So schnei schdiabd da Mensch ned
Meine Grossmutter
Mit einem leisen Schmatzen versinken meine Schuhe im Schlamm, Der Himmel ist graublau, die Luft ist feucht vom Starkregen der Nacht, und um das Auto herum breitet sich eine Sumpflandschaft aus. Es ist wirklich sehr früh am Morgen. Hinter mir liegt eine unruhige Nacht und vor mir der Anlass, warum ich schlecht geschlafen habe. Etwas mehr als 105 Kilometer auf dem Rad.
Das klingt nicht so schlimm. 105 Kilometer werden die meisten schon schaffen, wenn sie einen Tag Zeit haben. Erschwerend kommt hinzu, dass das Rad historisch sein muss. Meines ist 40 Jahre alt. Und so alt sind auch die Bremsen, was ein Problem ist, denn die Strecke ist nicht gerade eben. Zwischen Start und Ziel in Buonconvento, südlich von Siena, liegen mehr als 2000 Höhenmeter. Das ist in etwa so viel wie zwei Mal der Jaufenpass über die Nordrampe von Sterzing aus. Und die Mehrheit dieser Höhenmeter werden auf grobem Schotter absolviert, egal ob bergauf oder bergab. Und deshalb schmilzt die Gruppe praktisch aller Menschen, die 105 Kilometer radeln könnten, heute auf anderthalb tausend zusammen, die bereit sind, sich die Strapazen anzutun. L’Eroica heisst die Veranstaltung.
Ich weiss, was ich hier im Schlamm tue. Vier mal habe ich teilgenommen, vier mal bin ich angekommen. Beim ersten mal habe ich mein müdes Fleisch wieder und wieder gegen verregnete Berge geworfen und auf einer Spur Blut und Schweiss nach oben gezerrt. Die Berge wollten nicht so wie ich und der Körper wollte auch nicht. Ich habe überlebt, aber es fühlte sich wie der Tod an. Tot ist man, wenn der Körper aufgibt. Dieser mein Körper und die Berge, die wollten mich damals tot machen. Danach habe ich viel trainiert und gelernt, mich mit den Bergen abzufinden. Trotzdem bin ich bei den nächsten Terminen wieder am Ende wie ein nasser Sack vom Rad gefallen. Jedes Mal dachte ich ans Aufgeben. Jedes Mal musste ich den Körper irgendwie über diese verdammten Berge schleifen. Auch im letzten Herbst im Regen, in 70 verdammten Kilometern im Dauerregen. Immerhin, es war das erste Mal, dass ich am Ende nicht wie ein nasser Sack umgefallen bin.
Und nun stehe ich wieder in Buonconvento, und die Schuhe versinken im Schlamm. Regnen soll es den ganzen Tag, sagt der Wetterbericht. Ich könnte daheim im Bett liegen und schlafen, ich könnte den Dom von Siena besuchen, ich könnte schlau sein und mir sagen: “Lieber Mann, Du hast vor diesem Tag einen Monat mit dem Training ausgesetzt. Zuerst warst Du drei Wochen mit dem Auto in Italien, und dann mit schwerem Heuschnupfen daheim in einer verriegelten Wohnung. Du bist keinen Meter gefahren. Du hast Asthma, ein Bein ist zu kurz und die Füsse sind unterschiedlich. Geh nach Hause, lass Dir ein Attest schreiben und Dich als behindert einstufen, und kauf Dir vergünstigte Fahrkarten mit dem Zug. Da kommst dann auch überall hin. Es gibt Leute, die aus ihrer Behinderung erfolgreiche Blogs machen! Kein Schulkamerad würde Dich je hier erwarten. Du musst niemandem etwas beweisen. Das hier ist so ziemlich der letzte Ort, wo ausgerechnet Du jetzt sein müsstest. Und Du weisst, dass Du jetzt nur leiden, leiden und nochmals leiden wirst.“
Aber genau das ist es: Dass alle, die einen früher beim Fussball spielend leicht umtänzelten, die einen beim Laufen zurückgelassen haben und so mühelos am Reck durch die Luft flogen, jetzt erdenschwer irgendwo in Deutschland Wochenende haben, sich im Bett von der Arbeit und dem Kantinenessen erholen, und genauso wie ich die Einschläge näher kommen hören. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen und unsere Reihen lichten sich – erst die Herzinfarkte, später dann Gehirnschlag, Krebs und noch unschönere Dinge. Das geht gerade los und wird nicht aufhören, bis wir alle unter der Erde sind. Mir reicht es, dass meine Schuhe schon 2 Zentimeter tief im Schlamm sind. Tiefer soll es nicht zu den Leichenwürmern hinunter gehen. Ich lasse die Bedenken am Auto zurück und fahre durch das offene Tor raus aus Buonconvento, und werde gleich von einem Tandem abgehängt: Schweizer auf Hochzeitsreise.
Die Strasse ist noch feucht. Aber es regnet nicht.
Also wirlich gar nicht. Kein einziger Tropfen.
In den Tälern liegt romatischer Dunst, es ist zu Beginn etwas kühl, aber ich bewege mich und werde schnell warm.
Es ist schön. Auch an den steile Anstiegen ist es schön. Die Sonne scheint. Die Speichen zerteilen das Licht in Fraktale des Glücks und der Freude.
Ich bin in Italien. Das Land ist schön. Sagenhaft schön. Vielleicht gibt es ein schöneres Land auf dieser Welt, aber dann würde man vielleicht sterben. Vor Glück. Hier hat es eine herbe Note, wenn es mörderisch steil bergab geht und dann wieder fast unbezwingbar nach oben. Aber es ist schön. Nur schön.
Und es regnet nicht. Überhaupt nicht. Die Wettervorhersage ist so glaubwürdig wie ein Wahlversprechen der SPD, und ich fliege über Steigungen hinauf, die Sigmar Gabriel nie wird hochkeuchen können. Merkel auch nicht. Nichts gegen Fette, ich will sie auch nicht beleidigen, ganz im Gegenteil, man braucht Negativbeispiele, um sich positiv zu entwickeln. Ich fahre nicht schnell, ich habe keinen Ehrgeiz, ich will hier nur ankommen, und zum ersten Mal habe ich überhaupt keine Zweifel, dass es gelingen wird.
Natürlich habe ich zu stöhnen und zu japsen. Natürlich steige ich ab und schiebe. Natürlich kostet mich der Anstieg nach San Angelo in Colle Kraft und Zeit. Natürlich fliegen andere an mir vorbei. Aber mit mir zusammen schiebt eine vergnügte Gruppe Italienerinnen und Italiener, die auch keinen grossen Ehrgeiz haben. Das Licht funkelt durch das Laub. Es ist Frühsommer. Es ist anstrengend und schön. Es gibt hier nichts, gar nichts, was nicht schön wäre. Vielleicht bin sogar ich ein wenig schön, der ich schiebe, aber eben leichtfüssig und fröhlich singend: Tutto vanita, sono vanita, vivete con goia e semplicita… Der Schlamm ist längst getrocknet, weisser Staub knirscht unter den Schuhen, und irgendwann werden wir auch alle Staub sein. Aber nicht heute. Heute leben wir.
Debil grinsend erreiche ich den Gipfel, wo ich letztes Jahr noch an das Aufgeben dachte. Debil grinsend knalle ich über die Schotterpiste nach Castelnuovo del Abbate, und beim langen, langen Anstieg nach Montalcino vergeht mir zwar das Grinsen, aber nie das Gefühl, diesmal auf der richtigen Seite zu sein. Manche finden ja, man sollte sein Fett akzeptieren und damit zufrieden sein, dann werde die Gesellschaft schon aufhören, einen zu diskriminieren – die Berge hier diskriminieren einen, bis sie einen umgebracht haben. Nichts verspottet die Schwäche so sehr wie ein Berg, den man nicht schafft. Dieser Berg wollte mich letztes Jahr umbringen. Dieses Jahr komme ich darüber hinweg.
In Montalcino gibt es Eintopf. Es gibt Sonne, Sonne, Sonne, es gibt Komplimente für mein Rad und staunende Touristen, die sich das alles gar nicht vorstellen können. Geniesserreisen in der Toskana, Wine Tasting mit Brunello, und dann sitzt da einer an der Loggia und bekommt nach 60 staubigen Kilometern einen Eintopf… wie kann man nur.
Letztes Jahr habe ich mich das auch gefragt und dieses Jaht, ein paar Kilo leichter und etwas besser trainiert, ist die banale Antwort: Ich will es so. Ich will nichts anderes. Ich will genau hier sein. Staubig, hungrig, zufrieden und mit nochmal 45 Kilometern vor mir.
Es folgen nämlich nach einer rasanten Abfahrt die schönsten Abschnitte der Strecke. Eine dreidimensionale Postkartenidylle.
Ich baue deshalb fast einen Sturz. Ich begaffe die Landschaft, ich verliebe mich in die Kurven der Hügel und in das satte Grün, und schaue gar nicht mehr auf die Strasse. Und fahre kerzengerade in ein Stopschild vor einer Baustelle. Andere rutschen in der Berliner U-Bahn auf einem glitschigen Dönerpapier aus, ich falle beinahe in Baustellen der Toskana. Jeder stirbt für sich allein, aber selbst der Tod macht immer noch Unterschiede.
Passiert ist dann aber nichts. Alles bestens. Also weiter, immer weiter, noch ein Hügel, noch einer, Schafherden, Gehöfte, Wälder, blauer Himmel, Sonne, Sonne, Sonne. Es war der schlimmste Tag seit Wochen angekündigt, es wurde der schönste Tag, den man sich vorstellen kann. Sollte ich je erklären müssen, was unverschämtes Glück ist: Dieser Tag. Denn natürlich regnet es. Es schüttet. Hinter Montalcino, als ich längst weg bin. Die Gewitter sind eine feine Kulisse, geben dem Radler den Eindruck, den Gefahren zu trotzen – und ziehen dann ab.
Alles fügt sich. Das ganze Leben fügt sich. Hier der Berg, da die Muskeln, dort die Sonne, hier die gebräunte Haut. Nicht das Schicksal peitscht mich diesmal nach oben, die Himmelsmechanik lässt mich über den Planeten wandern. Ein jeder an seinen Platz und mich zwischen die Wiesen und Pinien, die Kette auf die Ritzel und der tropfenden Schweiss in die Erde. Es kommt der Hunger, es kommt der Durst, es kommt die Kontrollstation, und noch ein Buffet mit toskanischen Spezialitäten und stilsicher gekleideten Frauen und Männern, die einem alles geben, was man will.
Es kommt die Abfahrt und der Sturm, der einen dabei umtost, es kommen Kurven, die Gott erschuf, als er am siebten Tag gut gegessen hatte und etwas Entspannung brauchte, es gehen alle Skrupel und ja, natürlich sollte man sich auf einer vierzig Jahre alten Kiste mit schlechten Bremsen nicht einfach der Schwerkraft hingeben, aber der Stachel des Todes ist woanders und egal, wo die Hölle gerade siegen mag: Es ist so einfach. Es ist so viel Freude. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen, aber der Krampus hat jetzt mal Pause und das Rad liegt wie ein Brett auf dem Asphalt. Über 2000 Meter geht es hinauf, aber über 2000 Meter geht es auch hinunter.
Und dann, eher als gedacht, auch wieder hinunter nach Buonconvento. Ich falle nicht wie ein nasser Sack vom Rad. Kein Kind schaut mich mitleidig an. Auf den Bildern sehe ich gut aus, als ob ich nochmal 20 Kilometer fahren könnte, und so ist es auch. Ich bin gut durch, etwas erschöpft, aber nicht am Ende der Kräfte. Es geht mir gut. Ich habe nicht nur überlebt, ich habe gelebt.
Die Kumpane tragen ihre Ehrenmedaillen, die beweisen, dass auch sie das Zeug zum Helden haben. Zu sechst sind wir aufgebrochen, zu sechst im Ziel eingelaufen. Alle haben dieses l’Eroica-Grinsen im Gesicht. Das versteht keiner, der es nicht mitgemacht hat.
Man kann auch daheim bleiben und grillen. Das Leben hat viele Seiten, und manche sind auch wirklich schön. Man muss das hier nicht tun. Man macht das aus freien Stücken, und redet auch nicht darüber, dass man angefressen ist und die Tage bis zum Oktober zählt, da in Gaiole die 20. Auflage stattfinden wird – dann vielleicht wieder mit Schlamm und Regen, wer weiss das schon, und noch schlimmer, mit deutschen Reportern von Onlineportalen, die auf den Radtrend aufspringen. Und denken, 145 Kilometer in der Toskana, das wird sicher angenehm.
Das ist es. Mit etwas Erfahrung und Übung ist es wirklich schön, die Wunden verheilen, die Krämpfe vergehen, Knochen kann man mit Nieten aus Titan zusammensetzen, so dauerhaft wie Titan bleibt auch die Erinnerung, und so schnell stirbt der Mensch nicht, sagte meine Grossmutter immer. Und hatte natürlich wie immer recht.
(Natürlich können wir Kollegen der Konkurrenz keine Garantie auf unsere Familienweisheiten geben.)