Die Benutzung von Fahrrädern in der Öffentlichkeit durch Frauen ist wegen Schamlosigkeit haram.
Beschluss des religiösen Führers der islamischen Republik Iran.
Die letzte Etappe des Tages mit der Königsetappe führt in Patsch hoch zum Zimmer Nummer 16 des Grünwalder Hofes, in die Badewanne, wieder steil die Treppe hinunter auf die Sonnenterrasse, und zu erlösenden Worten wie “Johannesbeerschorle“, “Kürbiscremesuppe“ und “Schlutzkrapfen“. Danach folgt ein letzter Aufstieg die Treppe hoch, das Umfallen auf das Bett und der tiefe, feste Schlaf eines Bergbauern nach einem Tag bei der Heuernte mit Sense und Rechen. Das habe ich als Kind übrigens in Südtirol gelernt, vielleicht könnte ich es auch noch, und als ich drei Tage davor bei Brandenberg an einem Mann vorbei kam, der es auch noch konnte – da verspürte ich den Wunsch, anzuhalten und zu fragen, ob ich den Rechen auch einmal werfen dürfte.
Wenn man das mal einen Tag lang gemacht hat, versteht man vieles, was einem vorher fremd war. Man versteht die Hüte und warum sie in den Dolomiten hinten Quasten haben, um den Nacken vor Sonnenbrand zu schützen. Man versteht die weiten Hosen, die einen beim Ausschreiten nicht behindern, und man versteht die Hemden, die sich für die raumgreifende Bewegung weit öffnen lassen, aber eben nicht ganz, damit am Ende der Knopfleiste kein Knopf ist, der bei der Arbeit ausreissen könnte. Da oben steht kein rückständiger Mensch mit Sepplhut, da oben steht einer, der sich der Natur und der Arbeit anpasst, auf der Alm den kleinstmöglichen ökologischen Fussabdruck hinterlässt, und nicht alle zwei Wochen im Internet Klamotten aus China frustshopt.
Wer einmal so einen Tag gearbeitet oder einen hohen Berg mit letzter Kraft im Abendlicht erklommen hat, braucht kein Internet und keine Disco und keinen Fitnessclub mehr. Der braucht ein ordentliches Essen, viel Käse und Butter auf die Schutzkrapfen, und danach ein Bett. Ich bin nur geradelt, jeden Tag im Schnitt 1500 Höhenmeter rauf und runter, aber auch ich schlafe lang und gut. Am nächsten Morgen weckt mich der Wind auf. In Italien ist das Wetter umgeschlagen, hinten im Wipptal zeigen sich über dem Brenner die Vorboten von Regen und Sturm, und es ist an der Zeit, dass ich nach Hause komme, bevor es mich auf der letzten Etappe meiner Reise irgendwo auch noch erwischt.
Denn das Wetter in den Bergen ist unberechenbar und gefährlich. Das vergisst man schnell, wenn vier Tage lang die Sonne scheint. Aber wer einmal in ein Unwetter mitten im Bergwald in ein Unwetter hinein gekommen ist, der weiss, dass Blitze wirklich hell sein können und wie der Donner klingt. Wie ein aufgeschreckter Hase rennt und rast der Mensch dann dorthin, wo er Schutz findet, und wenn er keinen findet und letztlich durchnässt, aber lebendig und gebeutelt alles überlebt hat, wird er vielleicht klüger und achtet mehr auf die Zeichen der Natur. Unvorsichtig wie ich bin, habe ich schon einige Stürme in den Bergen erlebt, und es ist wie mit den Quasten am Dolomitenhut: Danach versteht man besser, warum Bergbauern so viel Angst vor Blitz und Hagel haben. Blitzeinschläge in weniger als 100 Meter Entfernung lassen auch hartgesottene Atheisten wie mich schneller “Mein lieber Gott“ sagen, als es uns gefallen möchte.
Bergbewohner gehen da gleich einen Schritt weiter und stellen das auf, was viele Besucher aus dem Norden immer wieder irritiert: Hier ist alles voller Flurkreuze, oder wie man in Bayern sagt, Marterl. Manchmal erinnern sie an Menschen, die an dieser Stelle vom Blitz erschlagen wurden, öfters jedoch ist es der Dank dafür, dass der Blitz 50 Meter weiter weg in den Boden fuhr, ein anderes Haus erwischte, oder die Ernte schon eingebracht war, bevor der Hagelschlag über das Land kam – wir sprechen über Epochen, da man nicht einfach ins Geschäft gehen konnte, sondern bei Missernten verhungerte. Im Flachland wurden viele Kreuze während der letzten Jahrzehnte von der Flurbereinigung entfernt oder aus Desinteresse dem Verfall überlassen. In den Bergen sind sie dagegen so üblich und weit verbreitet, dass sie mir gar nicht mehr auffallen. Ausser, wenn es solche prächtigen Exemplare wie das Hubertuskreuz im Eingangsbereich des Grünwalder Hofes geht.
In der Franzosenzeit, während der napoleonischen Kriege kam noch mehr Unheil als das Wetter über das Land, und die Menschen hier reagierten auf Kontribution und unerwünschte Aufklärung, indem sie nicht nur ihre Häuser und Fluren, sondern das ganze Land unter den Schutz den Kreuzes stellten.
Von daher rührt der Brauch der in der ganzen Region verbreiteten Gipfelkreuze, die jemand bei mir daheim, ein Tal weiter bei Lenggries, mit der Axt beschädigt. Oder durch einen beleuchteten Halbmond ergänzt, wie vor Kurzem der in Shanghai lebende Künstler Christian Meier in seiner Schweizer Heimat. Die einen denken, es ist gut, wenn diese schöne und immer noch gefährliche Gegend den Schutz eines höheren Wesens geniesst. Die anderen wollen das nicht, und sie würden wohl auch gern etwas provozieren, und das als Kunst auf den Markt bringen.
Es ist schön, durch dieses kulturell erfüllte Land zu fahren und zu wissen, dass da wohl nicht mehr als eine Anzeige wegen Sachbeschädigung heraus kommt, oder die Aufforderung, den beleuchteten Halbmond aus Gründen der Sicherheit und des Naturschutzes wieder zu entfernen. Solche Aktionen gibt es immer wieder, sei es die Genderumschreibung des Jägers von Fall oder die Idee von Greenpeace, ihre Botschaft für die anwesenden Journalisten mit einem Laserbündel auf die intakte Bergwelt über Schloss Elmau zu schreiben, wo die ‘Wildtiere das eher nicht gewohnt sind. Städter meinen oft, dass hier alles herhalten darf, um die eigene Ansicht zu verbreiten und die andere zu schmähen: Glücklicherweise leben wir in Mitteleuropa in einer Epoche, in der man damit schlimmstenfalls vor ein säkulares Gericht kommt. Es wird schon Gründe geben, warum die Herren Künstler und Aktivisten das bei uns machen, und nicht mit einem Davidstern, einer Lasershalombotschaft oder einem Axtübergriff bei der grossen Moschee von Mekka, wo man andere Vorstellungen von Kunstperformances hat.
Und natürlich darf man sich in den Städten auch darüber freuen, wenn es den Hinterwäldlern – natürlich jenen bei uns, die Künstlern nicht mehr vor dem Freitagsgebet öffentlich den Kopf abschlagen oder sie zu Tode peitschen – mal wieder richtig schön provoziert wurden.Das gehört alles zur Meinungsfreiheit, die selbst nun wirklich nicht tolerant sein muss. So wenig wie die Menschen hier in Tirol, die demnächst vermutlich in den Dörfern den ganz ähnlich intoleranten Herrn Hofer wählen werden, weil sie sich von der Hauptstadt Wien nicht verstanden fühlen, und nicht die islamistische Türkei in der EU haben wollen, wie es den Herren in Brüssel und der Wirschaffendas-Frau von Berlin aber für ihre globalen Strategien zusagt. Künstler, die Halbmonde aufstellen, Kreuzabhacker und höhnische Städter, die ihrerseits aber sofort nach dem Verfassungsschutz rufen, wenn Rechtsextremisten vor einer Moschee einen ähnlich übel gesinnten Schweinekopf ablegen, tragen allesamt nicht dazu bei, dass man sich besser verstehen täte.
Dabei ist dies ein sagenhaft gast- und menschenfreundliches Land. Wer den Beichtstuhl nicht mag, findet buchstäblich daneben das Biertischbankerl. Ich bin auch eher eine scheue, misstrauische Krähe, ich kann gut allein sein und brauche sicher keine Gemeinschaft von Gläubigen, aber dieses Bayern, dieses Tirol und dieses Südtirol, sie meinen es während meiner Alpenüberquerungen alle gut mit mir. Speziell auf dem Rad. Da bekommt man dauernd ein Schnapserl angeboten, da soll man sich hersetzen und erzählen, was man erlebt hat, und zuhören, was andere so sagen. Wenn sie hier dann gewählt haben, und die deutsche Presse Landstriche ausweist, die man wegen des falschen Wahlkreuzes besser meiden sollte, dann hat das nichts mit dem Land zu tun, das ich bereist habe. Offen gesagt weiss ich auch gar nicht, was die Menschen hier wählen und warum.
Es gibt, beispielsweise im Inntal, ein paar historisch extrem belastete Orte, wo man das historische Böse und Gute im Zeichen des Kreuzes wirklich anschauen und diskutieren kann. Aber jene, die hier einfach zu viele Kreuze sehen, bräuchten schon mich als Führer, damit sie den historischen und sozialen Unterschied zwischen der ährengoldenen St. Notburga in Maurach für die Mägde, der Stadtpfarrkirche von Schwaz für die oftmals rebellischen Silberbergknappen, und dem Jesuitenkolleg in Hall für die schwarzen Soldaten der Religion erkennen.
Manchmal hilft Wissen, und manchmal Unwissenheit. Zwischen diesen drei Sehenswürdigkeiten fahre ich diesmal teilweise auf der Nordseite des Inns entlang. Es ist ja nicht weit von Patsch bis zum Tegernsee, ich probiere einfach etwas Neues und biege bei Schwaz über den Inn ab. Hier ist keine viel befahrene Landstrasse, hier gibt es Alleen, und vielleicht versuche ich nächstes Jahr auch, ihnen nach Westen bis in die Schweiz und zu den Quellen des Inns zu folgen, bevor es über den Malojapass hinunter zum Comer See geht.
Hier jedenfalls geht es an Schloss Tratzenberg vorbei nach Jenbach und zu einer Strasse, die direkt hinauf zum Achensee führt: Nur halb so lang wie die neue Bundesstrasse weiter östlich. Das klingt nach einer feinen Idee.
Bis ich dann zum letzten Mal auf dieser Reise, die mir wirklich etwas abverlangte, stöhne, ächze und schiebe. Mit 23% geht es nach oben! Ja mei laiba Gotthimmevata! Da fällt man vom Glauben ab. Da tanzen einem die Sterne vor den Augen, da hört man die Berggeister über die Schwäche lachen, die uns Sterbliche jeden Tag einen Schritt näher zum Grab bringt – und zwei, wenn wir nichts dagegen tun. Niemand verlangt von uns heute noch Demut vor einem höheren Geschöpf – aber hier am Berg kann man sie lernen. Der Künstler liess seinen Halbmond mit dem Helikopter auf den Berg fliegen, die Einheimischen schleppen das Kreuz selbst hinauf, und manche von denen, die sich verlachen, würden vom Stangerl fallen, wenn sie das tragen müssten.
Ich krieche einfach nur so für mich hoch, dann weiter entlang des Achensees und über den Achenpass hinunter zum Tegernseer Tal, wo im grossen Kloster längst die Moderne gelehrt wird, und hinter der Endmoräne der Grossraum München schnell die Mythen der Berge vergessen lässt. Es ist warm. Walrossgleich baden dicke Einheimische im See und prusten Regenbogen in die Bergluft. Ich habe mir halt einen anderen Weg herausgesucht. Glücklich sind wir alle, egal ob wir die Freude im Wasser oder auf dem Teer finden.
Man kann es sich aussuchen. Das ist das Grosse an unserer Zeit und in unserer Region: Jeden Pass, jeden Unglauben, jede Freude und alle Verachtung, alles ist möglich. Man muss nichts achten. Andere müssen dann Schilder aufstellen, um jene zu erinnern, die selbst nicht verstehen:
Wer schlau ist, benimmt sich so, dass es erst gar keine Schilder braucht, und man ihm von Herzen ein Schnapserl anbietet. Auch wenn man es als Antialkoholiker und Atheist mit einem “Vergeltsgott, aber wenn ich jetzt trink, hauts me um“ ablehnen muss. Aber es ist eine schöne Geste. So ist das in den Bergen. Und vielleicht kommt ja noch ein goldener Oktober.