Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Passo Continuo: Der Zillertaler Kürzenjäger

Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die gerade Linie.

Vor ein paar Wochen bestieg ich mit einem Freund die Neureuth. Wir setzten und auf eine Bank, schauten auf die Berge, und ich erzählte, wie sich die Strasse dort unten nach Italien schlängelt, und was für ein Glück es ist, sie befahren zu können.

direta

Ist das die einzige Route, fragte mein gemeinhin zu jeder Schadtat bereiter Freund und Kupferstecher, der Autoverkehr nicht mag. Aber nein, fabulierte ich ins Blaue der Bergluft hinein und wies direkt gen Süden. Da hinten geht auch noch ein Weg direkt durch die Berge. Eine phantastische Abkürzung direkt zum Zillertal und zum Alpenhauptkamm! Man muss nur mal die Valepp rauf, dann die Brandenberger Ache hinunter, und schon ist man im Inntal. Dann noch das Zillertal auf dem Radweg hoch, und schon steht man vor dem Alpenhauptkamm. Ich habe mir das auf der Karte angeschaut: Es geht hinter dem Tegernsee einmal kurz hoch, da schwitzt man, aber entlang der Wildflüsse ist das sicher kühl und besonders für heisse Sommertage gut geeignet. Probier das doch mal aus, sagte er, und ich nahm mir vor, es zu tun, wenn ich vier Tage Zeit und schönes Wetter hätte. So wie seit gestern.

diretb

Seit gestern bin ich also wieder unterwegs auf der Diretissima nach Sterzing über den Alpenhauptkamm, um dort – eventuell – das Penser Joch zu fahren, das mir beim letzten Male versagt blieb. Weil es so einfach ist – 300 Meter die Valepp zum Wechsel hoch, ins Inntal runter, nach Mayrhofen rauf – liess ich mir etwas Zeit beim Frühstück, beim Packen, bei der Radkontrolle und schaute auch erst ganz zum Schluss, wo genau Mayrhofen eigentlich im Zillertal liegt. Das war so gegen 13 Uhr, und ich scrollte auf der Karte immer weiter nach Süden, weiter, noch weiter, bis ich begriff:: Ich muss mich beeilen – und ganz hinter ins Zillertal. Sehr weit. Aber auch sehr direkt. Und ich bin diesmal etwas langsamer, weil ich mit einem Querfeldeinrennrad fahre.

diretc

Das ist ein Rennrad für grobe Verhältnisse: 38mm breite Reifen mit Noppen wie ein Sexspielzeug, ein massiver Alurahmen, ein hoch gelegter Lenker für eine bequeme Position, Cantileverbremsen und eine Bergradübersetzung. Im Winter verkaufte jemand einen heftig genutzten Rahmen der Marke Gunsha und schrieb, vielleicht möchte jemand ein Stadtrad daraus bauen – ich erschuf für weniger als 500 Euro ein Bergmonster, mit dem ich Mountainbiker jagen kann. An guten Tagen. Wenn sie langsam und über 80 sind. Dann überhole ich sie damit nämlich. Manchmal. Wenn es keine Hiesigen sind, de Hiesigen bleiben schnell bis zum letzten Tag. Diesmal ist es nicht ganz so, denn die Valepp hinten im Tegernseer Tal ist ein brutal steiler Anstieg, das Rad ist mit Gepäck schwer, und die Konkurrenz ist jung und drahtig, weshalb ich sie ziehen lasse und meine eigene Geschwindigkeit krieche.

diretd

Sehr malerische Namen haben sie hier übrigens für ihre Berge. Zum Glück muss ich zur Erzherzog-Johann-Klause und nicht auf einen Schinder, einen Blankenstein oder gar einen Elendssattel. Nur zur Klause und dann ab nach Italien.

direte

An einem im Übrigen perfekten Tag. Sonnig, blau, warm, aber nicht heiß, mit flirrender Bergluft, die nach Alpenkräutern riecht. Ist man erst mal oben auf der Valepp, geht es eigentlich nur bergab oder gerade aus. Durch enge Schluchten, unter denen Wildbäche tosen, und später über breite Almen in Richtung Österreich mit feinem Kiesel, wie man ihn gern auf der Auffahrt zur eigenen Villa hätte. Ich rolle dahin und bin glücklich.

diretf

Bis zur Grenze nach Österreich. Ich will ja nichts über unsere entlaufenen Sklaven sagen, aber dort wird der Belag schlagartig rau und grob – die österreichische Präsidentschaftswahl unter den Wegen. Die verblichenen Schilder weisen nur noch grob in die korrekte Richtung. Und aus dem feinen Waldweg wird kein flussbegleitender Pfad gen Italien, sondern eine brutal ansteigende Geröllpiste mit vielen kleinen, fiesen Abfahrten über blanken Stein. Es geht vor allem bergauf, während sich der Fluss durch die Felsen nach unten frisst. Auf der Karte sah das ganz anders aus.

diretg

Was. Soll. Das? Unten in der Wildnis ist tatsächlich der Bach, oben unter nacktem Fels in extremer Bergeinsamkeit schindet sich der Mensch ein paar Meter nach Süden, dann entlang eines Seitentals erst nach Osten über Felsen hinunter und über spitze Steine gen Westen hinauf. Das mag in der Luftlinie die Diretissima sein, in der Realität ist es eine brutale, heisse, unbarmherzige Geröllpiste, auf der bergauf die Beine und bergab die Felgen vom harten Bremsen glühen. Irgendwann kommt eine Quelle, die ich gefühlt leer trinke.

direti

Zeit und Ort habe ich längst vergessen, die Sonne steht irgendwo, Uhr habe ich keine dabei, als ich über einen absurd steilen Geröllhang, an in die Gegenrichtung schiebenden, Schweissbäche hinter sich lassenden weissen, alten Männern vorbei an der Erzherzog-Johann-Klause ankomme. Dort möchte ich etwas essen, treffe aber einen alten, weissen Mann – hier gibt es scheinbar nur alte, weiss, drahtige und topfitte Männer – der ein Navigationsgerät hat und meint, erstens ginge es nach Brandenberg noch ein paar mal bergauf, zweitens sei die Strecke auch weiterhin kurvig, und drittens seien es von Pinegg vor dem grossen Anstieg nach Mayrhofen, Moment, 58 Kilometer und ob ich Lampen dabei hätte?

diretj

Er wünscht mir mit einem Unterton totaler Hoffnmungslosigkeit viel Glück. Schon sitze ich wieder auf dem Rad und überlege, wieso da vorne ein Anstieg kommen soll, aber zuerst einmal geht es bergab und dann wieder, weil da unten die enge Kaiserklamm ist, wieder bergauf. Kurz vor Pinegg ist dann der Weg nicht ausgeschildert, weshalb ich mich auf meinen Orientierungssinn verlasse, und deshalb nicht bei der Kaiserklamm in der Wildnis krepiere, sondern berichten kann, dass man sich immer schön rechts halten sollte, auch wenn da kein Pfeil nach Pinegg hinüber weist.

diretk

Von Pinegg nach Brandenberg führen zwei Wege, Der eine wird sofort steil, und der andere erst nach 200 Meter Abfahrt. Dafür wird er dann um so steiler.

diretl

Sehr steil. Steil und kurvenreich, nach Osten, nach Westen, manchmal auch 30 Höhenmeter hinunter und wieder hinauf, man weiss nie, wo man gerade ist.

diretm

Aber es ist schön. Wirklich schön. Von Deutschland aus kommt aus besten Gründen kaum jemand hier her. Deshalb ist es nicht überlaufen, sondern vergessen, übersehen und einfach schön. Die Sonne funkelt, Katzen sitzen im Gras, Kinder spielen, Balkone hängen voller Geranien.

diretn

Kilometer um Kilometer, Rampe um Rampe habe ich mich durch die Wildnis gequält, um das zu finden. Wie schön wäre es, jetzt zu verweilen und zu bleiben, sich an einen Tisch zu setzen und Schlutzkrapfen zu essen.

direto

Aber ich muss weiter nach Brandenberg. Schnell. Sonst komme ich in die Nacht auf meiner “Diretissima“, die wirklich alles andere als direkt ist, auch wenn sie, von Brandenberg aus zurück nach Deutschland gesehen, schön gelegen ist.

diretp

Es geht hinunter ins Inntal. Schnell und rauschend und mit 80 Sachen. Hier ist dann endlich die Abfahrt, die die ganze Strecke nach meiner Vorstellung hätte sein sollen, und als ich dann endlich in Brixlegg am Inn ankomme, geht die Sonne auch schon hinter dem Karwendel unter. Diretissime.

diretq

Und ich muss diretissime noch 40 Kilometer und 200 Höhenmeter das Zillertal hoch, trotz alle der Schinderei. Ich verfahre mich bei Bruck und muss einen zusätzlichen Berg erobern, es wird finster um mich herum, und ich war in Brixlegg schon am Ende meiner Kräfte. Aber es wird endlich kühler, ich esse noch zwei Bananen, und dann rollt es gen Süden. Es rollt richtig gut. Diretissime in Richtung Alpenhautkamm. Ich weiss, dass es nicht so ist, aber von vorne beginnt etwas zu ziehen, die hoch aufragenden Berge haben scheinbar eine magnetische Kraft. sie saugen mich auf. Es wird dunkel, es wird finster. Es könnte angsteinflössend sein.

diretr

Aber ich rolle immer weiter, werde schneller und schneller. Ich fühle mich gut, auch noch nach 1400 Höhenmetern und 90 Kilometern. Als ich in Mayrhofen bin, ist es gerade erst Nacht, und der Wirt meint, das Pfitscher Joch morgen nach Südtirol, das geht direkt hoch, das werde ich sehen: Ein Kinderspiel! Wenn man erst mal oben auf 2276 Meter angekommen ist, geht das ganz schnell.