Jörg Kachelmann zugeeignet
Treppensteigen hält jung, sagte meine Grossmutter immer, und natürlich hatte sie damit wie immer recht, und außerdem könnte man in das alte Haus aus Denkmalschutzgründen auch keinen Lift einbauen. Wer hier wohnen will, muss im schlimmsten Fall sein Gepäck 20 Meter hoch tragen. Man gewöhnt sich daran. Das Haus entscheidet, man folgt, das hat die Familie schon immer getan. Aber die letzten Wochen waren unangenehm. Schon nach der dritten Treppe ging mir Luft aus, und die Lungen rasselten. Wie, dachte ich mir, kann das sein, dass ich im Sommer höchste Alpenpässe überquert habe, und jetzt im Winter nicht einmal mehr ohne Beeinträchtigung in meine Wohnung komme? Und wie wird das erst sein, wenn der Schneefall vorbei ist und ich einen 15 Kilo schweren Rodel einen ganzen Berg hinauf ziehen soll?
Denn die 20 Höhenmeter des Hauses sind gar nichts gegen die 500 Höhenmeter des ersten Berges, der bei mir am Tegernsee praktisch vor der Haustür beginnt. Daheim habe ich trockene Treppen, am Tegernsee eine eisige Piste. Daheim trage ich normales Gewand, am Tegernsee eine schwere Lederjacke, und drei Schickten dicke Kleidung darunter. Dort oben ist die Luft schon deutlich dünner als im Tal. Wie solll das gehen? Normalerweise sage ich, dass es nur einen Weg gibt, das herauszufinden, und normalerweise führt dieser Weg direkt in grössere Katastrophem, was alle meine Freunde bestätigen: Ich ereiche Pässe erst in stockfinsterer Nacht, ich stehe vor verschlossenen Hotels, deren Portiers längst schlafen, oder ich muss ein Rad über einen frisch gerodeten Abhang schleppen, um erst ganz oben einzusehen, dass es gute Gründe gab, warum ganz unten auf einem Schild stand “Gesperrt! Lebensgefahr! Zutritt verboten!”. Letzteres geschah drüben am Hirschberg, den Sie im ersten Bild in der Mitte sehen. Der einzige Weg, etwas herauszufinden, ist also oft gar kein echter Weg, sondern ein Debakel, und diesmal hatte ich mich sogar noch mehr geirrt: Es hätte auch noch zwei andere Wege gegeben.
Der eine wäre mein Hausarzt gewesen, aber mit dem bin ich verwandt und er sagt, dass er jeden dauernd in der Praxis hat, nur seine eigene Familie nicht – damit hat er natürlich auch recht, wir sagen alle, dass es von selber kam und von selber wieder gehen wird, und so gibt es keinen Grund, einen Verwandten zu belästigen. Eher fahre ich nach Italien und kaufe dort das Spray für die Bronchien, als dass ich es mir hier verschreiben lasse. Neben der panischen Angst vor<-durchgestrichen dem Besuch beim Arzt hätte es auch noch das Internet gegeben, und dortselbst die Daten aus der Messstelle für Luftsauberkeit in meiner Heimatstadt. Mein Arzt und das Internet hätten mich beide aufgeklärt, dass ich gar nicht so unsportlich bin, sondern einfach die Luft momentan extrem belastet ist: Es herrschte Inversionswetterlage. Das erlaubte Tagesmittel bei der Feinstaubbelastung wurde teilweise um mehr als das Dreifache übertroffen. Deshalb sind die Wartezimmer gerade voll mit Personen, die ihre Grippe nicht loswerden, und es steht außerdem zu befürchten, dass unter diesen wiederum der ein oder andere ältere Mensch nicht überlebt. Es kommt halt gerade einiges zusammen. Im Donautal.
Vom Tegernsee aus, wenn man etwas hinauf steigt, sieht diese Inversionslage übrigens gespenstisch aus. Auf rund 900 Metern über dem Meeresspiegel ist man an der Oberkante der schweren, kalten und unbeweglichen Luftschicht über dem Flachland, und sieht genau seitlich hinein. Während der Münchner dem Irrglauben anhängt, die Sonne schiene bei ihm und der Himmel sei blau, sieht der Tegernseer viele Kilometer in den abgasgeschwängerten Smog hinein. Das ist der Grund, warum Münchner mit Blick nach oben Blau sehen, auch wenn die Luft von der Seite aus betrachtet grau ist. So ein Elend, denkt sich der Münchner, es scheint zwar die Sonne und der Himmel ist blau, aber ich friere und bekomme keine Luft, ob das vielleicht Grippe sein mag? Ein Blick auf den Boden könnte ihnen so helfen, wie er mir auch geholfen hätte: Das, was man andernorts als “Schnee” bezeichnet und dort die Farbe Weiss in der Sonne funkeln lässt, ist dort an den Strassen dunkelgrau und schmutzig. Dieser Dreck muss irgendwie an den Schnee gelangt sein, und so ihn dort keiner hingetragen hat, muss er dort entstanden sein. Und möglicherweise könnte man nun schlussfolgern, dass dieser Dreck eben auch in der Luft liegt. Niemand würde das matschige Dunkelgrau in den Mund nehmen. Aber die Luft, hier ein besonders schönes Beispiel als pestgelber Schleier im Streiflicht, die sieht so schön blau aus, die kann man doch atmen.
Jedenfalls steht unten an der Neureuth, dass man im Sommer 1,5 Stunden zum Gipfel braucht, und ich gehe die Strecke momentan mit schwerer Winterkleidung und Supersport-Rodel über blendend weissen Schnee in 1 Stunde 25 Minuten. Exakt 24 Stunden, nachdem ich an der Donau an den Treppen japsend verzweifelte. Ich habe Heuschnupfen und bin daher vorbelastet, mich trifft der Feinstaub und das Ozon vermutlich schneller als andere Zeitgenossen, wenn ich mich dem aussetze. Aber ich habe nicht nur eine Allergie gegen Pollen, sondern praktischerweise auch Allergien gegen geregelte Arbeit, die Existenz an einem einzigen Wohnort und schreibtischbindende Zwänge des Alltags: Niemand kann es mir ernstlich verdenken, dass ich mein Leben so eingerichtet habe, wie ich darin gut überleben kann. Ich würde in grossen Städten unter der Smogglocke sicherlich dauernd krank sein und früh sterben, denn auf Dauer greift das Elend auch das Herz an. Niemand kann von mir ernsthaft erwarten, unter so einer Wolkendecke zu keuchen, das wäre gegen mein Menschenrecht auf Leben. Ausserdem falle ich mit meiner selbst erstiegenen Luftkurklinik niemandem zur Last: Bliebe ich im Tal, könnte ich die Folgekosten auch auf die Allgemeinheit abwälzen.
Was individuell verständlich ist – niemand außer die Fans von Andrej Holm und ein paar zigtausend andere Leute dort unten in der Suppe würden mich, den freundlichsten Menschen des ganzen Erdenrunds, gern leiden sehen – wird aber gehäuft wiederum zur Klassenfrage. Es lässt sich nicht ganz bestreiten, dass in der hiesigen guten Luft sehr viele Menschen auf Berge steigen, die von der Fron der Lohnarbeit mehr als jene befreit sind, die durch Arbeit zum Vermögen der Bergsteigenden beitragen. Dass der Schnee hier so weiss ist, liegt auch daran, dass nicht allzu viele es sich leisten können, hier zu sein, und viele aus irdischen Zwängen in München verweilen und dort Feinstaub und Abgase produzieren, die in Produkte und Wirtschaft gehen, die Deutschland bereichern und hier wiederum nun mal jene, die an diesem See dauerhaft verweilen. Die soziale Ungleichheit, könnte man behaupten, ist verantwortlich, dass bei uns länger gelebt und in den Städten früher gestorben wird. Ich saß letzte Woche stundenlang dort oben, schaute hinunter auf das blendende Weiss der Wolken von oben, die von unten so grau sind, zermarterte mir darob das Hirn, und fand auch keine voll befriedigende Antwort. Bis zur Abfahrt.
Da hätte ich nämlich beinahe ein paar Senioren umgebracht oder sie mich, je nachdem, wer sich da falsch verhalten hat: Ich habe deutlich “Aus der Bahn” gebrüllt, sie sprangen wild auf der selbigen umher, und das ging gerade noch einmal gut, außer es bekam jemand einen Herzinfarkt, aber wenn, war ich dann schon vorbei, und da merkt man es nicht so. Beim Aufstieg am nächsten Tag verweilte ich etwas in der engsten Kurve und zählte bei sechs vorbeikommenden Rodlern, alle in gesetztem Alter und offensichtlich gut genährt, nicht weniger als vier, die in die aufgeschütteten Schneerampen knallten. Einer krachte sogar zweimal innerhalb dieser Kurve in die beginnende Bergwaldbotanik. Die Luft ist bei uns gesund, aber nur so lange man sie nur atmet und nicht glaubt, man könnte darin fliegen: Das geht zwar angesichts unserer Abgründe auch, aber dahinter wird die Luft dann kohlenstoffhaltig in Form von Baumstämmen, die reichlich hart und geeignet sind, auch aus so einem unvorsichtigen Rodler Feinstaub zu machen. Insgesamt also ist es durchaus möglich, dass die hiesigen Betätigungen zwar die Lungen rein und stark halten, aber wenig an den generellen Fragen von Morbidität und Lethalität allgemeiner Lebensrisiken ändern. Ausserdem haben wir zwar wirklich weniger Lungenkrankheiten, aber wegen der Sonnenseinstrahlung mehr Hautkrebs. Es gleicht sich bei den letzten Dingen also alles aus, und der Rest verkommt zur reinen Ansichtssache.
Denn manchmal denkt der Münchner, der Himmel sei blau, auch wenn er in einer Dunstglocke sitzt. Und dann denkt er, der Himmel sei grau, obwohl wir in der Sonne ganz deutlich sehen, dass die Wolken über ihm strahlend weiss sind. Er irrt sich einmal zu seinen Gunsten und einmal zu seinen Ungunsten, und deshalb hat die göttliche Ordnung ihr Gleichgewicht gefunden. Nur das Blau bei uns ganz oben, das ist seit einer Woche immer gleich. Es ist ein Blau, wie Blau eben so ist, mit etwas rotem Schimmer beim Sonnenuntergang im Westen, bis sich dann die Nacht über uns alle gleich senkt, und die Münchner so vom Sommerurlaub träumen, wie ich vom nächsten schönen, warmen Tag dort oben in der Sonne.
Früher, in der guten, alten Zeit, nahm man übrigens aus diesem Grunde in den Zeiten des Smogs Urlaub, um die Lunge bei uns zu kurieren. Heute nimmt man die Grippe in Kauf, um im Winter zu arbeiten, seine Kollegen zu infizieren, und dann im Sommer an Orte zu verreisen, für die man Schutzimpfungen und Securitypersonal braucht. Früher baute man Hotels in Tegernsee und am Brenner, am Silvaplana und Davos. Heute sind manche alten Grandhotels Ruinen und andere nur noch Mauern für die Eigenheime der Reichen, und im Tal muss man es eigentlich nur bis zum Aufzug schaffen, der einen nach oben bringt, in ein Büro, dessen Luft vorab von der Klimaanlage gefiltert wird. So ist das. Sol lucet omnibus, wenn sie alle am richtigen Ort sind, und in der menschlichen Lunge ist Platz für jeden Feinstaub. Es ist schrecklich. Lebensgefährlich. Ganz schlimm. Jemand sollte etwas tun. Am besten in Berlin oder Brüssel. Hop hop. Dafür bezahlen wir sie.
Solange bleibe ich hier oben.