Ich habe ein Rennrad gekauft.
Manche Stammleser werden jetzt grinsen, weil sie wissen, dass ich schon mehr als ein Rad habe. Die genaue Zahl kenne ich nicht, aber an einem Ort ist ein Speicher voll und an einem anderen ein Keller. Ich habe wirklich viele Rennräder, die meisten sind eher älter – man könnte sie als Erfüllung von Jugendträumen bezeichnen. Gerade eben habe ich eines verschenkt. Das ist der Beweis, dass ich nicht habgierig bin, ich schraube nur gern und fahre auch gern. So, wie manche gern zur Beruhigung in den Biergarten radeln und Bier trinken.
Das ist es: Ein 1974er Capelli, und es ist ganz oben oberhalb meines Wohnortes, auf dem Berg von Lecchi über Staggia Senese. Es gehörte früher einem passionierten Rennfahrer, und er hat es verkauft, weil er zu alt dafür wurde. Aber immerhin, von 1974 bis 2016 hat er sich damit, so weit es ging, bewegt. Es ist ein phantastisches Rad dieser Epoche, alle Komponenten sind hochwertig, das Aluminium funkelt noch, der Lack schimmert und die berüchtigten Galli Super Criterium Bremsen mit ihren teuren Titanachsen sind bergab lebensgefährlich weich. Speziell hier, wo es steil bergab geht. Von einer scharfen Rechtskurve auf eine enge Brücke, auf der kein Rennradler mit einem Auto zusammen Platz hat. Diese Kombination aus miserabler Bremse, altem Gummi, schlechter Strasse und wenig Platz kann natürlich auch schon mal die Lebenserwartung drastisch senken, aber den Beitrag schreibe ich unten in Staggia, und ich habe überlebt. Das ist schon einiges.
Denn langsam komme ich in das Alter, in dem die statistische Unwägbarkeit meine Anwesenheit auf Leichenfeierlichkeiten von Menschen erfordert, über die man nicht mehr sagt “er hat noch gelebt?“, sondern “er war doch noch gar nicht so alt“. Hier in Italien kleben noch immer die grossen, öffentlichen Todesanzeigen an den Wänden, zwei etwa an der Pizzeria, wo mein Weg vor Castellina in Chianti abzweigt und nach einem 14%er bergab wieder einen 14%er hoch nach Lecchi führt. Da entwickelt man einen Sinn dafür, wie schnell es gehen kann. Und wie langsam, wenn der Berg sich auftürmt. Und wie man körperlich so drauf ist, in der, geben wir es zu, Ouvertüre zur zweiten und vermutlich auch letzten Lebenshälfte. Ein älterer Herr würgt, keucht und jammert sich den Berg zur Pizzeria hoch, und deutsche Touristen meines Alters denken sich in der Pizzeria, dass diese Italiener einen an der Klatsche haben, sich bei diesen Temperaturen so zu schinden. Da bin ich also mitten im Leben vom Tod umfangen. Und nur wenn ich mich im Gegenlicht vor der Toskana so sehe, könnte ich auch noch deutlich jünger sein. Allein, dem ist nicht so.
Mit 30 ist man auf dem Gipfel seiner Kräfte, mit 80 – oder bei mir, weil ich vermögend bin, auch erheblich später – liegt man stocksteif bereit für den Leichenwurm. Macht also 50 Jahre, statistisch verliert man pro Jahr 2% Leistungsvermögen, Geschmeidigkeit, Reaktionsschnelligkeit und Beweglichkeit. Das geht ganz langsam, weshalb auch immer noch ein hippes Craft Beer oder ein Wodka hinter die zum T-Shirt-Kragen mutierte Binde passt, ohne dass man wie ein Suchtl wirken würde. Tourenradeln im Alter geniessen die meisten nun mal auf einer Terrasse sitzend mit Blick auf Geschundene, und die Veränderungen sind auch nur ganz langsam. Man merkt das vielleicht im Abstand von 4, 5 Jahren, wenn man sich erinnert, was früher mühelos ging und 1000 Craftbeere a 5 Euro die Flasche später nicht mehr geht. Fünf Jahre sind in unserem Alter schon 10% Restlebenslaufzeit, da gehört der Verschleiss dazu, sagen manche und nehmen noch einen Schluck.
Es ist eine ganz leichte abschüssige Gerade, die zur Leichenstarre führt, und es ist wirklich erstaunlich, was so ein Körper manchmal alles wegsteckt. Der eine wird vom Teer zusammen gehalten und steinalt wie Helmut Schmidt, und der andere verstirbt früh auf dem Jägersitz, ohne den Sturz des Kommunismus erleben zu können, wie Franz-Josef selig. Das ist Statistik. Der Rest ist geschicktes Marketing. Etwa, dass Craft Beer irgendwie natürlicher sein soll, oder light Zigaretten wirklich light, oder das Schmerzmittel Cannabis nur selten blöd macht und nicht zu Crystal Meth in Berlin führt. Und Fahräder?
Das hier ist Monteriggioni. Monteriggioni ist die Grenzfestung von Siena gegenüber der Florentiner Festung von Staggia Senese. Staggia ist durch einen Fluss geschützt, Monteriggioni durch einen steilen Berg. Und immer, wenn ich zur l’Eroica fahre, führt hierher meine erste Testrunde. Staggia → Monetiggioni → Abbadia Isola → ein Schotterstück Via Francigena → Val di Elsa → über den Höhenzug zwischen Val di Elsa und Staggia zurück. Ein kleiner Vorgeschmack auf die Grausamkeiten, die da kommen werden. Monteriggioni jedenfalls hat einen enorm knackigen Anstieg, den niemand auf dem Rad fährt und einen weniger knackigen Anstieg, der fahrbar ist und um so steiler wird, je höher man zum Gipfel kommt. Man hat das Schlimmste, wie auf vielen Hügeln der Toskana, immer noch vor sich, man gewöhnt sich nie an die Grausamkeiten, die da kommen. Es fahren, wie gesagt, nur wenige Menschen mit dem Rad hier hoch, und am Übelsten ist es direkt am Tor,. 2010 bin ich mit einer Übersetzung von 39 vorn 26 hinten irgendwann abgestiegen. 2014 hatte ich ein Rad mit Untersetzung dabei, damals ging das einfach – und kaufte danach ein De Rosa mit 39/26. Und schaffte es hoch, mit brennender Lunge. Das Capelli nun hat, anderthalb Jahre Schinderei weiter, 41 vorn und 23 hinten. Und ich komme hoch. Und niemand schaut mich, wie früher, entsetzt oder mitleidig an. Ich gehe aus dem 42 Jahre alten Sattel, presse alle Kraft in Lenker und Pedale, und sage T-N-T Hey Hey und explodiere, so empfinde ich das wenigstens, wie eine Feuerfettwalze da hinauf. Direkt auf die Dämonen meiner Schwäche am Tor zu, die mich früher ausgelacht haben.
Die Leute schauen wirklich anders, wenn da einer nicht mehr absteigt, sondern über die ganze Toresbreite hin und her fliegt und aussieht, als würde er mit gefletschten Zähnen die Haxen abnagen. Auch Ältere in meinem Weg werden plötzlich behende, wenn ich zum Sturm ansetze. Ich habe es selbst probiert und 400 Euro für ein eigentlich vollkommen sinnloses Rennrad ausgegeben, und niemand kann das verstehen. 39/26, 41/23, das sagt den meisten Menschen überhaupt nichts, so wie sie sich die 2% Verlust jedes Jahr nicht vor Augen halten. Und es bedeutet auch nichts, wenn man jung ist, und der Körper schnell wieder schlank und geschmeidig und aufnahmebereit für das nächste Bier wird. Aber ich bin seit dem Herbst 2010 über fünf Jahre älter geworden und habe gute Menschen sterben sehen. Ich fahre mit anderen, die in meinem Alter erheblich stärker und schneller sind. Ich werde nie zur Spitzenliga gehören, aber dennoch war Monteriggioni vor 6 Jahren ein Dämon, der mich bremste. Jetzt brenne ich darüber hinweg, obwohl ich 20% mehr Kraft aufbringen muss.
Das wurde mir wahrlich nicht in die Wiege gelegt: Ich war gut begründet unter Franz Josef Strauss für den Barras untauglich, und wenn ich das dort hoch schaffe, schafft das eigentlich jeder. Trotzdem stehen da oben E-Bikes und Amerikaner keuchen sich hoch, Japaner schützen sich vor der Sonne und Deutsche stopfen etwas in sich hinein. Hier sind hunderte. Einer ist mit dem Radl da, und mit schweissverklebten Augen und wie Pech stinkend sehe ich Tote, viele Tote. Mit Puls 180 kommen die Visionen der Pilger, auf deren Spuren ich wandle, ganz von allein. Manche, die sich damit auskennen und ihre Dämonen mit Gift betäuben, sagen mir, was ich erzähle, klänge ein enig wie im Drogenrausch. Wenn es so ist, dann sollten diese Leute statt Alkohol, Zigaretten, Street Food und Crystal Meth mal einen hohen Alpenpass probieren. Das ist Höllenfahrt und Auferstehung in Einem.
Mitten im Leben sind wir alle vom Tod umfangen, niemand kennt Ort noch Stunde, aber ich kenne jetzt die Übersetzung, mit der ich hoch nach Monteriggioni komme. Dafür musste ich ein Rad erwerben, und keiner der Jungen ohne Gebrechen kann es verstehen. Sie wissen noch nicht, wie es sein wird, wenn die Dämonen sie als leichtes Opfer gejagt haben, an jeder Steigung, an jedem Berg. Niemand ausser mir kann sie in Monteriggioni erkennen, niemand kann es nachempfinden, wie es ist, wenn man die Dämonen dann endlich vor sich hat und wie Gottes strafendes Schwert über sie kommt. Ich peitsche nicht mein Rad durch das Tor, sondern meine Dämonen. Dafür habe ich die funkelnde Geissel aus Stahl und Leichtmetall bezahlt. Dafür bin ich wieder hier.
Natürlich kann man sich mit den Dämonen gut stellen, und sie auch wohldosiert aus der Flasche nehmen, in Venen spritzen oder rauchen. Man kann von den anderen Fat Acceptance verlangen und behaupten, Fett sei politisch und eine Normschönheit Unterdrückung. Jede angefressene, angesoffene Zelle sei wertvoll, Recht auf Rausch und bitte keine Regeln für Drogen. Dann kommen die Dämonen aber irgendwann wieder, stärker als je zuvor, beim Absturz, beim Schuheanziehen, bei der ersten Treppe, in der Bandscheibe, und die Gesichter werden fahl und grau, als wären es Mitglieder der Bundesregierung. Man entkommt den Dämonen nicht. Die Pilger, die auf dieser Strasse nach Erlösung und Vergebung suchten, wussten das noch. Man muss sich den Dämonen irgendwann stellen, oder sie reissen einen zur Hölle hinab. Wir aufgeklärten Atheisten und Ungläubige haben keine Hoffnung auf eine Ewigkeit, die uns danach noch bliebe. Das ist der Preis, den wir für diese Epoche bezahlen: Es gibt in dieser unserer absurd reichen Welt keine Erlösung als Gratisbeigabe. Aber die Dämonen sind in allen Ritzen und Ecken des Daseins geblieben, und warten auf die Schwäche.
Es gibt nur das, was uns die Dämonen antun.
Oder wir den Dämonen.
Sie sollten ein wenig mehr für ihre Gesundheit tun, liebe Leser.