Dieser Text dient lediglich dem Herzeigen alter Automobile, und sollte daher nicht besonders beachtet werden.
1944 war kein gutes Jahr, um in Lyon, der Hauptstadt der Resistance, einen deutschen Namen zu tragen. Im Kampf gegen das Vichyregime und die deutschen Truppen hatte die Stadtbevölkerung schwer gelitten, und nach der Befreiung wurden alte Rechnungen brutal beglichen. Lyon war kein guter Ort, um einen deutschen Namen zu tragen, und Wohlhauser klingt sehr deutsch. Maisonbien klänge französisch, aber auf der anderen Seite war Herr Wohlhauser, Raymond Wohlhauser, schon unter diesem Namen bei vielen bekannt. Was also tut ein Raymond Wohlhauser im Lyon nach der deutschen Besatzung, um seine Produkte zu verkaufen?
Er greift zu etwas, das heute als übelster Nationalismus gelten würde. Raymond Wohlhauser stammt nicht aus Deutschland, sondern aus der Schweiz. Und deshalb zieren seine Räder eine Vielzahl von Schweizer Kreuzen, damit jedem klar ist: Schweiz. Nicht Deutschland. Und darüber ein Helm, wie bei den Wappen der Vorväter, mit Helmzier in den Farben der Tricolore. Die Trikots seines Rennteams tragen das Rot der Schweizer Flagge. Die Weltmeisterstreifen sind nicht Symbol für das Verbindende, sondern der Hinweis, dass von diesem französischen Radhersteller ein Welttitel nach Frankreich geholt wurde. So war das damals. Heute heissen beliebte Radfirmen Bulls, Canyon, Cube und Stevens, und haben so viele nationale Eigenheiten wie Darmkrebs oder Herpes.
Oder wie die internationalen, meist reichen Menschen, die sich einmal im Jahr zur Mille Miglia treffen, und ihre alten Schätze, hier ejn knallblauer Bugatti aus Frankreich, durch Italiens Landschaft bewegen.
In meiner Drittheimat rund um Mantua erzählt man sich gern die Geschichte von Enzo Ferrari, der mit Tränen in den Augen versuchte, seinen Freund Tazio Nuvolari 1948 aus dem im Rennverlauf angeschlagenen Auto zu ziehen, und zur Aufgabe zu bewegen.
Nuvolari war damsls schon schwer an Krebs erkrankt und wusste, dass er bald sterben würde. Aber er war in Italien auch ein Nationalheld, und er sagte seinem Freund, dass er nicht mehr viel Gelegenheit haben würde, so ein Rennen zu beenden. Und dann fuhr er mit einem völlig übermotorisierten, lebensgefährlichen Auto weiter, mit einem vollen Tank brennbarer Flüssigkeit hinter sich.
Das muss man sich vorstellen: Da weiss einer, dass ihm nicht mehr viele Tage gegeben sind, und dass einige dieser Tage auch nicht schön sein werden, und anstelle das zu tun, was vernünftig wäre – aussteigen und leben – setzt er sein Leben aufs Spiel und rast, Blut hustend und röchelnd über Landstrassen mit 200 km/h weiter.
Aus dem Stoff sind die Legenden. So etwas tut man nicht einfach so aus einer Laune heraus, sondern dann, wenn man weiss, dass die Nation auf einen blickt. Niemand muss es respektieren, wenn einer bereit ist, sein Leben zu riskieren, aber so war das damals eben. Bis 1957. als es beim Rennen um die nationale Ehre zu viele Tote gab.
Die wenigsten werden momentan wissen, wer die Weltrangliste der Rallyepiloten anführt. Niemand wirft mehr unter dem Applaus der Umstehenden Handgranaten in Geschäfte mit dem falschen Namen. Heute gibt es Fahrerzellen aus Carbon, und man bringt sich in Europa nicht mehr für die Nation um. Wie Tom Simpson.
Put me back on my bike, soll Tom Simpson auf dem Mont Ventoux gesagt haben, als er während der Tour de France 1967 stürzte und weiter wollte. Immer weiter den Berg hoch, weil er noch geringe Chancen hatte, trotz seiner Erkrankung für das englische Team den Sieg zu holen. 500 Meter weiter war er dann tot. So ist das damals eben gewesen. Die Engländer verehren ihn bis heute. Allerdings mit abnehmender Tendenz.
Wer sich mit der jüngeren Geschichte beschäftigt, stösst dauernd auf diesen mörderischen Nationalismus – und wie schnell er sich seit 1945 in Europa aufgelöst hat. Einst unverzichtbare Kolonien wurden aufgegeben, Partnerschaftsverträge wurden geschlossen, es kamen Gastarbeiter, Touristen, Studenten, es wurde mit dem Rad, der Ente, mit dem Sachs-Motorrad, mit dem Faltboot, mit dem Käfer gereist, sobald das nötige Geld da war. Wozu sterben?
Das passierte einfach so. Es gibt ohne jeden Zweifel eine europäische Vereinigung durch den simplen Umstand, dass Reisen und Mobilität möglich wurden. Europa wäre kein gemeinsames Haus, wenn jeder in seinem Zimmer sitzen bleiben würde. Und das begann, man möge sich erinnern, lange bevor es in Brüssel eine Kommission gegeben hat. Oder auch nur eine EU,
Wir wurden als Kinder, zehn Jahre nach Simpsons Tod, 29 Jahre nach Nuvolaris letztem grossen Rennen, 33 Jahre nach den Vergeltungsmassnahmen in Lyon, aktiv aufgefordert, uns mit den Partnerstädten in Schottland, Frankreich und Italien zu beschäftigen. Da gab es Theaterbesuche und Weinfeste, ein Bürgermeister schwängerte eine Französin, und das war zwar ein schlecht vertuschter Skandal, aber nur wegen seiner Frau und nicht wegen der Nationalität. Heute ist es bei Besuchen gar nur noch eine lustige Anekdote.
Nochmal zehn Jahre später war ich bei so einer Veranstaltung in Frankreich dabei, und ich weiss genau, dass es damals keinen Herrn Juncker und keinen Herrn Schulz gab, und Frau Merkel war noch jenseits der Mauer: Es war sehr schön. Wir waren in der Provence, die Sonne schien, und das war Europa. Andere Landschaften hatten auch schöne Töchter und Sohne mit einem lustigen Akzent. Dann kam für alle das Abitur und Interrail, manche übergaben sich an der Costa Brava und manche entschieden sich, in Perugia zu studieren und einen Griechen zu heiraten. Wie es eben nun mal so ist.
Und um die Jahrtausendwende gab es, ohne jeden Zweifel, eine Zeit, da machten die Italiener keine Tricolore mehr an ihre Räder, sondern die Europafahne. Das war die Zeit einer Euphorie und der Überzeugung, dass die Einigung Vorteile für alle bringen würde. Es war in 50 Jahren etwas entstanden, das nun noch besser und schöner und gemeinschaftlicher werden sollte. Weil es eine goldene Zeit für Europa war. Zumindest aus der deutschen Provinz betrachtet.
Was in diesen Zeitläufen in Europa gern übersehen und mit der Behauptung “Friede und Freiheit seit 70 Jahren“ übertüncht wird: In meinen Geschichtsbüchern etwas anderes. Dort kann ich nachlesen, dass zwar tatsächlich Frieden in Europa mit Spanien und Portugal herrschte. Aber dort herrschten ohne Freiheit bis 1977 der Franqismus und 1974 das Salazar-Regime. Griechenland litt bis 1949 unter einem Bürgerkrieg, danach unter einem autoritären Regime und von 1967 bis 1974 unter einer Militärdiktatur, die von den anderen NATO-Mitgliedern gerne toleriert wurde.
Auch mit dem Frieden in Europa ist das so eine Sache: Italien stand eine Weile am Rand des Bürgerkriegs, Frankreich führte den Algerienkrieg und Indochinakrieg, Spanien den Krieg in der Westsahara, und Portugal mehrere blutige Kolonialkriege. Gerne unterschlagen wird auch der Umstand, dass Grossbritannien 1961 dem EU-Vorläufer EWG beitreten wollte, und die Verhandlungen darüber 1963 abgebrochen wurden – auf Druck von Frankreich. Das alles verantworteten nicht die Menschen. Das waren eindeutig die Regierungen.
Es ist nach meiner bescheidenen Meinung offensichtlich, dass in den letzten 20 Jahren in dieser Hinsicht einiges auch nicht funktioniert hat. Der Brexit ist da nur die etzte bittere Wahrheit, vor den man nicht die Augen nicht mehr verschliessen kann. Ein Volk nimmt sein Recht zur Selbstbestimmung in Anspruch, lehnt eine Organisation ab, und wird seitdem in den Medien übel dargestellt. Es seien die Alten gewesen. Jüngste Umfragen aus meiner anderen Heimat Italien zeigen, dass die europafeindlichen Parteien Lega Nord und Cinque Stelle fast 50% der Stimmen bekämen. Und die wählen vor allem die Jungen.
Nationalismus mag in Italien noch eine kleine, verdutzte Wahlsiegerin in Turin sein, die auf einmal eine Schärpe mit der Tricolore trägt. Nationalismus ist aber auch der Versuch eines Mitgliedslandes der restlichen Gemeinschaft seine Asylpolitik aufzudrücken, im Namen des humanitären Imperativs. Nationale Interessen spielen bei Sparvorgaben eine Rolle, an die sich das Einpeitscherland Deutschland selbst lange nicht gehalten hat. Der alte Nationalismus war mörderisch bis zur Selbstaufgabe und brutal, der neue Nationalismus möchte von Sachzwängen diktiert werden, und alternativlos einfach so passieren. Früher brachte man sich freiwillig für die Nation um. Heute stirbt man in Griechenland an unabänderlichen, medizinischen Versorgungsengpässen und zur Begleichung von Staatsschulden.
Es ist leicht, auf Boris Johnson und Falage zu deuten und ihnen den alten, wohlbekannten Nationalismus vorzuwerfen. Da fällt mir ein: Haben die anderen europäischen Länder eigentlich schon ihre Zusagen aus dem Resettlementprogramm erfüllt, mit dem Italien und Griechenland um zehntausende Flüchtlinge entlastet werden soll… Nein? Es waren nur ein paar hundert? Das mag auch etwas mit nationalen Interessen zu tun haben. Die Briten haben den Fehler gemacht, den alten Nationalismus zu wählen, wo es doch so viel schönere und geräuschlose Möglichkeiten gibt. Das wirft man ihnen nun vor.
Dabei haben sie sich nur gegen eine Institution europäischer Länder entschieden. Ob das irgendetwas an ihren Gefühlen zum gemeinsamen Kontinent ändert, weiss wohl niemand so genau. Vielleicht wollten die meisten wirklich nur wieder etwas mehr direkte Kontrolle, was angesichts des Geschachers um Ceta und den Parlamentspräsidenten Schulz momentan nicht ganz unlogisch erscheint. Möglicherweise haben sich manche auch nur für den ehrlichen, alten Nationalismus anstelle des neuen, fremdbestimmten Nationalismus der EU entschieden, denn so, wie die Briten gerade schlecht geredet werden, klingt das schon etwas nach EU-Nationalismus.
Das ist bemerkenswert wenig Vertrauen in über 70 Jahre Nachkriegsgeschichte und Annäherung, die die Menschen selbst vollbracht haben. Was passiert eigentlich, wenn der Brexit gut geht, man saubere Lösungen findet und die Immobilienblase in London nach ihrem Platzen das Wohnen für die Massen billiger macht? Vielleicht möchte man sich dann entschuldigen, weil der Brite immer noch gern an die Riviera fährt, und Silberkannen günstig nach Deutschland verkauft. Man hat sich 70 Jahre schätzen gelernt. Als Europäer glaube ich nicht, dass die Zuneigung wegen eines Brexits reversibel ist. Es trifft nur die EU. Aber vielleicht ist Europa als Lebensraum der Menschen inzwischen auch stark und friedlich genug, um die EU für das gute Miteinander – was die Menschen letztlich merken – gar nicht zu brauchen.
Offenlegung: Natürlich kaufe ich angesichts des Pfundkurses gerade wieder wie blöd britische Silberkannen unter dem Materialpreis.