Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Prügeleinsatz und Integrationsarbeit

Die grössten Kritiker der Eiche wollen rustikalen Reiche

Meine Heimatstadt ist klein und dumm und liegt an der Donau. Internationale Magazine behaupten zwar, sie sei eine der führenden Wachstumsregionen und ein Magnet für Karrierebewusste, aber ich komme von hier, meine Familie lebt seit vielen Generationen hier, wir haben den langfristigen Überblick und wissen, dass sie klein und dumm ist. So war es schon immer, und ganz ehrlich, mir ist es lieber, wenn eine Stadt klein und dumm ist, statt gross und sehr dumm und versifft und von ungepflegten Menschen bewohnt, die das für das angemessene Lebensmodell des ganzen Landes halten. Vor elf Jahren war ich noch in einem Ort namens Berlin a. d. Spree, da vertritt man diese Meinung, weil man nie rauskommt und mit dem Fahrrad eine Stunde braucht, bis man etwas erreicht, das man als „Natur“ bezeichnen könnte. Das ist in der kleinen, dummen Stadt an der Donau anders; Dort bin ich nach fünf Minuten in Landschaft und nach 20 Minuten auf den ersten Hängen des Jura. Auf kleinen, verkehrsfreien Strassen.

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Danach gehe ich zum Konditor, denn 40 Kilometer in der winterlichen Kälte zehren an der lebensnotwendigen Fettschicht. Und an diesem Sonntag fragte mich die Verkäuferin etwas, das sie mich lang schon einmal fragen wollte: Sogns amoi, warum homs eigndli imma an Prigl hindn in da Doschn dabei? Auf Deutsch: Entschuldigen Sie bitte meine unstillbare Neugier, aber warum führen Sie in der Rückentasche ihrer Lycrabekleidung immer einen Prügel mit sich? Mit Prügel meinte sie eigentlich ein „Steckerl“, also einen gut 40 cm langen Ast. Und tatsächlich schaut so etwas stets bei mir hinten hinaus, und an diesem Prügel und seiner Verwendung nun entzündet sich die Frage, was Intergration in diesem Land bedeuten kann, und welche Standards da gesetzt werden müssen. Denn der Grund, warum ich einen Prügel mit mir herumschleppe, ist einfach: Wenn ich keinen mit mir führe, werde ich in der Natur keinen finden.

Zumindest nicht entlang meiner normalen Radstrecke, die vor allem über offenes Land führt. Dort aber brauche ich einen Stock, weil ich gern Bilder von meinen Rädern mache. Das ist so eine Marotte von Sammlern, die viele Stunden aufwenden, um aus alten Schrotthaufen wieder funkelnde Schönheiten zu machen, und das Problem ist, dass Rennräder keine Ständer haben. Man muss sie also entweder irgendwo anlehnen, was auf Bildern aber meistens nicht gut wirkt, oder man klemmt einen Stock in die Kurbel, und stellt sie so in die freie Natur. Die grosse Herausforderung für solche Bilder ist nicht die richtige Blende – hier f2 – oder die Brennweite – 100 mm – oder das Objektiv – Pentax M – sondern die Beschaffung eines Stocks.

Das merke ich nämlich, wenn ich einmal den Stock vergesse und dann entlang der ersten zehn Kilometer meiner Runde nach einem Ersatz suche. Wenn ich keinen Ast abbreche, was ich aus Prinzipien der Naturfreundschaft unterlasse, muss ich einen Ast suchen, der abgebrochen ist. Das klingt angesichts der Strassenrandbegrünung mit Hecken, Streuobstwiesen, alten Apfelbäumen, Bäumen bei den vielen Kapellen und Marterln, Fussballplatzbegrenzungen und Schrebergärten einfach. Irgendwo, sollte man denken, muss doch ein Ast herumliegen. Letztes Wochenende war es wieder so weit, da hatte ich meinen Prügel vergessen und gedacht, ich werde schon etwas finden. In Irgertsheim hinter der Kirche ist schliesslich ein Zwickel zwischen meiner Strecke, die auf der Jurahöhe verläuft, und der Strasse, die ins Donautal führt. Dazwischen liegt ein hundert Meter langes Reservat mit alten Obstbäumen, Holunder, Schlehensträuchen – so wie das früher eben an den Wegrändern war. Hier hat sich das noch gehalten, und da hat es sicher auch Prügel, die für meinen Zweck taugen.

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Hat es auch. Ich bin ganz langsam gefahren und habe genau geschaut. Es hat Prügel. Zwei. Einer war zu kurz und schon weich und morsch. Der andere taugte für meinen Zweck. Und wenn Sie mich jetzt fragen, was das Deutschland ausmacht, in dem ich lebe, würde ich sagen, dass es diese Hecke ist, und der Umstand, dass darin im Februar auf hundert Meter Länge nur zwei Holzstücke beim Aufräumen übersehen wurden.Zigarettenschachteln, Flaschen, Coffee2go-Becher – gibt es hier gar nicht. Es ist nur eine kleine Baumlandschaft einer kleinen, kaum befahrenen Strasse. Trotzdem gibt es hier jemanden, der das so sauber hält, dass ich mit Müh und Not einen passenden Prügel finde. So sauber ist das hier gemacht worden.

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Mir ist das auch meistens nicht bewusst, es fällt mir erst auf, wenn ich so einen Stock brauche. Vor drei Jahren habe ich mir einen Reifen zerschnitten und hätte ihn mit einem untergelegten Stück Plastik so weit stabilisieren können, dass sich sicher nach Hause komme: Meine Suche nach einem passenden Stück Müll am Strassenrand begann in Bergen und endete in Attenzell fünf Kilometer weiter, als ich aufgab und einen Landwirt um ein Stückerl Plastik bat. Auf fünf Kilometer in Berlin hätte ich ARD-oktoberfestlügenstatistisch 9 alte Kühlschränke, 70 Matratzen, 24 Sofas, 92.779 Stücke Plastikmüll, 42 Dealer mit afrikanischer Herkunft, 27 angekettete Fahrradleichen und Dutzende hilfsbereite Jugendliche gefunden, die mir für 200 Euro ein ganzes neues Rad beschafft hätten, dauert nur zehn Minuten Batschi. Man wird sich also zumindest darauf einigen können, dass die Vorstellungen von „ausreichender Sauberkeit“ in Deutschland weit auseinander liegen. Aber wir müssen auch sehen, dass ein ordentlicher Bayer im Slum an der Lage nichts verschlimmert. Umgekehrt wäre das ganz anders. Und deshalb möchte ich hier die Frage aufwerfen, ob großstädtisch entsozialisierte Leute – eine Personengruppe, in der sich viele Wasmitmedienmachende finden – wirklich den richtigen ethischen Rahmen kennen, der in dieser Frage bei uns die Grundlage jeder Debatte ist.

Ich habe nämlich massivste Zweifel, ob das Volk, das einen Kasten Wasser am Lageso für Hilfe und den Kauf von Tabletten bei Achmed dem Senegalesen im Görli für gelungene Integration in die Wirtschaft hält, bei uns selbst irgendwie integrierbar wäre. Wer auch nur eine Augenbraue oder einen Mundwinkel bei der Beschreibung sauberer Hecken verzieht, hat das falsche Mindset für meine Heimat, und von diesen Heimaten gibt es in Deutschland sehr, sehr viele. Die Menschen hier finden das gut. Die Bürgermeister bekämen Probleme, würden sie es anders machen. Und dann ist da noch der Punkt, dass man sich hier – wirtschaftlich und moralisch oben – sagt: „Andere sind für uns kein Maßstab.“ Der Umstand, dass es Berlin gibt, erlaubt keinem, hier etwas wegzuwerfen. Natürlich ist das ein hohes, weltweit kaum gekanntes Niveau – aber die Leute hier reagieren sehr sensibel darauf, wenn es nicht mehr eingehalten werden sollte. Hinter der Hecke kommt ein Neubaugebiet, voll mit jungen Familien: Die Gärten sagen alles über den Stellenwert von Zucht, Sitte und Ordnung.

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Und das in einer Region mit einem Ausländeranteil, der ähnlich hoch wie in Berlin ist, und starker Migration aus Restdeutschland – echte Bayern stellen hier kaum noch die Mehrheit. Was sich hier zeigt ist, dass eine gemeinsame Herkunft weitaus weniger relevant als gemeinsame Lebensvorstellungen ist – so, wie das Opernpublikum international ähnlich ist und Drogenabhängige überall vergleichbares Sozialverhalten an den Tag legen, so ist man sich hier eben über den wünschenswerten Zustand der Hecke einig. Das ist noch lange nicht die Anspruchshaltung der hiesigen Oberschicht, sondern die banale Realität, die man sich erst bewusst macht, wenn man einen Stock braucht. Das muss man klarstellen, wenn man wirklich von Integration spricht: Diese Hecke definiert den Normalzustand, zu dessen Einhaltung jeder ohne Rücksicht auf Stand und Herkunft beizutragen hat, der integriert sein will. Wer meint, dass Berliner oder Duisburger Standards auch schon reichen, um Teil der Gesellschaft zu werden, muss fairerweise auch vermitteln, dass solche Abstriche oder gar Verhandlungen um weitere Absenkungen nur dort gemacht werden.

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Der hiesige Standard tut nicht weh, man kennt das nicht anders. Es gibt genug, die sich hier integrieren und von den Vorteilen des Systems profitieren wollen, und andere, die das nicht wollen: Die suchen sich dann einen Ort, an dem sie sich die Freiräume nehmen, die ihnen geboten oder mangels staatlicher Ordnung nicht verweigert werden. Das ist nichts Neues, nur so funktionieren Failed States. Aber man sollte sich schon bewusst machen, dass diejenigen, die leichter Integration das Wort reden und glauben, dass wir das schaffen, sehr eigene Zielvorstellungen und keine Ahnung von unseren Hecken und ihrer normativen Allmacht haben. Möglicherweise steht dem Land deshalb eine grössere Debatte um die kulturellen Grundlagen bevor, und unten, im Donautal, ist der Eichenwald voll mit der regionalen Unterart Quercus alapam ducens. Da bedient sich der Eingeborene, wenn er keine Steckerl, sondern wirklich Prügel schlagende Argumente braucht.