I hear the sound of a gentle word
On the wind that lifts her perfume through the air
Beach Boys, Good Vibrations
Frauen, sagt man, machen sich dauernd darüber Gedanken, was Männer von ihnen denken. Ich habe noch keinen Gedanken daran verschwendet, was Frauen oder generell, andere Menschen von mir denken, denn ich bin ein Mann. Männer denken nicht so, sie nehmen, was sie kriegen können, und mit dem Rest sollen sich andere herumschlagen. Es ist mir völlig egal, ob eine Frau sexuelle Phantasien mit mir hat, und jetzt, wo es so weit ist, kann ich nur den Kopf schütteln: Es handelt sich weniger um die Art Frau, an der ich ein Interesse haben würde, sozial bewegt und auch sonst von der Erscheinung her eher unmondän, und sie träumt davon – nun, nicht es mit mir zu treiben, sondern mich aus meinem Haus zu treiben. Anlass ist der Umstand, dass ich einem leicht übergewichtigen und notorisch übel gelaunten Mann den Start in den dritten Staatsdienst nach Uni und Stasi versaut habe. Es ist durchaus verständlich, danach von mir zu träumen, denn ich bin schlanker, sportlich und werde hier nicht zurücktreten müssen – als Kunstfigur ist es im Gegensatz zur SED nachgerade unerlässlich, falsche Angaben zur eigenen Geschichte zu machen. Nur die Vorstellung, mich aus meinen angestammten Gemäuern zu jagen – naja.
Also, das wurde mir heute jedenfalls zugetragen, per Mail, als ich gerade einkaufen war. Wir haben aus Gründen, die Sie nichts angehen, aber für mich sehr erfreulich sind, einen gewissen Bedarf an weiterem Weihnachtsschmuck, und das Schöne an meiner Heimatstadt ist, dass man damit auch die hiesige Queerszene fördern kann: Die prächtigsten und alles andere als günstigen Kugeln haben sie schwulen Friseure, die zu diesem Anlass das ganze Erdgeschoss ihres Ladens in ein Glitzerparadies für Besserverdienende umgebaut haben. Wir nahmen einen Korb und dann noch einen Korb und ich fragte, ob ich auch mit Karte zahlen könnte, aber als die Tüten bis zum Rand gepackt waren, merkte ich, dass ich auch problemlos bar zahlen konnte. Unterdessen wies mich jemand per Mail auf den Wunsch meiner Austreibung hin.
Die Kugeln sind so überzogen, man muss sie einfach lieb, wo war ich, ach so, ja, also, jedenfalls: Es liegt mir fern, die betreffende Dame mit dem unzüchtigen Traum hier öffentlich wie diese Grün-SED2.0erin vorzuführen und vielleicht auch noch aus ihrem Account Bilder zu zerren, auf denen man eine Ahnung von ihren beengten Wohnverhältnissen bekommt, denn das wäre nicht charmant. Aber etwas anderes ging mir durch den Kopf, als ich die Kugeln an meine diversen, achtflammigen, mit Wolframdraht die Polkappen schmelzenden Kronleuchter hing: Es ist mal wieder typisch für Niedrigunwohlgeborene, dass sie ernsthaft glauben, mit so einer Enteignung sei es getan.
Das wünscht sich nämlich eine, die schon einmal darüber geklagt hat, die Nebenkostenrechnung belaste sie sehr. Vermutlich projiziert sie ihre Angst, irgendwann auf der Strasse zu stehen, auf mich: die Angst in ihr ist stark, es ist eine ganz schlimme Vorstellung, und sie möchte sie jemandem anheften, den sie nicht schätzt. Das Problem an der Sache ist, dass so eine üppige Immobilie nur ein sichtbarer Ausdruck jener Klassengesellschaft ist, die sie immer nur von unten erleben wird. Ich finde das gar nicht so entscheidend. Entscheidend ist es, eine oder zwei Tüten Kugeln kaufen zu können, und noch zweimal unter dem Gelächter der Friseure umzudrehen, um noch weitere zu nehmen, ohne sich deshalb Gedanken über die Auswirkungen auf das Konto zu machen. Ich kannte in Berlin Leute, die Angst davor hatten, die EC-Karte könnte vom Geldautomaten eingezogen werden: Das ist nicht das Gefühl, in dem ich aufgewachsen bin. Ich bin mit dem Gefühl gross geworden, dass man nicht prassen soll, aber dass man sich durchaus etwas leisten kann. Es gab in meiner Familie keine Angst, irgendwann vor dem Nichts zu stehen. Es gab nur die Frage, wie sich wohl das nächste Jahr entwickeln möchte.
Ich hatte, was die Zukunft anging, eine sorgen- und angstfreie Jugend. Wie alle in unserem Viertel, in dem die Ehen vorbildlich hielten und man wollte, dass die Kinder es einmal noch besser haben. Wenn man mich fragen würde, was das Charakteristikum des Aufwachsens in besseren Kreisen ist, würde ich nicht über das Vermögen reden, sondern über die Freiheit von Angst. Über Zuversicht. Über das Vertrauen, dass sich schon alles finden wird. Das Vertrauen mag völlig überzogen sein, und manchmal lässt einen das Schicksal spüren, dass man sich auf dünnem Eis bewegt: Aber manche Sorgen, die für andere eine tägliche Erfahrung sind, lernt man einfach nicht kennen. Es gibt viele arme Journalisten, die in schwierigen Verhältnissen leben. Ich habe mich bei der FAZ noch nicht einmal selbst beworben. Als ich nach Frankfurt eingeladen wurde, fand ich das richtig, kaufte unterwegs Torte bei Schloss Pommersfelden, und alles fügte sich.
Mir ist völlig klar, dass es die falsche Haltung gegen das Leben und das unerbittliche Schicksal ist. Unsereins müsste sich viel mehr Sorgen machen, statt im Glanze des Daseins wie eine Christbaumkugel zu funkeln. Wir sind alle gleich zerbrechlich, wenn wir fallen, aber manche wissen genau, wie das ist, und haben Angst. Panische Angst. Angst, die Post zu öffnen, bei unbekannten Nummern ans Telefon zu gehen, Angst vor dem Morgen und dem, was sein wird, wenn sie einmal alt sind. Mir verdirbt die Ansicht von Rentnern, die Flaschen sammeln, den Tag, weil dieser Staat sie so verächtlich behandelt und Milliarden für eine gescheiterte Banken- und Migrationspolitik verpulvert. Es sollte so nicht sein. So geht man mit alten Menschen nicht um. Für viele andere ist es etwas, das ihnen tatsächlich droht. So ein Dasein als flatterhafter Ausprobierer muss man sich wirklich leisten können: Ich kann das. Bei den anderen kommt das dicke Ende, wenn sie von anderen flatterhaften Ausprobierern verdrängt werden. Meine Augen tränen vom herab fallenden Glitzer der Kugeln. Die Augen der anderen sind dauernd voller Verzweiflung.
Verlässt man die eigenen Viertel und lernt man solche Menschen kennen, sollte man besser vorsichtig sein, und die eigene Zuversicht mit Tarnsorgen überdecken. Meine Erfahrung ist, dass sehr viele Menschen mit notorischen Ängsten enorme Probleme mit jenen haben, die kein Wässerchen trüben können. Das mündet oft in Aggressionen, und solche hols-der-Teufel-Kugelorgien würde ich wirklich nur machen, wenn ich genau weiss, die Partner sind das gewöhnt und können damit umgehen. Ansonsten vertuscht man die grenzenlose Zuversicht und die Überzeugung der eigenen Vorbestimmtheit für das bessere Dasein, oder man riskiert eben, dass andere nicht das emotionale Instrumentarium haben, damit umzugehen. “Normale” Menschen verstehen nicht, was andere depressiv macht, und genauso denken sie, dass in meinen Kreisen irgendwo ein ganz dicker Haken sein müsste. Den dicken Haken, glauben sie, gibt es doch immer. Und dann gibt es doch nur einen Haken für die Samtbänder der roten Glitzerkugeln.
Das ist alles noch kein Schicksalsschlag, pflegte meine Grossmutter bei den kleinen, unvermeidlichen Haken des Daseins zu sagen, und ich plappere das gedankenlos nach. Es gibt welche, die das einsehen, und welche, deren Probleme und Ängste ich damit falsch einschätze – die explodieren dann. Die ertragen das nicht, für die bin ich und diese ganze Haltung eine Herausforderung, eine Zumutung, eine Verhöhnung, und erstaunlicherweise gar kein gut gelauntes Geschenk Gottes. Wir sind nach Schicksalsschlägen schneller wieder obenauf, kleine Niederlagen sind uns egal, wir segeln über die Riffe frohgemut hinweg und glauben, auch mit einem Leck noch in den Hafen zu gelangen. Alle in meiner Familie sind sicher, dass die mit dem leeren Tank noch 200 Kilometer weit kommen, nur ganz selten bleiben wir liegen, und dann ist in der Nähe meist ein Schloss oder ein schönes Gasthaus, und die Landschaft ist prächtig. Sorgen macht man sich erst dann, wenn es soweit ist. Das ist eindeutig eine Fehleinschätzung der Realität und ein Charakterfehler, aber letztendlich lebt man damit gut, während andere schon von Sorgen gepeinigt sind, ohne dass es nötig wäre. Natürlich kann man materiellen Besitz auch verlieren, vorletztes Jahr wäre hier beinahe eine Gastherme explodiert. Aber diese grundlegende Zuversicht, die wurde uns so anerzogen, und sie ist ein grosses, wirklich grosses Geschenk, das einem kein Neider nehmen kann. Mir tun Flaschensammler trotzdem leid, und die Kinder von Paaren, die sich ohne echte Not, nur aus Dummheit und Arroganz trennen, wegen Selbstverwirklichung und Unlúst, die Zähne zusammen zu beissen. Es wird schwer für diese Kinder, Teil jener Gesellschaft zu werden, die für Sorgen und Ängste so gut wie möglich geschlossen wird.
Schlucken, sagte meine Grossmutter immer. Schlucken. Und sie hatte besonders zu Festen damit wie immer recht. Also, schlucken Sie die kommenden Tage, auf dass auch ihre Gesellschaft für Unschönes geschlossen bleibt.