Deutschland soll Leitmarkt für Elektromobilität werden.
Nichts ist vom Inferno an jenem sonnigen Sonntag zu erwarten, als die deutschen Touristen aus dem Bus in Mantua steigen. Keiner ahnt, was sie erwarten wird, als sie vom Parkplatz am Palazzo d’Arco zu Leon Battista Albertis Meisterwerk San Andrea gehen, um sich im dunklen, kühlen Innenraum Erklärungen über die Renaissancearchitektur und die Lösung von der Gotik anzuhören. Vielleicht dringen das drohende Grollen und vereinzeltes Krachen durch die Mauern, als draußen die Hölle losbricht. Aber die Architektur Albertis schützt die Deutschen vor dem Ereignis, für das in der Stadt Absperrungen errichtet werden, und rotweisse Bänder vor Lebensgefahr warnen.
Nach einer Weile wissen sie alles über Alberti, über die Kuppelkonstruktion und die Kapelle von Andrea Mantegna. Sie verlassen die Kirche und steigen hinab über weisse Stufen in das Gewühl und den ohrenbetäubenden Lärm, der die Stadt erfüllt. Es ist laut, es stinkt, Menschen schreien und rennen, und dann rennen auch die ersten Deutschen, denn ein Auto schiesst mit viel zu hoher Geschwindigkeit über die Piazza Venezia. Die Deutschen sind eigentlich, nichts ahnend, auf dem Weg von San Andrea zur Rotonda di San Lorenzo, aber sie werden nicht so weit kommen. Denn das Auto ist ein Delahaye 135CS von 1937, knallblau, und es bremst und bleibt direkt vor ihnen stehen.
Und statt in der Rotunda stehen die kulturbeflissenen Deutschen nun direkt auf dem Weg der Mille Miglia durch Mantua, eilen zum Auto und halten drauf. Sie wissen nicht, dass sie hier eines der Fahrzeuge ablichten, das 1937 Benito Mussolini verärgerte. Denn so ein Delahaye verdrängte mit Laury Schell am Steuer bei der Mille Miglia das private Team des Duce mit Alfa Romeo auf Platz 4, und hätte vielleicht sogar gewonnen, wäre ein zweites Auto unter Richard Dreyfus nicht ausgefallen.
Dafür verärgerten Delahaye und Dreyfus ein Jahr später mit dem Nachfolgemodell 145 auch Adolf Hitler. Der hatte wie der Duce Autorennen als Symbol von Heldentum und Technik entdeckt, und mit enormen Mitteln die Silberpfeile von Mercedes und Auto Union entwickeln lassen. Die Franzosen setzten dagegen einen Preis von einer Million Franc für ein Auto aus, das mit den Deutschen konkurrieren könnte. Delahaye und Dreyfus gewannen die Konkurrenz vor Bugatti, und traten mit finanzieller Hilfe des amerikanischen Erben Laury Schell – der Mann, der schon den Duce gedemütigt hatte – auch beim Grand Prix in Pau an.
Und dort gewann der Jude Dreyfus mit dem französischen, extrem leichten Auto gegen das Werksteam von Mercedes. Dessen Fahrzeuge hatten doppelt so viele PS, verbrauchten aber zu viel Benzin, und verloren mit einem Tankstopp und ruinierten Zündkerzen das Rennen. Ausgerechnet mit Hitlers Lieblingsfahrern Hermann Lang und Rudolf Caracciola am Steuer. Da war die Begeisterung in Frankreich natürlich gross, und die Bestellungen für Delahaye gingen durch die Decke.
Dieser Delahaye hier ist eigentlich jedes Jahr mit von der Partie, wenn die alten Karossen durch die Dörfer und Städte Italiens rasen, und man wird nicht müde, ihn abzulichten. Diese Formen, diese kompromisslose Gestaltung, diese lange Motorhaube und das enge Cockpit, das einzig und allein der Geschwindigkeit dient… die Deutschen stehen davor, sagen Ah und Oh und halten drauf. Speicherkarten füllen sich, Hälse werden gereckt, denn da kommt noch einer.
Und noch einer.
Und noch einer.
Drüben am Parkplatz wartet ein Busfahrer, auf der anderen Seite würde die Reiseführerin jetzt gern die Romanik erklären, aber langsam dämmert den Deutschen, dass sie durch Zufall direkt an einer Rennstrecke mit einzigartigen Automobilen stehen.
Und da nehmen sie – echte Deutsche mit echten Sportsandalen! – mit, was sie kriegen können.
Und stellen die Frage, die man hier häufiger hört: Warum sind diese Autos so schön, und warum sind die Autos heute alle so langweilig.
Ich kann das verstehen, denn wenn ich hier unterwegs bin und Bilder mache, achte ich darauf, dass keine modernen Fahrzeuge zu sehen sind. Sie würden das Bild verschandeln. Und es gibt auch keinen Grund, sie abzulichten. Sie sehen ohnehin alle gleich aus.
Seit gut 20 Jahren sind die neuen Autos alle irgendwie glatt gelutscht, vorne haben sie eine grimmige Visage und hinten den Helm eines zukünftigen Sternenkriegers, während in der Mitte genug Platz für Sophie, Max und Meike an Bord ist.
Diese Autos tun etwas, das den alten Konstrukteuren nie in den Sinn gekommen wäre: Sie orientieren sich an den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen. Autos entstehen heute nicht mehr als zivile Version von Rennautos und deren Erfahrung, sondern durch Analyse der Kundenwünsche, Produktionsabläufe und Kostenreduktion.
Das war früher ganz anders, da überlegte man noch, wie viel PS man maximal aus einem Motorblock holen könnte. Danach überlegte man, wie man diese PS auf die Strasse bringt. Eventuell machte man sich dann noch Gedanken, wie man das Auto zum Stehen bringt, und ganz zum Schluss quetschte man den Fahrer irgendwo hinein, wo nahe beim Tank aus einfachem Blech noch Platz war.
Wenn der Fahrer dann unvorsichtigerweise Kontakt mit dem Auspuff bekam, verbrannte er sich, und wenn er zu schnell in feuchte Kurven ging, rutschte das Heck weg, egal ob beim Maserati oder beim VW Käfer.
Autos sahen damals anders aus, weil sie die Technik in den Mittelpunkt stellten, und das Auto nicht als bewegliche und maximal sichere Schale des Menschen betrachteten. Das wurde erst relevant, als die Motoren und ihre Kraftentfaltung in den 70er Jahren an die Grenzen der Geschwindigkeitsbegrenzung. Versicherungskosten und Ölkrisen kamen.
Davor war Autofahren eine tückische und bisweilen mörderische Angelegenheit, und davon künden neben vielen Beulen bei der Mille Miglia auch Teile, die im Laufe des Rennens hier verloren gingen. Ein Tag zuvor war an diesem Delahaye nämlich noch ein Blech angenietet.
Die Interessen haben sich verschoben. Futuristen, in deren Geiste die Mille Miglia entstand, wollten schnell sein und mit der Maschine die Kunst besiegen. Wir wollen 3-Liter-Verbrauch-Autos statt 3 Liter Hubraum, Beifahrerairbags und ein DVD-System zum Ruhigstellen der Kinder.
Die alten Autos sehen abenteuerlich aus und wurden für Abenteuer gebaut. Heutige Autos sind Ausdruck von Solidität und Sicherheit, so eine Art motorisierter Bausparvertrag mit Rädern. Alle Banken bieten den gleichen, kleinen Zins, alle Autohersteller die gleiche, kleine Motorhaube und die verkniffenen Lampen.
Es sind Autos, deren verklemmtes Äusseres ahnen lässt, dass die Besitzer Beiträge über Transtoiletten, asexuelle Partnerschaft und die richtige Karrierestrategie im Büro lesen.
Es gibt natürlich Autos, die so tun, als ob sie etwas anderes und historisch wären: Fiat 500 und BMW Mini geben sich alt und abenteuerlich, auch wenn sie in aller Regel nur Office Managerinnen von ihrer 2ZKB-Wohnung in Dachau zum neuen, EU-normierten Büro in Schwabing Nord transportieren, hinter vorgeblendeten Travertinplatten, die auch totalitäre Systeme der 30er und 40er Jahre so geschätzt haben.
Voll klimatisiert. Mit dem Coffee-to.Go-Becher von Starbucks im serienmässigen Plastikgetränkehalter. Und einer Warnleuchte, die ihr sagt, wann sie in die Werkstatt fahren soll, damit ihr der Mechaniker als einzige Sauerei des Monats neues Öl in den Motor schüttet. Scheckheftautos halt.
Eine mehr oder weniger stylische Ergänzung zum Erwerbsleben mit der Erwartung einer halbwegs ausreichenden Rente, die sie sicher erreichen, weil die Gefahren heute so gering sind.
Das haben wir heute alles im Griff, das Navi erklärt uns heute den Weg und Amazon, was wir als nächstes kaufen. Maschinen bringen uns nicht mehr um, sie tun, was wir wollen, und die Algorithmen bei Facebook sorgen schon dafür, dass wir auch nur lesen, was wir lesen sollen.
Artikel über emissionsfreie Autos zum Beispiel, über Pedelecs, die uns das Treten erleichtern und nur 50 mal so viel kosten wie das alte, gebrauchte Rad, das nur mal wieder eine neue Kette bräuchte, und eine Hand, die sich mit dem Kettennietdrücker schmutzig macht.
Es ist eine wunderbare Welt der Technik, in der wir leben. Wir müssen nicht reisen, wir sind ohnehin immer mit allen über Smartphones in Verbindung, die genauso identisch wie die Autos aussehen und genauso austauschbar sind, wie Menschen und ihre Arbeit am Bildschirm.
Früher kämpfte man am Steuer von so einem Auto noch mit dem Motor um sein Leben, heute trägt einen die gefällige Technik durchs Dasein. Das ist doch auch nett. Vielleicht sollte man nur nicht mehr von Lebenserwartung, sondern eher von Daseinerwartung sprechen.
Lebenserwartung hat man, wenn man 4,5 Liter Hubraum mit dem Gaspedal auf 3000 Umdrehungen durch eine enge Altstadt kreischen lässt. Daseinserwartung hat man, wenn Helene Fischer im 9 Speaker Audio System behauptet, jemand würde so atemlos durch die Nacht jagen, wie man es bei der Mille Miglia tut.
Drüben bei San Lorenzo hat die Reiseführerin dann irgendwann ihre Schäfchen für einen kurzen Rundgang eingesammelt, die keinen 300SL mehr vor dem Castello mehr sehen werden. Denn der Bus muss schließlich auch weiter zum Palazzo Te, und was sonst noch bei der minutiös geplanten Reise auf dem Programm steht.
Warum sehen Autos heute so erbärmlich aus? Die gleiche Frage könnte man sich auch im Palazzo Ducale stehen, dessen Erbauer elend an der Malaria krepierten, und deren Gewänder selbst in den damals so schlechten Zeiten unendlich prunkvoller als die des Deutschen sind, der in Sportsandalen durch Italien geht. Oder beim Ikea Starterset, von dessen Tellern gegessen wird.
Und bei den Möbeln, der Kunst, und überhaupt allem, was die materielle Kultur unserer Überflussgesellschaft am Ende der technischen Entwicklung ausmacht. Bis hin zum formschönen, genormten Display in der Geriatrie, in der wir ganz anders als am Steuer eines Rennwagens sterben.
Es ist eben so. Der Zeit ihre Kunst, steht auf dem Gebäude der Sezession in Wien, und ich möchte sagen: Unserer Zeit ihre fade, gut übertünchte, voll versicherte und berechenbare Langeweile. Deshalb sehen unsere Autos so aus.
Und deshalb nehme ich jedes Jahr 4 hemmungslose, laute, abgasverpestete Tage Urlaub von dieser Gegenwart.