Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Der süddeutsche Kulturkreis als Erklärung für soziale Nötigung

Om 30. Mai ist da Weidundagang, Leid fressds ois z´sam, mia lebm nimma lang.

Es ist der 30. Dezember. Man sollte in der Wohnung sitzen, fröstelnd auf das eisige Grau dort draussen blicken, und heissen Tee trinken. Ich trinke tatsächlich heissen Tee. Mit Zitrone. Das ist so ein Winterritual, das macht man eben so in dieser Jahreszeit: Der Winter sollte fruchtig schmecken, auch wenn es die feineren Noten des Tees zusammen mit dem Zucker erschlägt. Ich trinke also Tee mit Zitrone, aber genauso könnte ich einen Cocktail bekommen. Denn es ist der 30. Dezember, und ich sitze draußen im Sonnenschein, im bayerischen Oberland mit Blick auf die allenfalls leicht vom Schnee angetuckerten Berge. Ich sitze am 30. Dezember in einem randvollen Biergarten, trinke Tee und warte geruhsam auf das Essen.

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Es ist offensichtlich, dass der Mensch in den letzten 200 Jahren eine Entwicklung in Gang gesetzt hat, die unerwartete Folgen zeigt. Früher, als Kind, war ich um diese Zeit beim Skifahren. Auf echtem Schnee, der sich über das ganze Land erstreckte. Der Winter ergriff Besitz vom Berg und Tal, aber wir rutschen auf ihm herum. Wer den Winter heute finden will, muss auf die Gipfel des Mangfallgebirges. Dort, wo Wendelstein und Hirschberg aufhören, klammern sich seine Finger gerade noch fest. Hier unten auf dem Reuthberg ist der Spielplatz voll mit Kindern. Wie im Sommer.

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Irgendwo auf dieser schönen Welt wird eine Konferenz vorbereitet, auf der Politiker besprechen sollen, wie viel Urwald in Afrika gerodet werden darf, um den Hunger der Chinesen zu stillen, wie viele Verschmutzungsrechte nötig sind, um unsere Industrie nicht zu belästigen, und wie wir unsere Häuser in Styropor einpacken sollen. Das hier ist unser Beitrag: Statt in der geheizten Wohnung zu sitzen, sind wir an der frischen Luft und schauen in die Landschaft. Die Zutaten des Essens sind regional. Das ist doch schon ein Beitrag, würde man vielleicht sagen, machte man sich Gedanken, Bevor man weiter an den Tegernsee fährt und mehr Abgase als ein Somalier per pedes in einem Monat produziert.

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Aber die simple Wahrheit ist, dass man sich keine Gedanken macht. Man weiss, wie es auch sein könnte, eisig, mit einem bitterkalten Wind und einem Heimweg im Kriechgang über kaum sichtbare Strassen in einem grenzenlosen Weiss. Es ist falsch, so wie es jetzt ist, aber es fühlt sich richtig an, und so sitzt man hier und bestellt noch eine Dampfnudel mit Honig, früher ein Arme-Leute-Essen am fleischfreien Freitag, und heute eine deftige Spezialität, die man sich leisten können muss, wie all das hier. Unten funkeln nicht die schäbigsten Automobile des Landes. Es herrscht die Hoffnung, dass es ein milder Winter bleiben mag. Man hat sich damit abgefunden, dass Schnee selten wird. Die Leute kommen auch so zu uns, denn woanders laufen mehr Attentäter herum. Ich höre nur selten etwas von Reisen ans Rote Meer. Es renkt sich alles gut ein.

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Zumindest auf diesem schmalen, sonnenüberfluteten Landstrich am Rande der Berge in einem der reichsten Länder der Welt, das reich ist, wenn man zu den Vermögenden gehört, und arm, wenn man nicht dazu gehört. Das hier ist trotzdem eine recht egalitäre Veranstaltung, dieser proppenvolle Biergarten, und weil wir hier alle egalitär vermögend sind, werden die Bedienungen importiert – sie haben zwei neue junge Damen, und sie kommen aus Brandenburg. Sehr freundlich, sehr nett, wie es sich gehört. Man könnte sich über wirklich vieles Gedanken machen, etwa, dass die Welt in sehr vielen Belangen sehr schief und ungerecht sein muss, dass es hier am 30. Dezember ein paar hundert Leuten so gut geht, umsorgt von blonden Brandenburgerinnen und runden Sächsinnen, und drunten kaum ein Parkplatz zu bekommen ist.

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Aber man tut es nicht. Man tut es nicht in jenem Sinne, in dem niedrige Schichten etwas Ungehöriges tun, das man bei uns einfach nicht tut. Es ist kein Imperativ, das Nachdenken bleiben zu lassen. Es ist eine Nachlässigkeit, ein reichlich schuldloses Vergessen, ein Übersehen, das mit einem üppigen Trinkgeld ausgeglichen wird, damit zumindest hier das Leben wieder etwas gerechter wird. Weiter könnte man denken, aber man tut es nicht, und es hat hier auch niemand ein Handy dabei, um nachzuschauen, an welcher Ecke von der Welt der Planet jetzt wieder weiter in sein Verderben rutscht.

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Das tut er zweifellos, und es mag sein, dass dann Riffe weissgebleicht sind, und hier wieder wie im Neolithikum Schildkröten leben, was mir persönlich trotz Klimawandels immer noch lieber als eine Aufsiedlung durch eine noch buntere Gesellschaft wäre. Sprachforscher in Hamburg machen sich Gedanken darüber, ob so eine Einstellung nicht gar unfreundlich ist, aber ich weiss aus eigenem Erleben, wie schwer schon die Zusammenführung von Klassen innerhalb eines Landes ist. Mir sind, ganz offen gesagt, die Reibungsverluste solcher Bemühungen zu hoch, wenn man zusätzlich noch die Grenzen aufgibt. Manche finden, wir müssten etwas abgeben, von unseren alten Privilegien und Vorstellungen. Nein. Warum auch.

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Denn ich war vor drei Jahren in einem Städtchen, die der Familie von Giuseppe Tomasi di Lampedusa gehörte, jenes Schriftstellers, der an einer Stelle im Roman “Il Gattopardo“ sagen lässt: “Es muss sich alles ändern, damit alles so bleiben kann, wie es ist“. Den Spruch hält man uns immer vor. Der bitterarme Ort an der Südküste Siziliens ist aber bezeichnenderweise ein Beispiel dafür, dass sich wirklich alles geändert hat, und geblieben sind eigentlich nur der Zerfall alter Paläste und die Perspektivlosigkeit der Leute. Lampedusas Paradox ist an sich klug und in seinem scheinbaren Widerspruch auch liebenswert. Es wird aber heute von Mangelgebildeten benutzt, die im Gegensatz zu mir noch nie von einem ummauerten Luxusressort mit Privatstrand zu jenem bröckelnden Ort gefahren sind. Ich denke mir seitdem: Wenn schon alles vor die Hunde geht, dann bitte so, dass ich und Meinesgleichen dabei die besten Plätze behalten können.

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Politisch Verfolgte geniessen Asyl, aber ich geniesse auch gern mein Dasein. Es ist erstaunlich, dass man heutzutage mit so einer Haltung fast schon zu einer revolutionären Avantgarde gehört, während ansonsten Empathie und Teilungssucht des Besitzes anderer Leute zwingende Unterwerfungsrituale unter eine Kultur der Achtsamkeit sind. Achtsamkeit ist für mich, dass ich mich an die Geschwindigkeit in Tempo-30-Zonen halte, weil das Oberland Ruhe und langsames Gleiten verdient. Achtsamkeit ist für mich, die Bedienung darauf hinzuweisen, wenn sie einen Espresso vergessen hat. Achtsamkeit für die ganze Welt ist mir zu viel verlangt. Die ganze Welt ist auch nicht gerade achtsam mir gegenüber, sonst gäbe es viel nettere Beiträge über Meinesgleichen, und ich müsste sie mir in diesem Blog nicht selbst schreiben. Zu all den anderen Belastungen, denn kaum komme ich am Tegernsee an, steht auch schon die Katze der Nachbarn vor der Tür und begehrt Einlass, Leckerlis und den besten Platz.

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2017 wird die Welt noch nicht untergehen, aber sie wird rutschen. Es wird noch viele Texte geben, die Forderungen nach sozialerem Verhalten erheben und Einsicht in die Notwendigkeit des Abtretens verlangen, um jene Verteilungskämpfe zu entschärfen, von denen uns versprochen wurde, es würde sie nicht geben. Man könnte es sich aus Gründen der Nachsicht fast überlegen, aber geschrieben wird das von einem ganz bestimmten Typus Autor_Innen, mit dem man aufgrund seiner Häufigkeit, um es in der Sprache meiner Heimat zu sagen, d‘Sei fiadan kennt, der seine Wohnung bei den Steueroptimierern von Ikea mit Wegwerfmöbeln einrichtet und bei dem als Sexpartner eine gesetzeskonforme vorherige Einverständniserklärung wirklich ratsam erscheint, so es denn sein muss. Es sind die Finanzbeamten der Empathie, sie sind anarchistisch wie ein Stapel der Anlage V, und gut wie die Idee der klassenlosen Gesellschaft, in der jeder die gleichen 4m² und eine Reisschale hat. Das ist nichts für mich. Ich bitte also um Nachsicht, wenn ich im schönen neuen Jahr 2017 wieder recht viel schreiben werde, ohne dabei viel nachzudenken, was anderen und ihren überaus berechtigten Minderwertigkeitskomplexen zumutbar ist.