzakartons und Milben als Bettgenossen gut versorgt die Nacht verträumt.
Da nimmt es doch niemanden Wunder, wenn auf kleinste Streitereien sehr genau geachtet wir. Da kann sich noch eine Spaltung entwickeln, vermutlich sind das nur Risse in einer dem Untergang geweihten, bürgerlichen Fassade, das kann doch gar nicht gut enden, wenn man drei, vier Jahre voraus denkt. Metropolitane Millenials kennen das, ein dummer Satz und zack, ist das ehemalige Idol entfolgt und verachtet. Jetzt mögen die anderen noch Händchen halten und sich frohgemut über den Kinderwagen beugen. Aber bald sind die Kinder grösser, sie werden psychische Probleme entwickeln und zum Sprengsatz für jedes Fest. Wer wüsste das besser als die Millenials, haben sie doch als Teenager mit ihren Gewichtsproblemen jahrelang zuverlässig jede Feier zum Scheitern gebracht. Weihnachten 2007, als endlich mal ein Freund vorzuweisen war, der sich auch vorstellen wollte, und kurz vorher abgesägt wurde – dieses Weihnachten mit der unvorsichtigen Frage von Tante Betty, ob das so eine kluge Entscheidung war – ging ohnehin in die Annalen der Familie ein. Familien streiten nun mal an Weihnachten. Das war schon immer so und wird den anderen ganz genau so passieren – denken sich Medienmacher und ignorieren nachher bei der Christmette den Anschlag an der Kirche, der eine reichlich effiziente Ehevorbereitung anbietet.
Ignoriert wird auch das Taferl mit den Gefallenen, auf dem auch Grossonkel Hans steht. Das ist nämlich so eine Sache, daheim in der grossen Stadt in den bewussten Zirkeln: Dass der Hans nämlich nicht gerade beim Widerstand war. Früher wurden an Weihnachten noch so etwas schwierige Geschichten über diese schlechte Zeit erzählt, die in den Metropolen besser keiner wissen sollte. Schließlich war der Vater vom Hans auch noch leitender Reichsbahnangestellter und wohl auch in Polen. So genau hat man da nie gefragt und das ist ja auch der Grund, warum man hier nicht sein will und sein kann: Neu ist das Leben in den Hochhausschluchten, international der Umgang, Englisch die Lieblingssprache und frei von Heimat die Küche. Nichts erinnert dort an die alte Zeit, alles ist aufregend, wenngleich es nicht ganz so aufregend wie der Pfändungsbescheid wegen der Miete sein sollte – das war kein guter Gedanke. Alles zu friedlich, zu satt und zu bequem hier. Es ist Zeit für die Nuklearoption des weihnachtlichen Erstschlags, Zeit, über den eigenen halben Nachmittag am Lageso bei den Flüchtlingen zu reden und denen hier mal zu sagen, in was für einem faschistischen Vermieterdrecksforderungsland sie eigentlich leben. Wie sehr ihnen die Empathie fehlt, wie verlogen sie in ihrem beschränkten Wohlstandsidyll sind.
Die Familie hört sich das alles an und sagt dann – nicht das Erhoffte. Kein „Ich bin ja kein Nazi, aber…“. Die Tante Friede sagt etwas ganz anderes, dass man das so pauschal nicht sagen kann, denn im nahen Rockolding, einem Dorf mit 800 Einwohnern, sollten 150 Flüchtlinge untergebracht werden. Das ist schon deutlich mehr als in Berlin. Also gab es eine Bürgerversammlung, auf der die CSU-Bürgermeister für Verständnis geworben haben, und die Caritas die Dorfbewohner bat, freiwillige Mitarbeiter zu stellen. Dann haben die Helfer sich in der Vorweihnachtszeit engagiert, um das Lager zum Laufen zu bekommen. Fast hätten sie es geschafft, aber als am 22. Dezember die Flüchtlinge kamen, die es zu beherbergen galt, waren sie bei aller Leistungsbereitschaft noch nicht ganz fertig. Jedenfalls hat dann eine grössere Gruppe sofort mit der Randale begonnen, mit Hungerstreik gedroht und verlangt, nach München gebracht zu werden, weil sie dort arbeiten und studieren wollten. Dabei wurden Betten zerlegt und Matratzen geworfen, und den Helfern das Essen vor die Füsse gekippt. Das sei schon etwas schockierend für Leute, die eine Tombola für Flüchtlinge organisierten und in ihrer Freizeit die Unterkünfte gebaut hätten, für die Mitarbeiter mit all den geleisteten Überstunden, zwei Tage vor Weihnachten. Ja, so ist das hier, gar nicht so leicht mit der Empathie.
Zum moralischen Kriegführen braucht es immer zwei, den bösartigen Angreifer und das nichts ahnende Opfer – aber wenn es so gut vorbereitet ist und seine Aussagen auch noch mit der Tagespresse belegen kann, macht das moralische 5.45-Uhr-Zurückschiessen keinen Spass. Auch Konsumterror fällt dieses Jahr als Konfliktanreiz aus, ist der Besuch doch mit der Hoffnung der Rückstandsübernahme verknüpft. So verwundbar, so dumm, so geistlos ist diese Heimat, an allem gäbe es etwas auszusetzen. Allein, sie weigert sich standhaft, auf den Streit einzugehen und schweigt auch zur Frisur, die die P. daheim in Neukölln mit einem Topf, einer Haushaltsschere und modischem Blau kreiert hat. Die Hoffnung, dass das Kind hier neu anfängt und vielleicht doch einen netten Partner findet, ist längst erloschen. Es ist erwachsen, zumindest laut Altersangabe im Pass, die Mietschulden werden ohne Bemerkungen über Bausparverträge beglichen, es bekommt Geschenke und drei Hunnis für die Fahrkarte, obwohl es eine Mitfahrgelegenheit gibt. Es ist friedlich, und für die, die bleiben, ist es schön.
Aber gleich geht es zurück in die grosse Stadt, wo die drei Scheine für das verlorene Aschenputtel von demselben in eine rauschende Silvesterorgie umgewandelt werden, für all die anderen Nazienkel aus der Provinz, die in der grossen Stadt erzählen, wie bäh und doof und zurückgeblieben das daheim gewesen ist. Und wie sie die Nazis und Spiesser in die Schranken gewiesen haben. Die haben Geld, aber sie haben Moral. Daraus kann man lernen. Vielleicht will die Zeitung für diejenigen, die in der Provinz bleiben, noch einen weiteren, spitz formulierten und gerechtfertigt bösen Beitrag veröffentlichen: „So überleben Sie Silvester im Kreise der Familie“, „Die zehn besten Argumente gegen ihren Nazionkel“, „Scheidung nach dem Neujahrskrach: Das müssen sie dem Familienrichter unbedingt sagen“. Damit dieses Land endlich erkennt, wie trist seine Existenz wirklich ist. Denn es kann und darf nicht sein, dass da welche im Warmen sitzen, lieber Einrichtungszeitschriften lesen, den Garten bepflanzen und ab und zu auch lächeln, wenn in der FAZ steht, dass manche Verlierer und Abrutschende ganz allein dafür verantwortlich sind, in einem Land, das wirklich gut und freundlich sein kann, wenn man es nur ein wenig so sein lässt.
Danke. Danke den Lesern und Kommentatoren dieses Blogs für das Vergnügen, für sie schreiben zu dürfen.