Lasst die Früchte herabfallen und ihr süßes Aroma die Luft über dem Meer der Apfelbäume erfüllen, am Fuße des Chol Pass
Kim Jong-il
In jeder Stadt gibt es gute und weniger gute Viertel. In den guten Vierteln wohnt man, in den weniger guten Vierteln wohnt man nicht, auch wenn gewisse andere Leute das tun. Und dann gibt es noch Viertel, die es zwar gibt, aber die man nur von der Durchreise her kennt. So ein Viertel ist im Süden meiner kleinen, dummen Heimatstadt an der Donau, und es erstreckt sich entlang der Ausfallstrasse zur Autobahn eintönig und hoch bebaut dahin. Auf der linken Seite war früher im kalten Krieg das Gelände für die Pioniere, auf der rechten Seite standen dicht an dicht Sozialblocks, oft bewohnt von den Angehörigen der hier stationierten Soldaten.
Es ist ziemlich genau das falsche Ende von der Stadt, nah am Verkehr und an der petrochemischen Industrie, fern des Seeviertels, wo man hier wohnt. Wie gesagt, ich kenne das alles nur von aussen, ich bin weder in die Strassen dahinter noch in die Blocks eingedrungen. Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurden die Blocks grundlegend saniert und frisch gestrichen, die Militäranlagen wurden aufgelöst, und auf den Freiflächen entstehen gerade teure, kleine, kubische 1-Zimmer-Wohnungen in Reihenschachtelblocks. Dazwischen ist aber immer noch die vierspurige Aufmarschstrasse hinüber zur Autobahn. Rechts sieht es aus wie das Pjöngjang des Kim Il-sung, links dagegen wie das neuere Pjöngjang des Kim Jong-Il. Es gibt sogar einen Gebrauchtwagenhandel mit einem Trabi als Wahrzeichen. Und überdimensionierte Hotels, architektonisch ohne jeden Bezug zu den gewachsenen Strukturen der Stadt. Halt wie in Pjöngjang, vielleicht nicht ganz so deutlich wie im Neubaugebiet in Frankfurt zwischen Messegelände und dem Verlagsgebäude der FAZ, aber es ist schon etwas beklemmend.
Ich komme hier eigentlich nur vorbei, wenn ich an den Tegernsee fahre. Das ist mein Durchfahrland und so fern meiner Lebensrealität wie Nordkorea, und normalerweise öffne ich an dieser Ampel dort entweder das Verdeck meines Roadsters, oder ich suche eine passende Musik für die Fahrt in den Süden heraus. Etwas, das keiner, der hier lebt, versteht oder hören will, aber ich beschalle sie trotzdem. Mit einer Messe von Biber etwa oder mit einer Kastratenarie von Paisiello, die feiner komponiert als das Lamento der Grünen nach den Wahlen im Saarland ist. Franco Fagioli klingt auch besser als Anton Hofreiter. Ich rausche so durch, wie ich durch alles andere Unschöne dank meiner Abstammung ebenfalls durchrauschen kann. Und so wäre ich auch diesmal durchgefahren – wäre an einer Werbetafel nicht die Wandzeitung der Regierung zu lesen gewesen, mit einem maoistisch bunten Propagandabild, das in dieser Umgebung nicht ganz passend ist.
Ernsthaft, niemand, der hier wohnt, lebt so. Das ist tatsächlich wie in Pjöngjang, wo man den Arbeitern und Bauern schöne Propagandabilder einer reichen Zivilisation zeigt, während die Menschen dort in ihren Wabenbauten hausen und für die Hoffnung auf das Dargestellte, aber Unerreichbare schuften. Menschen, die hier wohnen, andere Menschen, die gegenüber in einen unförmigen Hotel an einer Kreuzung sind, und dort sicher nicht verweilen, weil sie dort sein wollen, sondern weil die Planung von Amt und Firma sie dort einquartiert hat, schauen also auf eine ältere Dame mit dem, was manche für Insignien des Wohlstandes halten. Chanelkostüm. Weisse Schuhe mit hohen Absätzen. Die niemand bei uns auf altem Fischgrätparkett wie auf dem Bild trägt, weil das Parkett in aller Regel geschont wird. Ein Beistelltisch des Klassiszismus.
Man merkt langsam, hier rutscht die Propaganda ab ins Parvenühafte, denn die Dame ruht auf einem nicht dazu passenden, weil weiss lackierten und falsch bezogenen Sessel. Mit goldenem Zierrat. Der Sessel ist kein Original, sondern eine plumpe Nachahmung echter Empiresessel, und passt nicht zum Tisch. Das Teeservice: Schreiend bunt und plump. Dahinter ist eine einfarbig blaue Wand ohne abgetrennte Sockelzone, die eigentlich Kennzeichen eines gehobenen Lebensstils in alten Mauern wäre. Ich gebe zu, in der Küche habe ich das auch nicht, und dort hängen bei mir manche Bilder wirklich weit hinunter. Aber in repräsentativen Räumen hängt man die Bilder näher zusammen, man würde mehr auf die Rahmung achten, und die Bilder im Sinne der Petersburger Hängung so anordnen, dass man alles gleich gut betrachten kann. Darunter käme dann die Sockelleiste, an der die Stühle. Tische und Kommoden stehen sollten. Vor allem aber sollten die Bilder wenigstens echt sein. Wer sich die Wandpropaganda der Regierung genau anschaut, erkennt die krude Mischung mit röhrendem Hirsch und modernistischem Farbklecks neben dem Kopf der angeblichen Sammlerin.
Wirft man nur einen kurzen Blick auf das Bild, könnte man vielleicht denken, dass Reiche in ihrem natürlichen Habitat wirklich so aussehen. Es gibt tatsächlich ein paar Symbole wie Fischgrätparkett und bunte Wände, die dem Leben der Vermögenden entlehnt sind. Die Staatspropaganda und ihre beauftragten Handlanger haben eine schemenhafte Ahnung von Wohlstand, wie vermutlich auch mittlere Apparatschiks unter der Kimdynastie wissen, dass gutes Leben besser als die triste Realität aussehen sollte. Sie sind aber nicht in der Lage, das abzubilden, worum es ihnen eigentlich geht. Reiche Kunstsammler würden nicht die Fehler machen, die in diesem Bild zu sehen sind. Aber offensichtlich denkt sich die staatliche Propaganda, dass diese – nennen wir es deutlich, Lügenwandpresse – für das Zielpublikum in der weniger begüterten Schicht schon genügen wird, weil dort ähnlich krude und ungeschliffene Vorstellungen von Reichtum heimisch sind.
Und wie in Pjöngjang hat das Regime auch hier eine Botschaft mit einem Angebot und einem Versprechen, ohne auf die Nebenwirklungen hinzuweisen. Beworben wird, wenn man es genau betrachtet, das teure Verpacken von Häusern in Styropor zugunsten der Bauwirtschaft und Dämmindustrie. Versprochen wird eine staatliche Hilfe von “bis zu 30%” der Kosten. Man muss sich das wie das Wirtschaftswachstum von bis zu 30% in Korea vorstellen: Denkbar ist tatsächlich vieles, die Realität kann allerdings auch darunter bleiben, wie jeder schnell bemerkt, der sich tatsächlich mit den Zuschüssen aus begrenzten staatlichen Fördertöpfen beschäftigt. Versprochen wird dafür Reichtum, der es erlaubt, auf Fischgrätparkett Bilder anzuschauen, die Arme in ihren Wohnungen mit Flatscreen und Wandtattoo mangels Bildung tatsächlich nicht als von der Agentur auf Berliner Trödelmärkten zusammengekauften und ministeriellen Bildungsfernen teuer berechneten Kitsch erkennen. Es wird Reichtum versprochen, der durch Sparen entsteht, wenn man erst einmal eine teure Dämmung anbringt und danach Heizkosten einspart. Gerade so, als seien die paar lumpigen Euro für die Heizung bei unsereins etwas, dem man Relevanz beimessen würde.
Bei anderen ist das natürlich anders, weshalb heute Wärmedämmung ein Grund für die so beliebte Schiessscharten-Architektur in Dominowohnsilos ist. Es gibt tatsächlich Menschen, für die die jährliche Heizkostenabrechnung ein Schock und eine teilweise bedrohliche Geldforderung ist, speziell, wenn sie als Mieter leben. Das Ministerium – vermutlich noch unter der Ägide von Kigmar il-Gabr Sigmar Gabriel – verschweigt natürlich wie jede gute Propaganda, dass der Wohnraum mit altem Fischgrätparkett begrenzt ist, und heute schon von denen bewohnt wird, für die Sparen an den Heizkosten eher nur peripher von Bedeutung ist. Selbst wenn man Geld spart, heisst das noch lange nicht, dass man deshalb je in den Genuss eines solchen Fussbodens käme. Altbauten in guter Lage sind wie eine angemessene Bildung – entweder man hat man, oder man bekommt sie von den Vorfahren mit. Oder man wartet auf die Weltrevolution, nach der jedem alles gehört und für alle ein goldenes Zeitalter anbricht. Solange das aber nicht geschieht, muss man befürchten, dass an die Spitze der Regierung gespülte Personen weiterhin die schlechten Viertel mit falschen Bildern vom guten Leben plakatieren, um damit echten und ideologischen Schaumstoff zu verkaufen.
Wie gesagt, ich fahre da nur durch, und unsereins hinter den dicken Mauern der Spätrenaissance betrifft das alles nicht – wir dürfen die originalen Denkmalschutzfassaden gar nicht verschandeln. Ausserdem hat unsereins auch ein langes Gedächtnis und erinnert sich an Barbara Hendricks, die das Bauwesen in der Hauptstadt der DDR leitet und ganz offen sagt, dass sie dem jungen Werktätigen kein Parkett, sondern nur 30m² gönnen möchte. Ich komme zwar von der anderen Seite, aber die Vorstellung, dass jungen Menschen qua Regimedoktrin der Lebensraum zugewiesen und eine andere Lebensvorstellung gar nicht mehr staatlicherseits in Erwägung gezogen wird, behagt mir auch. Grosse Anwesen für wenige, das lernt man bei der Besichtigung von Schlössern, lassen sich eben nur bewerkstelligen, wenn auf der anderen Seite viele in kleinen Anwesen hausen müssen. Und die Darstellung meiner Klasse als etwas arrogante, abweisende alte Schachtel auf gefälschtem Empiresessel vor Kitsch und Plunder ist zwar beleidigend – aber auf der anderen Seite auch gelungene Abgrenzung von unten: Ihr könnt sparen und Styropor kaufen, sagt die Regierungslügenwandzeitung, aber so wollt ihr auch nicht werden, bleibt lieber unter euch in eurem netten, heimeligen,gedämmten 30m²-Pjöngjang, und spart bitte Ressourcen.
Ja, genau. Also, vor so einer Wandzeitung in unserem kleinen Pjöngjang an der Donau stehe ich, wenn ich das Verdeck aufmache, und Richtúng Tegernsee abbiege. Der Verbrauchsanzeiger hinter den 6 Zylindern erzählt etwas von 16 Litern, aber ich höre eine dramatische Händelarie und nach mir kommt der stockende Berufsverkehr mit vielen kleinen, während der Abwrackprämienepoche planwirtschaftlich gekauften Blechbüchsen, und die Fahrer können sich dann das triste Grau der Wohnblocks anschauen, oder eben das Plakat mit dem Versprechen, dass es auch ganz anders ginge. Wie es nun mal so ist, in einer Welt, die der Mehrheit den real existierenden Schaumstoffsozialismus bietet, und zum Dank Vertrauen in die weisen Entscheidungen der ewigen Präsidenten erwartet.