Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

TMT: Jedes Problem lässt sich mit Gewalt lösen.

I will win this fight

Draussen wird es langsam dunkel, aber die Scheinwerfer der Urlauberautos machen die Europabrucke weit unter mir zu einem leuchtenden Band inmitten der alpinen Finsternis. Ich bin 100 Kilometer weit gekommen, auf 1000 Meter hoch, ich habe zwei Pässe überwunden und die Gluthitze im Inntal überlebt, und nun sitze ich am Fenster und denke nach.

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Denn ich habe keinen Umwerfer mehr am Rad. Meine geplante sub500challenge mit der Idee, auf einem billigen Rad, billiger als der Durchschnitt, nach Meran zu gelangen, in zwei Tagen über vier Alpenpässe: Sie droht zu scheitern. Wegen eines kleinen Metallstiftes. Ich sitze da, schaue in die Nacht, und zitiere Brecht:

Den Haien entrann ich, den Tiger erlegte ich,
aufgefressen wurde ich von den Wanzen.

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Hinter mir läuft die historische Wanne des Gasthofes voll mit Wasser, und als ich dann zwischen dem letzten Licht vor dem Fenster und den orangen Kacheln schwerelos liege, da sage ich mir: Eigentlich – gibt es auf dieser Welt kein Problem, das sich nicht mit brutaler Gewalt lösen lässt. Denn eigentlich fährt mein Rad ja noch. Ich bin nur nicht mehr in der Lage, mit dem Umwerfer zwischen den Kettenblättern zu schalten. Theoretisch könnte ich die Kette auf das jeweilige Blatt von Hand legen, was eine ziemliche Sauerei wird, und dann, wenn es nötig wird, auf ein anderes Blatt heben, was noch mehr Sauerei wird. Im Prinzip, sage ich mir plätschernd und schwerelos, habe ich die Wahl zwischen Aufgabe und einem Beitrag in der FAZ, in dem ich eingestehe, dass ich versagt habe – denn es ist morgen Sonntag und da bekomme ich kein Ersatzteil.

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Oder es wird eine Riesensauerei, und ich rufe, dreist wie ich nun mal bin, die sub500ohneUmwerferchallenge aus. Ich habe dann keinen Schaden, sondern eine weitere Herausforderung, die mit Geistesgegenwart, Tatkraft und Riesensauerei zu meistern ist. Einen Sturz vortäuschen und mich 8 Wochen auf Arbeitgeberkosten krank schreiben lassen Aufgeben kann ich immer noch, wenn es doch nicht geht. Das klingt mir nach einem guten Plan, und so beginnt am nächsten Morgen der eine einzige Weg, das herauszufinden. Mit stolzgeschwellter Brust gehe ich die breite Treppe hinunter, vorbei an Schiessgewehr und Hirschgeweih, und lehne auf dem Perserteppich wie ein Mann stehend ein Taxiangebot ab: Nun wird sich zeigen, aus welchem Holz ich geschnitzt bin.

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Ich belade den Drahtesel, schiebe probeweise einen Ast zwischen Kette und Blatt, hebe die Kette an, und drehe zurück: Das geht überraschend gut, und für die Hände ist das gar nicht so schlimm. Ausserdem ist mir in der Nacht noch eingefallen, dass ich eigentlich bis Gries am Brenner für die leichte Steigung nur das mittlere Kettenblatt brauche, dann bis zum Brenner das kleine, das grosse Blatt hinunter bis Sterzing, und der Jaufenpass läuft dann im kleinsten Gang – von da aus geht es 1700 Meter hinunter nach Meran. So oft werde ich also gar nicht schalten müssen, sage ich mir, als ich auf die Ellbögenstrecke abbiege.

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Die Ellbögenstrecke, das ist die alte Römerstrasse und der mittelalterliche Handelsweg nach Italien, und wer nur die Autobahn kennt, der weiss nicht, wie schön die Strecke zu den blühenden Zitronen sein kann. Die Strasse schmiegt sich am Tal entlang, führt durch malerische Dörfer, und windet sich immer wieder in Seitentäler hinein und hinaus. Das ist wirklich wunderschön.

tmtgf

Dabei vergisst man schnell, dass ein Anstieg in St. Peter 20% erreicht, aber ich sage ja immer: Es gibt nichts, was sich mit brutaler Gewalt gegen den eigenen Körper nichts bewältigen lässt, selbst wenn ich oben wie meine eigene Leiche aussehe. Ausserdem wird es danach wieder schön, und bei der nächsten 20%-Steigung fällt die Kette beim Antritt von ganz selbst auf das kleine Kettenblatt, was mir, den Abgang über den Lenker verhindernd, Gelegenheit für eine akrobatische Einlage bietet. So ist das hier. Viel zu schön für Jammerei, obwohl es nun wirklich einigen Anlass dafür gäbe.

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Effektiv sitze ich zwar auf einem fahruntauglichen Rad für eine Strecke, die auf der anderen Seite des Tales gerade von den Teilnehmern des Ötztaler Radmarathons bewältigt wird. Effektiv bin ich dauernd im Grenzbereich zwischen abspringender Kette und letztem Quentchen Luft in der Lunge. Effektiv komme ich aber auch an dieser Lüftlmalerei vorbei, mache ein Bild, und sage mit: Genau das ist es. Genau deshalb bin ich hier. Haien entrinnen. Tiger erlegen. Nicht von den Wanzen gefressen werden. Niemand hat gesagt, dass es leicht wird. Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.

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Und so kommt es, dass ich mich langsam auch wieder dem lahmen Gaul anfreunde, der meinen Weg teilt. Sicher, er hat keinen Umwerfer, sicher, er wollte mich einmal abwerfen, und ja, er mag nicht der Schönste unter den Asini Drahtini sein, aber er hat mich doch bin hierher getragen, er hat seine Last geschleppt und bergab, das muss man sagen, läuft es gut. Viel stabiler, als ich erwartet habe. Trotzdem nehme ich mir ganz fest vor, kein Risiko einzugehen und, wie es manche Irre tun, die am Jaufenpass an unübersichtlichen Stellen ein Wettrennen mit Autos machen. Ich werde kein Auto überholen, ich werde es ganz gemächlich angehen lassen.

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Dann ist die Ellbögenstrecke vorbei, und ich gelange auf die Brenner Staatsstrasse. Und zwar mitten in einen Stau, verursacht vom Schlussfahrzeug des Ötztaler Marathons. Ich könnte, eingekeilt zwischen Autos, warten. Aber von hinten kommen einige Nachzügler des Marathons, an die hänge ich mich dran, und überhole Autos. Viele Autos. Bergauf. Ohne Hast. Auch meine Begleiter beeilen sich nicht, sie sind aus der Wertung gefallen und werden unterwegs eingesammelt. Aber mein Weg geht weiter, es läuft richtig gut, und nach etwas Smalltalk über die kommende L’Eroica mit einem Österreicher, der auf einem historischen Puch unterwegs ist, bin ich auch schon auf dem Brenner. Vor ganz vielen Autos weiter unten.

tmtgk

Die Brennerabfahrt hat lange Geraden und weite Kurven. Es ist nicht zwingend nötig, die Bremse zu betätigen. Es ist also nicht so, dass ich hier Autos überhole und meinem Schwur untreu werde – frei von Sünde und unschuldig rolle ich hinunter, wie mich die Schwerkraft zieht. Aber nicht die anderen. Vielmehr bremsen diese Kisten an Stellen, wo es gar nicht nötig wäre, und unterholen mich, der ich einfach konstant meine Geschwindigkeit halte und freundlicherweise nach links ausweiche, um ihnen rechts Platz für das Bremsen zu lassen. Leider gibt es keine “Kavalier der Strasse“-Plakette mehr, sonst hätte ich sie mir gegenüber einem Dutzend überladener Kombis und Kleinbusse mit überwiegend norddeutschen Kennzeichen verdient. Dafür fahre ich dann, auch um die Reifen abkühlen zu lassen, in Sterzing zu Prenn. Für eine Torte sofort und einen ganzen Apfelstrudel für Meran.

tmtgl

Viertel nach Zwei mache ich mich wieder auf den Weg. Vor mir steht der Jaufenpass. Vor 10 Jahren erschien es mir unmöglich, ihn zu bewältigen. Ich habe dann lang trainiert und bin dennoch beim ersten Versuch fast gestorben, so hart war er. Ich habe dazugelernt, ich habe spezielle Räder gebaut, ich bin immer wieder hierher gekommen, und inzwischen teste ich hier meine Räder für die L’Eroica. Ich weiss, wie ich mir die Kraft einteilen muss, um in Sterzing zu starten und oben nicht auszusehen, als hätte ich den Notarzt nötig. Ich fahre sogar in halbwegs passablen Zeiten da hinauf, und mit vergleichsweise wenig Pausen – wenn ich erst in Sterzing anfange. Diesmal ist es etwas anders. Diesmal habe ich 10 Kilo Gepäck und bereits 600 Höhenmeter in den Beinen.

tmtgm

Ich fahre also los und freue mich, dass bald erste Wolken die Hitze der Sonne lindern. Der Bergwald nimmt mich auf, bald ist die erste Kehre erreicht, ein Viertel, ein Drittel der Strecke liegt hinter mir, es wird noch etwas schattiger und wolkiger, und ab der Hälfte der Strecke ist der Himmel grau. Dunkelgrau. Ausserdem ist es überhaupt nicht mehr warm, und bei 1800 Meter fallen die ersten Tropfen. Regen. Graupel. Dann wird es hell, direkt neben mir, sehr hell, und während ich noch denke “Das wa“ macht es auch schon KRACHBUMM, und ich füge hinzu “r aber nah.“ aber so ist es nun mal auf der sub500ohneumwerferabermithitzegraupelblitzunddonnermittenambergchallenge.

tmtgn

Wer kam auf die Idee, so etwas zu tun? Die Antwort ist so gar nicht nach meinem Geschmack, als ich nass werde, und die Einschläge stets in der Nähe bleiben. Bei 1900 Meter hört der Regen auf, das Jaufenhaus kommt in Sicht, und dahinter der Pass und weitere Wolken.

tmtgo

Bei 2075 Meter gehe ich noch einmal völlig sinnlos aus dem Sattel, aber ich will, dass es aussieht, als würde ich hochbrennen. Diesmal bricht kein Umwerfer, weil keiner mehr da ist.

tmtgp

Dann bin ich oben.

tmtgq

Bis hinuter nach St. Leonhard folgt eine 1500 Höhenmeter tiefe Abfahrt. Bis zur Baumgrenze bin ich allein unterwegs, dann sind vor mir drei Autos. Ganz vorne ein Toyota mit hessischem Kennzeichen. Ganz vorne und ganz langsam in allen Kurven. Dahinter bekommen zwei einheimische offensichtlich die Krise und überholen, weil sie das überforderte Elend nicht mehr mit ansehen können. Aber ich habe ja einen Schwur und ruiniere lieber meine Bremsklötze, als dass ich diese Person, die nicht fahren kann, von hinten eine eine bekannt Ex-Stasilette aussieht, und hier nichts verloren hat, auf dieser schmalen Strasse überhole. Ich bin friedlich. Bis dann eine verlorene Plastikflasche auf der Strasse liegt, und als ich mir denke “Sie wird doch da nicht drüberfahren“ – fährt sie drüber, und die Flasche schiesst unter dem Auto hoch zu mir.

tmtgr

Ich bin ein Homme de Lettres. Ich pflege meine Gefühle adäquat auszudrücken, ich zitiere Brecht und sage immer Bitte und Danke. Aber was sagt man einer Hessin, die nicht fahren kann, auf der Strasse durch die Kurven schlingert, und der es völlig egal ist, wenn man hinter ihr auf dem Rennrad fliegenden Flaschen ausweichen muss? Den unartikulierten Schrei hört sie durch das geschlossene Seitenfenster und den Fahrtwind und die Reifengeräusche, als ich aus dem Sattel gehe und mit dem grössten Gang und schnellster Frequenz an ihr vorbei ziehe, obwohl sie auf der Geraden beschleunigt. Doch dann kommt die nächste enge Kurve. Einer muss jetzt bremsen. Ich bremse nicht.

tmtgs

Denn ich bin nicht den Haien entronnen und ich habe nicht Tiger erlegt, um mich von Wanzen fressen zu lassen. Eine Stunde später bin ich in Meran. Es ist möglich, in zwei Tagen von Tegernsee über vier Pässe nach Meran zu fahren, mit einem Rad, das weniger als 500 Euro kostet, dessen Umwerfer man manuell bedienen muss, durch Blitz und Donner und Hitze, und das wie eine Eins steht, wenn man brüllend, schwitzend und ganz tief über dem Lenker geduckt auf der Gegenfahrbahn, weniger als einen Meter neben dem Abgrund, der Hessin zeigt, was ein echter Bayer ist.

Denn es gibt auf dieser Welt kein Problem, das sich nicht mit brutaler Gewalt und einem Viner Pro Team lösen lässt.