Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

TMT: Auch das Glück lässt sich erzwingen

Die einzigen Gipfelgespräche, die wirklich einen Sinn haben, sind die der Alpinisten
Luis Trenker

Was ist Glück?

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Die Balkontür auf dem Patscher Sattel öffnen, barfuss auf das alte, vom Sonnenlicht silbrig gewordene Holz hinaustreten, das Blau eines frühen Tages im Gebirge sehen – wie am ersten Tag meiner transalpinen Reise, nur kühler.

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In einem Haus sein, in dem man den Schlüssel beim Verlassen einfach an das Brett hängen kann, weil sie einem vertrauen, selbst wenn sie einen erst zwei Tage kennen. Einfach anrufen soll ich, wenn ich das nächste Mal Richtung Süden vorbei komme, um den Jaufenpass zu bezwingen. Sie freuen sich, wenn ich komme.

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Am Vortag eine neue Umwerferschelle in Sterzing finden, die passt, und es erlaubt, wieder alle Gänge auf dem weniger als 500 Euro teuren Rad zu schalten, das ansonsten brav gedient hat. Gib mir einen Fünfer, das passt, sagte der Händler, als er von meinem Weg über die Berge gehört hatte.

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Nicht nachdenken. Nachdenken macht nicht immer glücklich, und würde vielleicht zur Erkenntnis führen, dass dies schon der letzte Tag ist, und das Abenteuer der Alpenüberquerung hin und zurück in fünf Tagen, vom Tegernsee nach Meran und zurück, nun unweigerlich enden muss. Nicht denken, nur sein. Da hilft so ein steiles Gefälle hinunter ins Inntal, und der Fahrtwind bläst die feuchten Augen trocken.

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Nehmen, was man kriegen kann. Es ist der letzte Tag des Ausrollens in einem kleinen Abenteuer mit 36 Grad Hitze im Tal und Graupelschauer auf 2000 Meter Höhe, mit Blitz und Sonnenschein. Wenn da etwas Kultur am Wegesrand zu finden ist, und Zeit bleibt, weil dieser letzte Tag mit einem dicken Sicherheitspolster geplant ist, dann sollte man auch absteigen und verweilen können.

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Das ist, kurz vor dem steilsten, schnellsten Stück bei Ampass hinunter nach Hall in Tirol, die Wallfahrtskirche. Wer hier oben angekommen ist, hat das schlimmste Stück der alten Brennerstrasse hinter sich, und wer hinab fährt, tauscht die im Übermass vorhandene Geschwindigkeit gegen ein phantastisches, lebensfrohes Stück Rokoko ein, das man so in abgelegen scheinenden Dörfern gar nicht erwarten würde.

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Ich bin in den den vergangenen Tagen bergauf wie ein Verdammter zum Höllentor gekrochen, und ich bin hinunter gerast; als wären alle Teufel hinter mir her, aber eigentlich möchte ich ja so federnd leicht durch das Dasein schweben, wie dieser Engel. So geht es mir auch gerade. Es geht mir gut. Ich muss nur noch 40 Kilometer durch das Inntal, und dann den Achenpass wieder hinauf und hinunter, und dann habe ich es geschafft.

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Das Hochkraxeln zum Achensee ist dann, um ehrlich zu sein, kein Schweben mehr, aber Glück ist auch, an einem Brunnen zu halten und die heissen Arme und das Gesicht ins kalte Quellwasser zu halten. Andere sitzen vielleicht gerade beim exklusiven Wein und sprechen über brombeerige Noten und Abgang, und denken, dass wir Glücklichen, wir Reichen dieses Planeten, das auch tun sollten, um unser Konsumglück zu erfüllen. Neben mir brummt der Verkehr den Achenpass hoch, ich fühle den leichten Wind auf der nassen Haut und schütte eine Flasche kaltes Wasser in mich hinein: Ein grösseres Glück kann es in diesem Moment für mich nicht geben.

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Andere würden beim Weg nach oben vielleicht die Lastwagen sehen, aber ich bin positiv gestimmt, und sehe die Bergwiesen und den Blick hinüber ins Zillertal. Ich habe Zeit, ich kann überall halten, und mich auf eine Wiese setzen. Es ist der letzte Tag, es sind nur 800 Höhenmeter, nichts im Vergleich zu den früheren Tagen. Glück ist auch nicht das Wissen, dass so eine Tour möglich sein wird. Glück ist, sich deshalb keine Gedanken mehr zu machen.

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Als ich dem Jaufenpass von Meran aus hoch gefahren bin, habe ich an einer Plattform Rast gemacht und ins Passeier Tal hinunter geschaut. Hinter mir hielt ein Auto, ein alter Mann stieg aus, und schleppte sich auf zwei Gehstöcken zum Geländer.

Is scho schein, sagte er im südalpinen Dialekt.

Jo!, sagte ich.

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Nehmen, was man kriegen kann, solange es geht. Egal ob auf zwei Stöcken oder auf einem technisch längst obsoleten Rennrad, das jahrelang Staub in einer Garage ansetzte, und mich fast durchgehend treu über alle Berge und durch alle Kurven brachte. Und durch alle Vollbremsungen wie die beim Neuwirt in St. Peter, weil ich da im Vorbeifahren etwas las, was ich vorher nie gesehen hatte, und das eigentlich alles erklärt.

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Andere wissen vielleicht, wie hoch ihr Kalorienverbrauch gewesen ist, und wie schnell sie einen Pass hoch fahren. Andere sind echte Sportler. Ich bin nur ein Geniesser in Bewegung. Ich halte gern an, ich achte nicht auf den Schnitt, ich brauche lang und sehe viel. Glück ist natürlich auch, irgendwann oben auf einem Pass zu sein. Ein Glück. Unter vielen.

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Glück ist es, wenn der Heimweg nicht durch Industrieansiedlungen oder Städte führt, sondern auf einem gesperrten Weg entlang des Achensees. Vor 100 Jahren war das noch der Treffpunkt der Innsbrucker feinen Gesellschaft, als man noch kein Wellness kannte und Luxus die Fahrt mit dem Raddampfer 1. Klasse zum Cafe und zur Torte war. Weit sind wir seitdem gekommen, wir haben Diätpläne, Aspirin, wenn der Bildschirm zu sehr flimmert, und wir haben sogar Tabletten für unsere Depressionen, wenn das alles nicht so schön ist.

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Und noch ein Stück weiter, dann unten am Tegernsee, in Deutschland, daheim. Hier ist es auch schön. Insgesamt war ich schneller als gedacht, es lief alles viel besser als erwartet, und deshalb sitze ich noch eine Stunde am See. Vermutlich sollte ich mir ein paar tiegreifende Gedanken zu einer metaphysischen Bedeutung der Reise machen, aber mir fällt nichts ein. Ich denke nicht. Ich sitze in der Sonne und bin glücklich, erschöpft und gerade klug genug, um vor Anbruch der Dunkelheit heim zu fahren, wo sich die Nachbarn, vor denen ich vor 5 Tagen geprahlt habe, nun anhören dürfen, dass alles gut gegangen ist.

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Eines bleibt dann noch zu tun. Ich habe in Meran zwei Stockschilder gekauft. Eines mit Meran, das ich am Vorbau befestige. Denn wo immer ich auch hinfahre, geht es jetzt emsig wie ein Geissbock in Richtung Meran. Meran ist wirklich schön. Ein Ort, an dem man glücklich sein kann.

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Und ein weiteres Schild vom Jaufenpass für das Sattelrohr. Damit ich, wenn ich das nächste ‘Mal vom Sattel aus zweifelnd auf meine Beine schaue, mich daran erinnere, dass ich dort von beiden Seiten aus zum Gipfel gekommen bin. Wenn das geht, geht alles. So einfach ist das. Deshalb macht man es, und wenn andere schneller, jünger, stärker, klüger sind, dann ist es eben so. Ich bin kein Sportler. Ich bin nur vom Tegernsee nach Meran und zurück auf einem spottbilligen Rad gefahren, und bin gesund, glücklich und zufrieden heimgekommen.

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Das ist alles.