Wenn Menschen mich treffen wollen, so ist mir’s um jene leid, nicht um mich.
Katharina von Siena
Es ist immer so eine Sache mit der menschlichen Geschichte: Bewegungen neigen dazu, sich als Heilsbringer der Fortschritts zu inszenieren. Die Grünen machen das beim Umweltgedanken, die 68er bei der sexuellen Revolution, und die EU und ihre Helfer beim Frieden in Europa. Das alles kann man bezweifeln: Der Widerstand gegen Gentechnik in der Landwirtschaft wird bei uns von Bauern getragen, die mit den Grünen nichts am Hut haben. Besonders die Anonymität des Internets hat die Verbreitung sexueller Praktiken und Freiheiten enorm erleichtert, die von der Unterwäschewerbung bis zur Nebenerwerbsprostitution früher fortschrittlichen Kräften heute viel zu weit gehen. Und der Frieden in Europa kann auch vor allem damit zu tun haben, dass moderne Demokratien generell nur höchst selten gegeneinander Krieg führen. Außerdem werden bei solchen Vereinfachungen der Bürgerkrieg in Nordirland, der Algerienkrieg und der Falklandkonflikt gerne übersehen.
Ein anderes Übel, das es angeblich gerade noch zu überwinden gilt, ist das Patriarchat des Westens, dem im Gegensatz zum Patriarchat des Islam keinerlei multikulturellen Schutz- und Minderheitenrechte eingeräumt werden. Diesem Patriarchat des Westens werden momentan viele Fehlentwicklungen angelastet, sei es der amerikanische Präsident, sei es das Körperideal, das Frauen eingeredet wird, seien es Panels auf Konferenzen mit zu geringem Frauenanteil oder Gender Pay Gaps, deren fragwürdige Behauptung zu verbreiten ministeriell auch in Deutschland gewünscht ist. Überall kann man das Patriarchat sehen, überall hat es seine Finger im Spiel, und so gesehen dürfte es den Ort gar nicht geben, an den ich Sie nun mitnehmen möchte. Es ist ein kleines Dorf auf dem Höhenrücken nördlich von Staggia Senese, und es ist so vergessen, dass ich unten im Tal erst lange fragen musste, um wenigstens ein paar Informationen darüber zu bekommen.
Im Übrigen ist es so versteckt, dass man es aus den umgebenden Tälern kaum sieht, und obwohl meine übliche Trainingsrunde nur 200 Meter östlich davon entlang führt, habe ich es selbst erst jetzt, nach drei Jahren, für mich entdeckt. Es ist zwar ganz oben auf dem Gipfel, aber alle Wege sind hier tief eingesunken oder zwischen Olivenhainen und Weingärten angelegt. Man sieht nur an zwei kleinen Stellen, dass dort oben zwischen den Bäumen noch etwas sein muss. Und selbst das erkennt man nur rückblickend, wenn man das Geheimnis des Ortes schon erfahren hat. Ich möchte an dieser Stelle zugeben, dass ich mich hier zuerst einmal verfahren musste, denn es gibt einen steilen Schotterweg hinunter nach Bellavista, was ein ziemlich trostloses Industriegebiet ist, und den wollte ich erkunden. Wie ich da aber so vor mich hin radelte, kam eine Abzweigung, und wie immer in der Toskana, kein Schild. Und so bog ich rechts und falsch ab, und fand mich zwischen einem angedeuteten, unversperrten Tor wieder, und auf einem Kiesweg hinauf zu Häusern.
Man sieht schon aus der Ferne an den Fensterhöhlen, dass hier niemand mehr lebt. Normalerweise ist es in Zeiten wie unseren, da in Italien hunderttausende Illegale auf dem Weg von Sizilien in Richtung Kerneuropa sind, keine sonderlich gute Idee, sich in verfallenden Gebäuden herumzutreiben. Die Gefahr ist groß, auf Clandestini zu treffen, die wenig begeistert von Gesellschaft sind. Aber unten im Tal ist Poggibonsi, eines der Zentren des Weinbaus im Chianti, dort gibt es eine grosse, afrikanische Gemeinde, bei der man untertauchen kann: Es gibt keinen Grund, sich fernab des Ortes in der Hitze auf diesen Berg zu quälen, außer man trainiert für die L‘Eroica. Sollte man entdeckt werden, kann man sich immer noch als Deutscher ausgeben, der sich auf dem Weg nach Bellavista verfahren hat. Also weiter.
Es ist herrlich. Man möchte die Heerscharen derer, die heute noch vom Patriarchat schreiben, unten in Poggibonsi an die Hand nehmen und hier über sonnendurchglühte Staubpisten und an all den Hainen und Stechinsekten vorbei hoch schleifen, und ihnen, dehydriert, verstaubt und verschwitzt, dann sagen: Schaut. Das ist es, das Patriarchat. So war es wirklich Auf der linken Seite und auf der rechten Seite stehen Gebäude. Das Gebäude rechts ist gross: Das war ein Stall und ein Speicher. Überall sind grosse, mächtige Tore für den Reichtum des Landes.
Das Gebäude links ist kleiner und schmäler: Da sind die Hausnummern für die Bewohner eng an eng an kleinen, niedrigen Türen. Dafür, dass es nur ein Haus ist, hat es sehr viele Hausnummern auf beiden Seiten. Und weitere Hausnummern für den ersten Stock. Ich zähle hier sechs Hausnummern. Vier unten, zwei oben. Manche haben aus ihren Fenstern nur den Blick auf den Stall. Das sind die kleinen Türen für die notwendigen Untertanen des Reichtums des Landes.
Das ist überhaupt nicht die romantische, weitläufige Toskana aus dem Prospekt, sondern ein fruchtbarer Hügel, auf dem kein Quadratmeter verschwendet wurde. Was man heute vielleicht als große Terrasse mit grandiosem Blick sehen würde, war früher, angezeigt durch einen alten, vergessenen Pflug und einen Karren, einfach nur landwirtschaftliche Betriebsfläche. Auf der hatten diejenigen zu arbeiten, die gegenüber in den Kammern hausten. Aus dem einfachen Grund, weil es hier oben keine andere Arbeit gibt.
Es sei denn, man wohnte am anderen Ende des Ortes. Auch da finden sich weitere Scheunen und ein Wohnhaus. Alles ist praktisch und schmucklos, kein Blumenkübel, keine Palme, keine Zierde, statt dessen die bekannte Enge für jene, die im Patriarchat unten standen, und es bedienen mussten. Das hintere Haus hat eine Art Brücke, einen eigenen Zugang, zu einem Hof.
Und dieser Hof nun ist in der Mitte der Siedlung, und er ist wirklich groß und selbst in diesem verlassenen und heruntergekommenen Zustand immer noch prachtvoll. Er hat zu den Bauern nach vorne hin ein riesiges, hohes Tor aus Eisen, Würde man die Bäume im Osten und Westen stutzen, hätte man von dort oben einen phantastischen Blick auf Radda in Chianti, San Gimignano und Volterra. Aber das alles hat seine guten Tage längst hinter sich, und vor dem Eingang zum Palazzo verdorren zwei Pinien in Blumenkübeln.
Es steht also ein Palazzo inmitten dieses Dorfes, mit Knechten und ihren Familien und den Scheunen im Süden, und Räumen für das Personal jenseits der Brücke im Norden. Hinter dem Zaun des Palastes ist alles, was den Ort zu einem Dorf macht: Die Kirche gehört dazu, das Wappen der Herrschaft über dem Zugang, geschätzt die Hälfte der gesamten Wohnfläche, die im Dorf verfügbar ist, denn der Palazzo ist weitläufig, hoch, mit einem Seitenflügel und sogar mit einem Wehrturm versehen. Es gibt hinter dem Palazzo auch einen kleinen Park für das Lustwandeln.
Aber davor eben das Tor, und das entschied, wer hier wann Zugang zu allen Entscheidungsebenen des Lebens hatte. So funktionieren die Kraale der indigenen Völker in Südafrika, so funktionierte das hier: Der Herr im Zentrum, mit aller Macht, und alle andere um ihn herum. Das Personal für ihn hatte leichter Zugang als das Personal für Kühe, Schafe, Oliven, Schweine und Wein, also alles, was wir heute als toskanische Salami, getrockneten Schinken, Chianti, Öl und Peccorino so schätzen – und deren Herstellung teilweise über Clandestini in der Landwirtschaft wir so wenig sehen wollen, wie der Herr hier oben seine Knechte, zu denen sich keine Sichtachse des Palastes öffnete.
Das war echtes Patriarchat, und es ist hier in aller Kargheit, Schlichtheit und Härte erhalten. Der Ort beschönigt nichts, er zeigt Klassengrenzen und Dominanz in der Architektur. Die einen waren dazu da, das Land zu bewirtschaften, und die anderen, jene zu bedienen, die die Profite erhielten. Die konnten entscheiden, wem sie eine Hochzeit erlaubten, wer in die Kirche durfte, wer den Park betreten konnte und wer bei unpassendem Verhalten sofort eines der Wohnlöcher bei den Ställen zu verlassen hatte. Wer das ablehnte, konnte sich einen anderen Herrn suchen, bei dem aber altes Herkommen und Sitten nicht anders waren.
Gleichzeitig ist es aber auch ein Patriarchat, das nicht mehr funktioniert – noch nicht einmal mehr bei der arbeitsintensiven Landwirtschaft in den Hügeln der Toskana. Es kamen viele Faktoren zusammen – Industrialisierung gleich unten in Bellavista, Bürgerrechte, sozialer Wohnungsbau, Verfall der Agrarpreise, schließlich auch gehobene Ansprüche. Im Italien der 70er Jahre waren solche Gebäude in der entlegenen Provinz vielleicht noch zumutbar, heute ist es sogar den Clandestini zu abgelegen. Niemand muss sich mehr von einem Herrn das Leben vorschreiben lassen. Die Enkel der abhängig Lebenden versuchen zumeist, gerade weil die Erinnerung nicht schön ist, selbst Eigentümer im Tal zu werden. Und so wird aus dem früheren Palazzo mit Anspruch ein zerfallender Ort, in dem die Fussböden durchbrechen, und die Natur Besitz von Treppen und Höfen ergreift.
In zwanzig Jahren, wenn nichts geschieht, wird man vielleicht noch den öffentlichen Weg durch den Ort frei halten, aber der Rest wird untergehen. Man kann es sich jetzt noch anschauen und ahnen, wie eng und stickig das Leben hier oben gewesen sein muss, wenn man nicht zu den oberen 10% im Palazzo gehörte. Das Patriarchat konnte nur überleben, weil es konkurrenz- und alternativlos war. Heute ist das anders, und jeder, der möchte, kann einen anderen, besseren Weg finden. Es gibt Förderprogramme und Vereine, Girls Days und Gleichstellungsbeauftragte. Es gibt staatliche Bekümmerung Benachteiligter und einen Kapitalismus, die dem Patriarchat, das Jahrtausende in Europa dominierte, mit Steuerlasten und Konkurrenzdruck das Genick gebrochen haben. Es war, das gebe ich als Angehöriger der lange andere dominierenden Klasse gern zu, nur für unsereins eine gute Zeit. Heute könnte es für jeden eine gute Zeit werden, der nur die Alternativen dazu nutzt.
Wenn die auch nicht gefallen – nun, das westliche Patriarchat kann nichts dafür, es ist seit Jahrzehnten machtlos und tot, und hier oben, am Rande des Waldes, in dem die Wild- und Stachelschweine hausen, kann man in aller Härte noch sehen, wie es war. Ich fände es nur angenehm, wenn man die großen, palastartigen Aspekte des Patriarchats nicht in einen Topf mit den Industriebauten in Bellavista, der Bank Monte Paschi oder anderen Formen des modernen Kapitalismus werfen würde. Das ist neu, das hat mit uns nichts zu tun, bei uns unterdrückte man noch offen mit Knute statt unsichtbar mit Staatsverfügung, Kredit und Gehaltszettel. Und, wie gesagt, jeder kann es heute anders und besser machen. Das Patriarchat ist schon überwunden.
Wer es heute noch besiegen will, tritt nur auf einem Kadaver herum, um zu verbergen, wie schäbig das Ergebnis des Sieges für viele bislang ist. Beschweren Sie sich bitte nicht bei uns. Wenn es nach uns gegangen wäre, sähe die Welt noch immer aus, wie dort oben auf dem Berg, und zum Ende der Ernte dürften Sie auch alle einmal durch das Tor auf unseren Hof, um das Glitzern der Kronleuchter durch die Fenster im Piano Nobile zu bewundern. Es gäbe draußen an langen Tischen Essen und Wein und Musik für alle, bis niemand mehr laufen kann! Das wäre nach meiner Meinung für Sie auch hübscher, als wenn Sie heute in Frankfurt hoch zu den Wolkenkratzern schauen müssen, oder in der Elbphilharmonie 0,1l fragwürdigen Spumante teuer bezahlen.