Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel mit dir nichts anzufangen!
Augustinus von Hippo
Nicht immer entsteht grosse Kunst in grossen Zeiten: Der Sieneser Künstler Ambrogio Lorenzetti war seiner Epoche weit voraus, als er um das Jahr 1338 den wichtigsten Ratssaal des Palazzo Publico mit dem ausmalt, was die Kunstgeschichte als “Allegorie auf die gute und schlechte Regierung” bezeichnet. Er war damit aber auch aus der Zeit gefallen, denn dieser Höhepunkt der Kunst der frühen Renaissance mit revolutionären, säkularen Bildschöpfungen entstand zu einem Zeitpunkt, da Siena die besten Zeiten schon hinter sich hatte. Gegen 1300 brach das bis dahin dominierende Bankhaus Europas, die Gran Tavola von Siena, nach einer Serie von Hiobsbotschaften zusammen. Es riss dabei den restlichen Kreditsektor der damals blühenden Handelsstadt mit sich, und leitete den ökonomischen Abstieg der Stadt ein. Der Rat der Neun, der zwischen den Gemälden der guten und schlechten Regierung tagte, war in jenen Tagen also auf dem Weg vom Ideal zur Dystopie, bis 1348 mit dem Schwarzen Tod die Hälfte der Bevölkerung starb.
Davon kündet das Bild der guten Regierung nicht. Es versucht, dem Betrachter eine Vorstellung Sienas in den guten Zeiten zu vermitteln. Wir sehen eine prosperierende Stadt des Wachstums, in der der Handel und das Handwerk florieren. Die Häuser sind herausgeputzt, es wird gebaut und vergrößert, die Menschen tragen prächtige Gewänder, und jeder hat seinen angenehmen Platz im Leben. Ins Zentrum dieses Lebens hat Lorenzetti nicht etwa männliche Oligarchen gestellt, sondern eine Gruppe von offensichtlich gut gelaunten Frauen, die sich an den Händen halten, und singen und tanzen. Zu einer Zeit, da man nördlich der Alpen noch schaurige Gabelkreuze schnitzt, steht hier im Mittelpunkt der Öffentlichkeit die Freude an der Körperlichkeit von Frauen.
Das ist es, das viel gepriesene Menschenbild der Renaissance, scheinbar frei von allen Zwängen des Christentums, die man mit dem dunklen Mittelalter verbindet. Die Sichtweise ist nicht ganz korrekt, denn Tanz gab es natürlich auch im Mittelalter. Auch die Kirchen wussten, dass Männer und Frauen zusammen kommen mussten, und Tänze waren da ein probates, durch Regeln moralisch tragbares Mittel. Wir wissen aus der schriftlichen Überlieferung, dass früher sogar in Kirchen profane Feste mit Tanz stattfanden. Es wurde nur nicht auf Wände gemalt, die den Marienbildern und Gekreuzigten vorbehalten waren. Lorenzetti erkor die freie, ungehinderte Bewegung von Frauen in der Gesellschaft zum Herzstück des gesamtgesellschaftlichen Wohlergehens.
Auf der anderen Seite, bei der schlechten Regierung, ist es anders. Diese Seite ist nicht so gut erhalten, aber an einer Stelle erkennt man eine Frau im roten Gewand, die von zwei Soldaten “bedrängt” wird, so nennen es Kunstgeschichtler, um nicht das deutlich anzusprechen, was hier zu sehen ist: Ein Übergriff, bei dem sich die Männer einig sind, einer Frau Gewalt anzutun. Das Motiv ist weniger neu, die Tradition der beiden Älteren, die Susanna im Bad begehren und sexuell missbrauchen wollen, hat eine lange Tradition in der Malerei. Aber es ist recht offensichtlich, dass Gruppentanz und, sagen wir es deutlich, Gruppenvergewaltigung ein antagonistisches Paar in der guten und schlechten Regierung darstellen.
Und das in einem Freskenzyklus, der besonders gern abgebildet wird, wenn sich europäische Politiker in eine lange Tradition des guten Handelns stellen wollen. Lorenzettis Malerei ist eine Inkunabel des gerechten Staatsverständnisses, und dabei übersieht man auch großzügig, dass der den Auftrag gebende Rat der Neun eine Versammlung der Sieneser Oligarchen war, die demokratisch wie die EU-Kommission letztlich der untergeordneten Stadtverwaltung anschafften, wie sie die Stadt in ihrem Sinne zu führen hatte. Es gibt unter den Bildern einen warnenden Appell von Lorenzetti, das Gemeinwohl nicht aus den Augen zu verlieren – und vielleicht hat er auch deshalb die Frauen gewählt, weil das Motiv dem Auge der hohen Herren nicht schlecht gefallen hat.
An der Stirnseite gibt es übrigens noch die berühmte Darstellung der Tugenden, unter ihnen die Figur des Friedens mit einer damals unerhört lasziven Körperhaltung im leichten Sommerkleidchen. Nebenan in der Pinacoteca Nationale kann man sich übrigens anschauen, wie aus den ikonenartigen, steifen Madonnen Duccios mit herabgezogenen Mundwinkeln emotional bewegte, sinnliche und sexuell auch heute noch attraktiv wirkenden Frauen Lorenzettis werden. Kopftücher werden zu leichten, allenfalls zu ahnenden Schleiern, unter den Gewändern wird Figur deutlich: Renaissance ist, wenn aus der Mutter Gottes eine Frau wird, und wenn man diesen Schritt erst einmal gemacht hat, kann man die Frauen auch tanzen lassen.
Dazu sollte man vielleicht wissen, dass öffentliche Tänze in der europäischen Kulturgeschichte stets zu den Symbolen des guten Lebens gehörten. So wird beispielsweise von einem Einzug Kaiser Maximilians in Regensburg berichtet, der von Westen kam und dabei das Bordellviertel passieren musste. Die dort wohnenden Frauen haben ihm zu Ehren eine Tanz aufgeführt, und Maximilian stieg vom Pferd, um mit ihnen zu tanzen: Vor der versammelten Bürgerschaft und seinem eigen Hof. Das, womit die aktuelle Regierung mit ihrem katastrophalen, angeblichen Prostitutionsschutzgesetz vermutlich scheitern wird, hat Kaiser Maximilian durch seinen gesellschaftlich inklusiven Tanz in der Öffentlichkeit allen vor Augen geführt: Diese Frauen, zeigte er, gehören in die Mitte der Gesellschaft, und sind gut zu behandeln, wenn er selbst das schon tut. Gute Regierung durch gutes Beispiel.
In Tübingen soll es bei einer Tanzveranstaltung zu Übergriffen gekommen sein – ein Umstand, der nur in die größere Öffentlichkeit kam, weil der Oberbürgermeister der Stadt eine nachträgliche Entschuldigung der Veranstalter weit verbreitete. Der SWR hat nach eigenen Angaben zwei Zeuginnen ermitteln können, die nur anonym sprechen wollen, und es gibt zwar eine Ermittlungskommission, aber noch keine Anzeige. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass die eher links orientierten Betroffenen und Zeugen kein Interesse daran haben, aks Kronzeugen für ein Bild herhalten zu müssen, das nicht der guten Regierung entspricht. Was 2015 bei der Grenzöffnung von vielen Seiten versprochen wurde, sollte Ähnlichkeit mit der guten Regierung Lorenzettis haben, mit Fachkräften und Zuwanderern, die im Durchschnitt gebildeter als die Deutschen sein sollten, und die für ein neues Wirtschaftswunder sorgen und später einmal in unserer überalternden Gesellschaft die Rente zahlen werden. In Köln hatte man eher den Eindruck, das Bild der schlechten Regierung zu sehen, wo unter den Untugenden dann auch die Gerechtigkeit gefesselt und unfähig zum Urteil dargestellt wird. Wir haben jetzt für exakt solche Fälle zwar ein drakonisches “Nein heisst Nein”-Gesetz. Aber auch Betroffene, die schweigen, es ins Leere laufen lassen, und nicht mehr zu jeder Zeit, an jedem Ort ungehindert tanzen.
Manche werden sagen, da würden sich eben patriarchalische Strukturen äussern und Deutsche machten das auch – aber das ist nicht richtig. Patriarchat ist nicht Patriarchat. Tanz ist im europäischen Kontext eine Ritualisierung der Annäherung zwischen zwei Geschlechtern in einem monogamen Rahmen: Es war möglich, miteinander zu tanzen, zum Zwecke einer gewünschten körperlichen Vereinigung – und unter einem immensen sozialen Druck, der diese Entscheidung für einen einzigen Partner dann auch exklusiv umsetzen wollte. Frühere europäische Kulturen waren zwar tanzfreudig, aber vor allem vor dem Hintergrund, dass Menschen erfahren sollten, ob sie gut miteinander umgehen konnten. Andere Kulturen haben da andere Vorstellungen, und bei den Saudis tanzen dann eben Männer zusammen mit Schwertern. Auch das ist Ausdruck einer bestimmten Haltung, aber eben nicht einer alteuropäischen Tradition, die bei uns schon im Kindergarten eingeübt wird. Man muss die dahinter stehende Moral nicht mögen, die früher auf Exklusivansprüche am Partner abzielte, Schon Boccaccios Decamerone ist nicht umsonst voll mit Geschichten, die in genau jener Zeit diese Moral hinterfragen. Aber auch dort finden zwischen Männern und Frauen Gespräche, Musik und Tänze gleichberechtigt und nach klaren Regeln statt, die allen bewusst sind.
Lieblich sind die Bilder von Lorenzetti, und den Rat der Neun gibt es schon lange nicht mehr, so dass man heute dazu neigt, hier eher ein Idealbild der Gesellschaft zu sehen als das, was es ist: Eine Handlungsanweisung, bei denen die Guten eine Belohnung und die Schlechten buchstäblich ein Schwert in den Nacken bekommen. Wenn sie als Fürsten nicht taugen, wird ihnen die Krone entrissen. Das sind für unser heutiges Verständnis teilweise radikale Vorstellungen von Gerechtigkeit, aber so war das damals in den Städten der Renaissance: Entweder man ordnete sich dem System und seinen Zielen unter, oder man wurde radikal ausgeschlossen und vertrieben, die Bürgerrechte wurden entzogen und die Häuser gebrandschatzt. Es gilt als feinsinnig, die Gemälde Lorenzettis zu bewundern, aber seine Empfehlungen entsprechen doch eher dem, was Donald Trump gerade nach dem Anschlag von Manchester gesagt hat: Man müsste diese Leute aus den “Communities” verdrängen.
Man könnte natürlich auch das eine oder andere Element aus der Darstellung der guten Regierung entfernen ohne dass dessen Grundaussage irreversibel geschädigt wäre. Die Wirtschaft würde immer noch florieren, wenn die Frauen nur noch in einem abgeschlossenen Haus tanzten, mit einem Wächter davor, der andere aufhält und einem Podesta, der aus Parteiräson schweigt. Es wäre vielleicht etwas, sagen wir, irritierend, und es wäre nicht mehr die absolute Sicherheit der guten Regierung, sondern eine relative Sicherheit mit Lebensrisiken. Genauso könnte man übrigens dann auch argumentieren, dass auf der anderen Seite gar keine schlechte Regierung dargestellt ist, sondern nur eine gute Regierung in ihren alternativlosen Möglichkeiten, mit den unvermeidlichen Lebensrisiken des 14. Jahrhunderts, in der es keinem schlechter geht. Also Allegorie der guten Regierung und der Regierung mit Herausforderungen, die gar nicht so auffallen, wenn der Bürgermeister endlich den Mund halten würde.
Ich mag, das möchte ich hier sagen, Lorenzetti sehr, und man kann natürlich immer im Schlechten das Gute sehen: Wäre Siena nach dem Fresko nicht so abgestiegen und verarmt, hätte man die Gemälde vermutlich später abgeschlagen, bepickelt und mit weniger brutalen, gefälligeren Darstellungen übermalt. Ein ist ein Unglück für Siena, und ein Glück für die Kunstgeschichte. Natürlich hätte ich damals nicht leben wollen, und auch heute möchte ich, dass man immer, überall, nach Lust und Laune hemmungslos und selbstbestimmt körperlich sein kann, in bester, europäischer Tradition, und dieser Konsens von allen verstanden und getragen wird, sofern sie nicht Bekanntschaft mit dem Richtschwert und seiner heutigen Entsprechung machen wollen. Weit sind wir gekommen in der Entwicklung, aber das dachte man in Siena auch, als man Lorenzetti den Auftrag gab. Unsere Freiheiten waren und sind kein Naturzustand, und schnell weg, wenn man sie nicht entschlossen und ohne falsche Rücksichten verteidigt.