never fly straight and level for more than 30 seconds in a combat area
Der helle Streifen, der am Grat entlang führt, die Strasse dort oben: Das ist das Ziel. Und das Rad dort unten ist mein Rad. Es sind 180 Höhenmeter dazwischen. Ich weiss, es sieht ernüchternd aus. Aber in Wirklichkeit ist es schon fast ganz oben. Es sind nur noch drei Kilometer. Da liegen schon 37 Kilometer hinter mir. Und über 1600 Höhenmeter Anstieg. Und eine Aufzugfahrt hinunter im schönen Meran, das an diesem Morgen gar nicht so schön, sondern noch nass vom Regen der Nacht ist.
Ich wohnte ganz oben unter dem Dach, wo die Alleinreisenden einquartiert werden, und traf im Aufzug den gefühlt einzigen anderen halbwegs jungen Menschen: Eine Deutsche, die mit Wanderschuhen offensichtlich ebenfalls hoch hinaus wollte. Sie sagte, sie wisse nicht, ob Wandern heute eine gute Idee wäre. Ich antwortete, sie sollte, egal was passiert, an mich denken: Meine Idee sei, egal, was sie tun würde, mit Sicherheit noch schlechter.
Denn meine Wohnung am Tegernsee, wo meine Reise begann, liegt auf ziemlich genau 800 Höhenmeter. Die erste Etappe endete auf 1000 Höhenmetern. Und Meran liegt auf rund 350 Höhenmetern. Das bedeutet, dass die Heimreise erheblich mehr Kletterei mit sich bringt, als die Anreise. Die am wenigsten brutale Variante ausser der Aufgabe und mit dem den Bus nach Hause fahren bedeutet, auf genau dem Weg zurück zu fahren, auf dem ich gekommen bin. Über den Jaufenpass, über den Brenner und die Ellbögenstrecke nach Patsch. Das sind, auf etwas mehr als 100 Kilometer veteilt, insgesamt 2600 Höhenmeter nach oben. Und am Beginn steht erst der durch stetes Auf und Ab gekennzeichnete Weg durch das Passeier Tal nach St. Leonhard, und dann der ganze Jaufenpass bis auf 2094 Meter. Das klingt hart, aber alle anderen Optionen – über das 2550 Meter hohe Timmelsjoch oder über das 2210 Meter hohe Penser Joch mit 40 Kilometer Umweg – wären noch viel schlimmer. Daran dachte ich, als ich das Ortsschild von Meran hinter mir liess: Schlimmer geht immer.
Ich radelte hier also nicht als alter, weisser, leicht übergewichtiger Mann in mein sicheres Verderben, ich war hier unter dem grauen Himmel in der besten aller für mich gerade möglichen Welten. Ich bin die Strecke herunter öfters gefahren – hinauf ist es sogar mit dem Auto ermüdend, und da sass ich also auf meinem Rad, an dem eine neue Umwerferschelle zumindest zwischen 2 der 3 Kettenblätter schaltete, und wusste, welche Strecke mich erwartet. Aber nicht, ob ich das schaffen würde. Allein, es könnte schlimmer sein, dachte ich mir.
Ich könnte auch ganz alt sein, in einem Reisebus für Radreisen sitzen, mich hinauf nach St. Leonhard fahren lassen, und danach mit anderen, wirklich alten Menschen, das Tal wieder hinunter rollen. Es ist fraglos bequemer, für den Moment im Bus zu sitzen, aber das ganze sonstige Dasein, das einen zu solchen Krücken verdammt – das ist nicht mehr so schön wie meines, in dem ich meinen Beinen ein gewisses Misstrauen entgegen bringen kann. Ich wusste da unten nicht, ob ich das schaffe. Die im Bus wissen, dass sie niemals mehr aus eigener Kraft nach oben kommen werden. Ich radelte in der Unsicherheit des Lebens. Sie sassen in der Sicherheit der Vergänglichkeit. Ausserdem konnte ich bei einem Stand am Wegesrand anhalten, und mich mit frischem Apfelsaft betanken.
Wohin, fragte der Verkäufer, und ich sagte, nach Patsch über den Jaufenpass und den Brenner, und bekam ohne zu fragen einen Rabatt, denn wer so von allen guten Geistern verlass mutig ist, so eine Strecke unter die Räder zu nehmen, und zusätzlich noch Speck und getrocknete Steinpilze in seine Satteltaschen stopft, der verdient sich hier schon einen gewissen Respekt. Früher brachte der Bergbursch dem Dearndl daheim Enzian und Edelweiss mit, aber in Zeiten des Naturschutzes ist es eben etwas zum Essen, das mit eigener Kraft über die Berge getragen wird. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich also schon zweimal mit meiner kommenden Leistung geprahlt und ausserdem damit Rentner im Bus diskriminiert: Es gab kein Zurück mehr.
Und so machte ich ein Bild von den ins Tal rollenden Rentnern, deren Bus mich kurz hinter Meran überholt hatte und die erst jetzt, 20 Kilometer weiter, ihre Räder ausgeladen hatten, als ich in Richtung Jaufenpass stampfte. Dort pinkfarbene Funktionskleidung, E-Motore im Tretlager und Schutzbleche, hier Lycra mit italienischer Tricolore und Squadra-Aufschrift, ein harter Tritt in die Pedale und ein Rad, das weniger als ein Ersatzakku gekostet hat. Mit den einen geht es abwärts, aber der eine, der ist zu Höherem geboren. Neben mir donnerten ein paar Rocker aus dem Rheinland vorbei, Bomm, bodobodobomm,, Bobobomm Bomm, es klang wie der Soundtrack zum Film Battle of Britain. Und dann begann der lange, lange Weg hoch in die Wolken.
Es ist nicht direkt schön. Es ist auch kein famoser Bergsieg. Es ist, das musste ich unterwegs ehrlich anerkennen, eine Schinderei mit teilweise phänomenaler Aussicht. Es ist ein Kampf nicht nur gegen den Berg und die Schwerkraft, sondern auch gegen die eigene Verzagtheit, weshalb ich mich immer wieder umdrehte, hinab schaute und mir sagte: Schau. Das ist alles schon hinter dir. So weit bist du schon gekommen. Die Beine schmerzen noch nicht. Die Lunge brennt noch nicht. Trink einen Schluck, dann geht es weiter.
Weiter vorbei an den Rockern, die sich zwischenzeitlich zum Essen in einen Gasthof gesetzt haben. Vorbei an Preiselbeerzupfern im Wald, vorbei an Wasserfällen und Gedenksteinen, die vom Tod derer künden, die nicht weiter kamen. Vorbei an Wiesen und Höhenmarken, durch Tunnel und Bergwälder, über lange Geraden und enge Serpentinen.
Und wenn man ehrlich sein wollte, ist es gar nicht so schlimm. Die Südrampe ist zwar lang, aber weniger steil als die Nordrampe. Der Unterschied zwischen 8% und 9% klingt unbedeutend, aber es ist auf einem schwer beladenen Rad der Unterschied zwischen beständigem Aufstieg und verbissenem Kampf. Je höher man kommt, desto lebensfeindlicher wird die Landschaft – aber zur Selbsterkenntnis gehört auch, dass man in der letzten Kehre, auf 2000 Meter, das Leben sehr viel deutlicher als sonst fühlt.
Es ist einsam. Jeder kämpft für sich allein, jeder ist für sich selbst verantwortlich, und genauso hätte ich unten im Aufzug sagen können, dass es regnen wird, und ich mich gerne anbiete, der Touristin das versteckte Cafe Saxifraga zu zeigen, und auf der Sommerpromenade bis zum Sisi-Denkmal zu schlendern. Es gibt immer eine Alternative und einen Bus nach Hause. Man trifft eine Entscheidung. Manchmal scheitert man. Manchmal, davon künden die Kreuze, überlebt man es nicht. Manchmal hat man nur noch einen Kilometer, wird von den Rockern in der Bergeinsamkeit überholt und schliesst auf einen anderen Kämpfer auf, in einer grandiosen, steingewordenen Landschaft auf einer Strasse, die Gott am 7. Tag gebaut hat.
Irgendwann – eigentlich viel schneller als gedacht, nach drei Stunden – bin ich oben.
Es gibt Torte. Eine riesige Himbeersahnetorte im 50er-Jahre-Format. Hier oben haben sie den Diätfaschismus im Tal überlebt.
Und auf der Nordseite einen Regenbogen über das gesamte Tal hinweg.
Bomm, bodobodobomm,, Bobobomm Bomm, kommen die Rocker von hinten, die oben applaudiert haben, als ich angekommen bin. Ich schwinge mich in den Sattel und fahre da runter. 12 Kilometer, 1150 Höhenmeter nach Sterzing, nur bergab, durch Regen und Sonne, und ich bin schnell, sehr schnell, viel schneller, als ich mir das eigentlich vorgenommen habe. Normalerweise setzt irgendwann die Erkenntnis ein, dass zwischen einem und dem Asphalt nur ein mit 7 bar aufgepumpter, 23 mm breiter und 210 Gramm schwerer Reifen ist, und sollte der platzen, sind es nur 2 Zentimeter Styropor auf dem Kopf, und 1 mm Lycra, die einen schützen. Dann bremst man. Oder auch nicht. Diesmal nicht. Nirgendwo, wo es nicht unbedingt sein muss.
Nur unter uns, sagen Sie es nicht weiter, mein Cabrio geht 250 und wenn man damit offen fährt, wirkt das schon irgendwie schnell. Aber das hier, auf schmalen Reifen direkt in der Luft, die das einzige ist, was einen beim Sturz in die Tiefe noch bremst, während rechts der Bergwald und links der Abgrund vorbeifliegt – das ist nochmal eine ganz andere Erfahrung von Geschwindigkeit. Als Radler ist man normalerweise am rechten Rand. Aber nicht hier. Hier nimmt man sich auf der Ideallinie alles, was man von der Strasse kriegen kann.
Drei Stunden später bin ich wieder in Patsch an meinem alten Hotel. Ich bin durch die sengende Hitze über die Rampe nach Gossensass geklettert und im Wipptal in ein weiteres Berggewitter gekommen, ich habe einen dreifachen Regenbogen gesehen und mich immer weiter voran gekämpft. 800 Höhenmeter Kraxelei blieben noch, aber es ist nichts, wenn man einmal den Jaufenpass hinauf und hinunter gefahren ist, sich dort genommen hat, was man kriegen konnte, und das Adrenalin immer noch in den Adern kocht.
Man siegt nicht über den Berg. Über den Berg kann man nicht siegen, er ist einfach da und wird noch lange da sein, wenn es den Server, auf dem dieser Text liegt, längst nicht mehr gibt, das Verlagshaus in der Hellerhofstrasse abgerissen ist und das Hotel in Patsch verfällt, und ich und alle Leser vergessen sind. Man kann über seine Zweifel siegen, seine Ängst, die Unsicherheit und vielleicht, ein wenig, eine Weile, auch über den eigenen Verfall. Und über die Ironie, die man als Schutz zu brauchen meint, bis man im Bett liegt, draussen die Sonne untergeht und einfach nur das ist, was man ist: aus eigener Kraft 110 Kilometer weiter und 2600 Meter höher.
Die einen schaffen viel mehr, die anderen kommen nie so weit. So einfach ist das, eigentlich.